Krummacher, Friedrich Wilhelm - Das ewige Königreich
In den letzten Jahrzehnten hat der Unglaube große Anstrengungen gemacht, um wo möglich aus dem alten Testamente alle sogenannten messianischen Weißagungen auszumerzen. In der That wurden zu diesem Zerstörungswerke alle Hebel der Kritik und der Auslegungskunst in Bewegung gesetzt; und wäre die Operation gelungen, so würde dadurch dem Glauben an die göttliche Sendung unsres Heilandes allerdings eine sehr bedeutende Stütze entzogen worden sein. Es hat aber der ganze dämonische Kriegszug nur zur Entkräftung des letzten Zweifels an dem wirklichen Vorhandensein ausdrücklicher alttestamentlicher Vorherverkündigungen der Erscheinung Christi ausschlagen müssen, und wir haben Ursache, Gott dafür zu danken, daß er dem Vertilgungssturme wider dieselben Raum gegeben, und fühlen uns fast geneigt, die wissenschaftlichen Brecheisen unsrer Gegner zu segnen, indem sie uns einen neuen Beweis geliefert haben, wie unerschütterlich fest nach allen Seiten hin die Fundamente unsres Glaubens liegen. Ich gedenke euch heute, und zwar in den geschichtlichen Büchern des Alten Testamentes, zu einer Stelle zu geleiten, die einem Jeden unter euch das entschiedene Zugeständniß abnöthigen wird: „Ja, hier werden in der That die Siegel vom Buche der Zukunft gelöst!“ Möge, was wir entdecken werden, nicht allein unsern Unglauben, soweit er noch in uns haftet, beschämen, sondern uns auch bewegen, freudig in den Ausruf Petri einzustimmen: „Ja, das Wort des Herrn bleibet in Ewigkeit!“
2. Sam. 7, 11-29.
Und Nathan sprach zum Könige David: Der Herr verkündiget dir, daß der Herr dir ein Hans machen will. Wenn nun deine Zeit hin ist, daß du mit deinen Vätern schlafen liegest: so will ich deinen Samen nach dir erwecken, der von deinem Leibe kommen soll, dem will ich sein Reich bestätigen. Der soll meinem Namen ein Haus bauen und ich will den Stuhl seines Königreichs bestätigen ewiglich. Ich will sein Vater sein, und Er soll mein Sohn sein. Wenn er eine Missethat thut, will ich ihn mit Menschenruthen und der Menschenkinder Schlägen strafen, aber meine Barmherzigkeit soll nicht von ihm entwendet werden, wie ich sie entwendet habe vor Saul, den ich von dir habe weggenommen. Aber dein Haus und dein Königreich soll beständig sein ewiglich vor dir, und dein Stuhl soll ewiglich bestehen. Da Nathan alle diese Worte und alles dies Gesichte David gesagt hatte, kam David der König und blieb vor dem Herrn, und sprach: Wer bin ich, Herr, Herr? und was ist mein Haus, daß du mich bis hierher gebracht hast? Dazu hast du das zu wenig geachtet, Herr, Herr! sondern hast dem Hause deines Knechts noch von fernem Zukünftigen geredet. Das ist die Weise eines Menschen, der Gott der Herr ist. Und was soll David mehr reden mit dir? Du erkennest deinen Knecht, Herr! Um deines Wortes willen und nach deinem Herzen hast du solche große Dinge alle gethan, daß du sie deinem Knechte kund thätest. Darum bist du auch groß, Herr Gott, denn es ist Keiner, wie du, und ist kein Gott, wie du nach Allem, was wir mit unsern Ohren gehört haben. Denn wo ist ein Volk auf Erden, wie dein Volk Israel! Um welches willen Gott ist hingegangen, ihm ein Volk zu erlösen und ihm einen Namen zu machen, und euch Herrlichkeit zu schaffen, und Schrecken deinem Lande, vor deinem Volk, welches du dir erlöset hast von Aegypten, von den Heiden und ihren Göttern. Und du hast dir dein Volk Israel zubereitet, dir zum Volk in Ewigkeit, und du, Herr, bist ihr Gott geworden. So bekräftige nun, Herr Gott, das Wort in Ewigkeit, das du über deinen Knecht und über sein Haus geredet hast, und thue, wie du geredet hast. So wird dein Name groß werden in Ewigkeit, daß man wird sagen: Der Herr Zebaoth ist der Gott über Israel, und das Haus deines Knechts David wird bestehen vor dir. Denn du, Herr Zebaoth, du Gott Israel, hast das Ohr deines Knechts geöffnet, und gesagt! Ich will dir ein Haus bauen. Darum hat dein Knecht sein Herz gefunden, daß er dies Gebet zu dir betet. Nun, Herr, Herr! Du bist Gott, und deine Worte werden Wahrheit sein. Du hast solches Gute über deinen Knecht geredet. So hebe nun an und segne das Haus deines Knechts, daß es ewiglich vor dir sei, denn du, Herr, Herr, hast es geredet und mit deinem Segen wird deines Knechtes Haus gesegnet werden ewiglich.
