Krause, Cäsar Wilhelm Alexander - Jesu Leiden und Sterben ein Zeugnis wider uns.
Predigt am Karfreitag.
Wir sind teuer erkauft! O Herr, leite uns mit deinem Geist, dass wir deiner Gnade wert werden mögen! Amen.
Der Leidensstatte des Heilandes nahen wir im Geist in dieser Stunde; mit heiligem Ernst und inniger Wehmut blicken wir auf zu dem Kreuz, an dem Der stirbt, der uns mehr geliebt als sein Leben, der von der Wahrheit zeugte nicht bloß mit seinem Wort, nein auch mit seinem Blut, der durch Leiden und Sterben das herrlichste Zeugnis für die Wahrheit seiner Lehre, für die Heiligkeit seines Lebens, für die Innigkeit seiner Liebe ablegte. Lasst uns denn zurückblicken in jene Stunden, da die Sünde der Menschen triumphierte und der Heilige Gottes unterlag, lasst uns hören und betrachten den Bericht, welchen seine Jünger uns davon erstatten.
(Vorlesung einer kurzen Zusammenstellung der Leidensgeschichte nach den vier Evangelien.)
Ein Gemälde voll Schatten und Finsternis rollen die Apostel vor unsern Blicken auf! Leidenschaft und Schwachheit verbünden sich zum Verderben des Welteilandes und feiern einen augenblicklichen Sieg: der Menschenfreund trauert, wenn er dies Gewebe menschlicher Verirrung mit seinem geistigen Auge genauer durchdringt! Hier die glaubenswütigen Priester, - dort die schwachen, den Herrn verlassenden und verleugnenden Jünger, hier das betörte Volk, leidenschaftlich entflammt den Tod dessen verlangend, der so Vielen aus seiner Mitte ein leiblicher Wohltäter gewesen war, der Allen ein geistiger Wohltäter sein wollte - dort der schwache Richter, der, die Unschuld des Angeklagten erkennend, wohl ihn zu retten versucht, aber aus Menschenfurcht ihn doch dem Kreuzestod übergibt. - Nur zwei Gestalten, den schroffsten Gegensatz bildend, lösen sich einzeln stehend von dem dunklen Hintergrund ab: dort der unglückselige Judas der Verräter, der, in allen seinen Berechnungen getäuscht, den furchtbarsten Qualen des Gewissens anheimfällt, und in wilder Verzweiflung von Sünde zu Sünde fortschreitend den Tod stirbt von eigner Hand. - Hier in ungetrübter Hoheit Jesus, der reine, der vollkommene Mensch, ein König auch unter Misshandlungen, unter den Streichen der Geißel, in dem ihn verspottenden Purpurgewand mit der Dornenkrone, ein König selbst am Stamme des Kreuzes! Er schilt nicht, da er gescholten wird, er droht nicht, da er leidet; - nur dreierlei bleibt ihm zu tun noch übrig: Er übergibt die trauernde Mutter der Pflege des geliebten Jüngers, er bittet Gott, seinen Feinden zu vergeben, und dann befiehlt er seinen Geist in die Hände seines Vaters im Himmel! Ja, das ist göttliche Hoheit! Wer kann sich erwehren, sich vor ihr zu beugen, und mit dem heidnischen Krieger zu bekennen: Das ist wahrlich Gottes Sohn und ein frommer Mann gewesen!