Hier habt ihr eine wirkliche Weißagung. Was gilts, ihr werdet sie mit voller Zuversicht als eine solche anerkennen. Fassen wir sie näher in's Auge. Auf ihren Inhalt richten wir zuerst den Blick, und dann auf die Wirkung, die sie hervorbringt. Kröne der Herr unsre Erwägung mit seinem Segen!
1.
David, nach den glorreichen Siegen über alle seine Feinde auf dem Höhepunkt seiner königlichen Herrlichkeit angelangt, sitzt, in Beschauung seines Glücks versunken, in seiner Hofburg. Was fehlt ihm noch? Nichts. Nur Eins liegt ihm noch drückend auf dem Herzen. Er bescheidet den Propheten Nathan zu sich, und spricht zu ihm: „Siehe, ich wohne in einem Cedernhause, und die Lade Gottes, das Heiligthum Israels, wohnt unter den Teppichen, in einem dürftigen Gezelte!“ - Ein rührender Zug dies! O, wenn alle Fürsten ähnlich dächten, und mindestens im geistigen Sinne für die Wohnung Gottes in ihren Landen Davids Sorge theilten! - Nathan hat die Gedanken des Königs schon errathen, ehe derselbe sie noch völlig ausspricht. Es liegt dem Könige an, dem Herrn einen Tempel zu bauen, der seiner Majestät in etwa würdig sei. Der Prophet drückt seine herzliche Zustimmung dazu aus. „Ja,“ spricht er, „gehe hin; Alles, was du in deinem Herzen hast, das thue, denn der Herr ist mit dir!“ Wie hätte Nathan anders denken und reden können, als so? Aber was ereignet sich? Gleich in der nächsten Nacht kommt zu ihm in einem Gesichte das Wort des Herrn. Und des Wortes Inhalt? - ist nichts Geringeres als ein Nein zu Davids Plane und des Propheten Genehmigung. Bemerkt hier das schlagende Zeugniß für die Thatsächlichkeit unmittelbarer göttlicher Offenbarung. David und Nathan beabsichtigen nach ihrem besten Wissen und Gewissen etwas Gutes, Frommes, das nur zur Ehre Gottes gereichen soll. Urplötzlich geben sie nicht ohne tiefen Schmerz einen Lieblingsgedanken auf, zu dessen Verwirklichung ja Alles zu rathen schien. Und aus welchem Grunde entsagen sie ihrem edlen Unternehmen? Lediglich, weil ihnen Gott darein geredet und sein souveränes Wort gesprochen hat. Daß aber der lebendige und persönliche Gott nicht vernehmlich und persönlich mit Menschenkindern sollte reden können, dafür ist niemals noch auch nur ein einziger vernünftiger Beweisgrund beigebracht worden. Vielmehr steht es fest, daß ein in abgeschlossener Einsamkeit thronender und nimmer sich offenbarender Gott gar nicht Gott wäre. Wollte nun Jemand fragen, weßhalb Gott der Herr das Vorhaben Davids mißbilligt habe, so wäre darauf zu erwiedern, was folgt: Zuerst lag in dem Unternehmen Davids neben dem guten Willen doch auch etwas Eigenwählerisches, indem er, der Knecht, sich nicht beschied, daß er vorab für sein Vorhaben einen göttlichen Befehl abzuwarten habe. Sodann spielte in Davids Plan wohl auch etwas von der verkehrten Anschauung mit hinein, als geschähe dem Allerhöchsten durch einen Prachtbau ein erwünschter, ein ehrender Dienst, während doch der Tempel nicht um Gottes, sondern der Menschen willen da war. Endlich war die Zeit des Tempelbauens noch nicht gekommen, indem die Tage des Friedens noch ferne waren und der König sich noch zu großen und schweren Kämpfen zu rüsten hatte. Doch was bewegen wir uns in unnöthigen und vorgreifenden Vermuthungen? Vernehmen wir, was Gott der Herr selbst in jenem Nachtgesichte zu seinem Propheten Nathan gesprochen hatte.
Gleich am nächstfolgenden Morgen erscheint der Seher wieder vor dem Könige und berichtet ihm von der Offenbarung, die er in der Nacht empfangen habe. Mit den Worten: „Gehe hin und sage zu meinem Knechte David,“ habe, so erzählt er, Gott der Herr ihm aufgetragen, ihm, dem Könige, zu eröffnen, daß der Ewige eines Hauses nicht bedürfe. Seitdem Er die Kinder Israel aus Aegypten geführt, habe Er leitend und helfend unter ihnen gewandelt und in dem heiligen Gezelte sich ihnen geoffenbart, und zu keinem der Stämme je gesagt: „Warum bauet ihr mir nicht ein Cedernhaus?“ Auch sei Er allezeit mit seinem Knechte David gewesen, den er von den Schafhürden genommen und zum Fürsten über sein Volk gesetzet und gesalbet habe, und Er werde auch fernerhin ihn nicht verlassen, sondern ihm nahe bleiben und ihn segnen. Seinem Volke Israel wolle Er einen Ort setzen, und es pflanzen, daß es an seiner Stelle wohne, und nicht mehr in der Irre gehe, noch erzittre; denn die Kinder der Bosheit sollten es einst nicht mehr drängen, wie vorhin. „Und,“ so fährt Nathan mit gehobener Stimme fort, „der Herr verkündet dir, daß Er selbst dir ein Haus machen will.“ - Der König horcht mit steigender Spannung auf; denn er ahnt bereits den großen geheimnißvollen Sinn hinter diesen Worten. Nathan fährt fort: „Der Herr spricht zu dir, meinem Herrn und Könige: Wenn deine Zeit hin ist, daß du mit deinen Vätern schlafen liegst, so will ich deinen Samen nach dir erwecken, der von dir kommen soll, und will ihm sein Reich bestätigen. Derselbe soll meinem Namen ein Haus bauen, und ich will bestätigen den Stuhl seines Königreiches ewiglich!“ - War Salomo hier gemeint? Zunächst allerdings; aber David wittert ein Mehreres und Größeres. Nathan fährt fort: „Der Herr sprach zu mir weiter: Ich will sein Vater und er soll mein Sohn sein!“ - (Bedeutsamer Ausspruch dies, der das Reich des Nachkommen Davids unverkennbar als Eins mit dem Reiche Gottes bezeichnet!) „Wenn er eine Missethat thut, so will ich ihn mit Menschenruthen und der Menschenkinder Schlägen strafen; aber meine Barmherzigkeit soll nicht von ihm entwendet werden.“ - Die ersten dieser Worte haben einen Doppelsinn. Nach ihrer nächsten Bedeutung sagt der Herr in ihnen, Er wolle mit der Nachkommenschaft Davids, oder mit seiner Stammlinie, im Hinblick auf das große Ziel, zu dem sie verordnet sei, auch wenn sie sündigen würde, glimpflich verfahren, und ihrer Missethaten halber Seine Verheißung nicht zurückziehn. Es lassen jene Worte aber auch die tiefere, geheimnißvollere Uebersetzung zu: „Wenn ich ihn (nämlich deinen Nachkommen) zur Sünde machen werde, so werde ich ihn schlagen mit den Ruthen der Menschenkinder.“ - Nathan schließt seinen Bericht mit den Worten: „Aber dein Haus, spricht der Herr zu dir, und dein Königreich soll beständig sein ewiglich vor dir, und dein Stuhl soll in Ewigkeit bestehen.“
2.
David hat der Rede Nathans mit wachsender Bewegung seiner Seele gelauscht, ja sie von den Lippen des Propheten verschlungen. Er hat verstanden, er hat Alles verstanden. Zunächst hat er vernommen, sein Haus solle auch noch in kommenden Zeiten über Israel herrschen. Aber sein Ohr hat noch ein Weiteres aus den Worten herausgehorcht. David sieht in denselben weit über die nächste zeitliche Aussicht hinaus noch eine andre gar viel höhere vor sich eröffnet. „Ich, der Herr, will dir ein Haus bauen; dein Stuhl soll in Ewigkeit bestehen; - dein Königreich alle Zeiten überdauern, und nimmer enden!“ - - Was bedeutet das? Stumm in sich versunken sitzt der König da. Ja, er sieht die Schleier der fernsten Zukunft vor sich gelüftet, und die große Verheißung, die einst schon dem Abraham und den andern Vätern seines Volkes geworden, nun plötzlich an sein eignes Haus geknüpft. Es ist der ergreifendste und feierlichste Augenblick, den er je erlebt hat. Er entläßt den Nathan, erhebt sich von seinem Sitz und begibt sich schweigend in die heilige Hütte, um daselbst Angesichts der Bundeslade vor dem Herrn sein übervolles Herz auszuschütten. Wir hören sein Gebet. „Herr, Herr,“ beginnt er, „wer bin ich, und was ist mein Haus, daß du mich bis hierher gebracht hast? Dazu hast du das noch zu wenig geachtet, Herr, Herr, und hast dem Hause deines Knechts noch von einem fernen Zukünftigen geredet. Dieses (nämlich das Fern-Zukünftige) ist eine Weise (Satzung, Gesetz, Institution) eines Menschen, der Gott der Herr ist,“ (also keines sterblichen Menschen, sondern einer über das Menschengeschlecht hoch erhabenen Persönlichkeit). „Um deines Wortes willen und nach deinem Herzen hast du solche große Dinge alle gethan, daß du sie deinem Knechte kund thätest!“ - Hierauf ergießt sich der König in einer brünstigen Lobpreisung der Gnade, deren Israel gewürdigt worden, und kommt dann mit wallendem Herzen wieder auf das „Fern-Zukünftige“ zurück, das der Herr ihm persönlich in Aussicht gestellt. „Herr Gott,“ spricht er, „das Wort, das du geredet hast über deinen Knecht und sein Haus, das richte auf bis in Ewigkeit, so wird dein Name ewiglich gepriesen werden. Das Haus deines Knechtes David wird bestehen vor dir; denn du, Herr Zebaoth, hast das Ohr deines Knechtes geöffnet (d. i. ihm ein Geheimniß vertraut) und hast gesagt: Ich will dir ein Haus bauen. Darum hat dein Knecht sein Herz gefunden (d. i. sich tief innerlich gedrungen gefühlt), dies Gebet zu dir zu beten. Nun, Herr, Herr, du bist Gott und deine Worte werden Wahrheit sein. Du hast solches Gute über deinen Knecht geredet. So hebe nun an, und segne das Haus deines Knechtes, daß es ewiglich vor dir sei; denn du, Herr, Herr, hast es geredet und mit deinem Segen wird deines Knechtes Haus gesegnet werden ewiglich!“
Also ergoß sich David vor dem Herrn in der heiligen Hütte mit tiefster Inbrunst seines Herzens. Niemals hat er es mehr vergessen, was der Herr ihm hatte eröffnen lassen. Die Verheißung klang ihm fortan wie eine Harmonie des Himmels durch sein ganzes Leben nach. Das Räthselhafte in derselben löste sich ihm je länger je mehr. Die hehre Gestalt des königlichen Nachkommen mit der ewigen Herrschaft trat ihm durch fortgehende göttliche Offenbarungen immer klarer und lebendiger vor die Seele. Im 110. Psalm nennt er den, der der menschlichen Herkunft nach sein Sohn sein werde, schon seinen Herrn, indem er spricht: „Der Herr hat gesagt zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis daß ich lege alle deine Feinde zum Schemel deiner Füße.“ Gegen das Ende seiner Tage ist es wieder die durch Nathan überbrachte göttliche Botschaft, die tröstlich wie ein liebliches Gestirn in der Erinnerung des greisen Königs auftaucht und ihm die Heimfahrt aus der Welt erleichtert und, versüßt. Wir hören ihn da in seinem Schwanenliede unter Anderm mit freudiger Erhebung seiner Seele sagen: „Der Gott Israels hat zu mir gesprochen, Israels Fels hat mir verheißen: Ein gerechter Herrscher, ein Herrscher in der Furcht Gottes soll dir kommen. Und wie? Gleich der wolkenlos emporsteigenden Morgensonne (in immer mächtigerer schöpferischer Herrlichkeit), die das Gras und Alles wachsen macht,“ d. i. das Regiment dieses Herrschers wird überall und in immer weiterem Umfang Leben, Segen und Gedeihen um sich her verbreiten. Aber aus welcher Linie wird er stammen, dieser Friedenskönig? David spricht: „Ist nicht mein Haus fest bei Gott? Er hat mir einen ewigen Bund gesetzt!“ - Ihr seht, die dem David gewordene Verheißung hat ihre Wirkung nicht verfehlt, und o, wie weit hat sich diese Wirkung über ihn selbst hinauserstreckt! Von der Zeit an, da Nathan dem Könige seine Eröffnung überbrachte, hieß in ganz Israel der Erlöser, auf den man hoffte, und der ein ewiges Friedensreich gründen werde, der „David's Sohn“. Alle Propheten wissen seitdem von dem heilbringenden „Zweige“, der aus der Wurzel Davids ersprießen werde. An Davids Stammlinie haftet fortan Aller Hoffnung. Auf Bethlehem ruht das Auge der heiligen Sehnsucht. Immer bestimmter weiß man aber auch um die himmlische Herkunft des Davidsprößlings, um seine Wesenseinheit mit dem höchsten Gott, um seinen Ausgang von Anfang und Ewigkeit her. Und als die Stunde seiner Erscheinung geschlagen hat, ergeht an Maria das Wort des himmlischen Boten: „Du wirst einen Sohn gebären, der wird groß und ein Sohn des Höchsten genannt sein, und Gott der Herr wird ihm den Stuhl seines Vaters David geben.“ Nicht lange darauf begegnen wir im Munde des Priesters Zacharias dem Jubelrufe: „Gelobet sei der Herr, der Gott Israels, denn er hat unter uns aufgerichtet ein Horn des Heils in dem Hause seines Dieners Davids!“ Als aber dreißig Jahre später der gekommene Friedensfürst in Jerusalem seinen Einzug hält, ertönt ihm tausendstimmig das Huldigungsgeschrei des Volkes entgegen: „Hosianna dem Sohne Davids! Gelobet sei der da kommt im Namen des Herrn!“ Dieses Alles, was ist es, als Nachhall jener göttlichen Offenbarung, die der Prophet Nathan einst dem David überbrachte, und welche später durch den Geist Gottes mehr und mehr geklärt, betont, erweitert und ausgebildet wurde.
So lebte Jesus Christus schon Jahrhunderte, ja Jahrtausende vor seiner Erscheinung in der Erwartung der Freunde Gottes. „Wahrlich, ich sage euch,“ hören wir ihn selbst betheuern, „viele Propheten, Könige und Gerechte haben begehrt zu sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen.“ Ein Wogenschlag heißester Sehnsucht nach der Zukunft des angekündigten Friedensfürsten ging höhersteigend von Jahrhundert zu Jahrhundert durch das auserwählte Volk hindurch. O hätten sie erlebt, was wir Glückliche erleben durften! Die Sonne der Gerechtigkeit, die David nur erst im Geiste am Horizont ferner Zeiten emporsteigen sah, steht nun bereits seit achtzehn Jahrhunderten am Himmel der Welt, und wer will die Fülle des Heils, des Lichtes und des Segens ausreden, mit der sie schon die Erde beglückt und befruchtet hat? Selbst ihr, die ihr an sie nicht glaubt, erfreut euch unbewußt ihrer heilvollen Wirkung in unzähligen Vorzügen, die ihr genießt. Ich nenne nur die veredelte Sitte, an der ihr theilnehmt, die bürgerliche Ordnung, in welcher ihr lebt, das verklärte Familienleben, das euch umblüht, und die stillen Hoffnungen, die eures Unglaubens ohnerachtet euch doch beseelen; und wie manches Köstliche könnte ich sonst noch nennen, das jene Sonne auch über euch schon ausstrahlt! Und wer kann sich's verbergen, daß sie grade in unsern Tagen, den Tagen der frechsten Verneinungen und des kecksten Widerspruchs, wieder in einem Maße befruchtend, erleuchtend und wiedergebärend sich erweist, wie seit lange nicht? Freunde, ich denke, auch wir treten, so weit es noch nicht geschehen ist, tiefer in ihren gesegneten Strahlenkreis ein, und mischen huldigend unsere Stimmen in den Anbetergesang jenes stillen, geheiligten und hoffnungsseligen Wanderzuges, der ohne Unterbrechung die große Menschenwüste durchzieht, und rufen aus huldigender Seele: „Hosianna dem Sohne David's! Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ - Amen.