Durch die Schuld der Menschen stirbt Jesus; - auf wem von ihnen aber lastet die größte Schuld? Judas hatte ihn den Hohenpriestern verraten, die Priester hatten ihn dem Pilatus überliefert, das Volk hatte seinen Tod stürmisch verlangt, Pilatus hatte sein Todesurteil gesprochen: und doch wollte Niemand die Schuld dieses Todes tragen - ein, merkwürdiges Zeugnis für die Regung des Gewissens in ihnen Allen. Pilatus erklärt sich unschuldig an diesem Blut, wäscht seine Hände und spricht zu den Priestern: Ich finde keine Ursache an ihm, da seht ihr zu! Der hohe Rat will auf des Judas Wort nicht hören, da er das Blutgeld mit den Worten zurückgibt: ich habe euch unschuldig Blut verraten; er erwidert ihm: da siehe du zu! Das Volk war vielleicht am Wenigsten zurechnungsfähig, denn in seiner großen Masse des eigenen Urteils unfähig, folgt es nur der Stimme seiner alten, es aufreizenden Führer. Trug nun Judas, trugen die Priester, trug das Volk oder Pilatus die alleinige, oder auch nur die überwiegende Schuld jener Freveltat? Der mich dir überantwortet hat, der hat es mehr Sünde, spricht der Heiland zu Pilatus, und nach diesem Wort fällt ein Übergewicht der Schuld allerdings auf den hohen Rat und auf den unseligen Verräter, denn auch von dem Volk spricht der Herr: Sie wissen nicht, was sie tun! Aber darum ist keiner frei, sondern Jeder trägt die ganze Schuld von dem Tod des Herrn. Ohne Judas Verrat wäre es den Hohenpriestern vielleicht nicht gelungen, den Herrn zu fangen; ohne Pilatus Zustimmung hätten sie ihn nicht töten können; ohne des Volkes Schreien und Drängen hätte der schwache Pilatus wohl dem Hass der Priester widerstanden, und nicht in den Tod des Unschuldigen gewilligt, und ohne die Aufreizung der Priester wäre das Volk nicht so stürmisch und beharrlich gewesen in dem Verlangen des Kreuzes! Seht, wie es so recht eigentlich die Sünde der Welt war, die auf dem Herrn lastete, wie sie sich in die Hände arbeitete, um den Heiligen und Gerechten zu verderben! - Wahrlich, in demselben Maß, als das Leiden und Sterben Jesu das herrlichste Zeugnis für ihn, für seine geistige und sittliche Hoheit ablegt, in demselben Maß ist es auch ein Zeugnis wider jene Zeit und wider jene Menschen; - aber auch wider unsere Zeit und wider uns, sofern sie und wir Jenen gleichen. Und ob das wohl nicht der Fall ist? Ob wohl jene finsteren Mächte, die sich damals in den Herzen der Menschen eingenistet hatten und sie wider den Heiligen aufreizten, in unserer Zeit und bei uns schon ganz besiegt sind? Ich fürchte, diese Frage entschieden verneinen zu müssen, und wenn ich darin Recht habe, so ist das Leiden und Sterben Jesu Christi auch ein Zeugnis wider uns. Ob es ein solches sei, - das lasst uns jetzt näher untersuchen.
(Gesang. Gebet.)
Jesu Leiden und Sterben, so behauptete ich, legt ein Zeugnis ab wider jene Zeit und jene Menschen, die es herbeiführten, und so fern wir ihnen noch gleichen auch wider unsere Zeit und wider uns. So ist es leider, denn es bezeugt uns
1) Wie groß die Macht des Vorurteiles wider die Wahrheit ist.
Aus dieser Quelle nun, aus der Macht des Vorurteils gestattet mir meine Überzeugung das Verhalten des Volkes bei dem Tode Jesu abzuleiten. Ich glaube, dass diejenigen der Gerechtigkeit ermangeln, welche jene Hergänge lediglich aus schwarzer vorbedachter Bosheit herleiten, und Jesus selbst spricht für diese meine Ansicht, indem er von dem Volk sagt, dass es nicht wisse, was es tue. Es war die Macht des Vorurteils, welche es gefangen hielt, und es zum Werkzeug der feindseligen Absichten Anderer machte.- Wohl hatte es oft an dem Mund des Heilandes gehangen, wenn er vor ihm zeugte von seinem Vater im Himmel, und seinen Willen ihm verkündete; wohl hatte es seinen heiligen Wandel gesehen, war Zeuge gewesen von den Taten der Liebe, die Jesus auf allen seinen Wegen vollbrachte, hatte staunend anerkannt die höhere Kraft, welche durch ihn wirkte, hatte ihn darum oftmals zu seinem König ausrufen wollen, hatte ihn mit Jubel empfangen, als er nach Jerusalem einzog, weil es nun die Zeit gekommen wähnte, da er sein Reich aufrichten, Israel von der verhassten Herrschaft der Heiden erlösen, den Tempel und das Gesetz in seiner alten Reinheit wieder herstellen würde. Den Begriff eines andern Messias wusste es nicht zu fassen, einem solchen nur mochte es zujauchzen und ihm folgen. Ein solcher aber sollte und wollte Jesus nicht sein! Nicht neue Lappen auf ein altes Kleid wollte er sticken, nicht vor tausend Jahren vergangene Zustände zurückrufen, sondern es sollte Alles neu werden. Den Menschen sollte ein neues Ziel ihres Ringens und Strebens gegeben, dadurch ihr ganzer Sinn erneuert, in ihren Herzen das Reich Gottes erbaut, ihre ganze Gemeinschaft zu einem Reich Gottes umgewandelt werden, und das erforderte allerdings einen schwereren Kampf, als einen mit irdischen Waffen: den Kampf mit der eigenen Trägheit und Sünde. Darum mochte wohl Mancher schon an ihm irre geworden sein, als er nach seinem Einzug in Jerusalem nichts von dem vernahm, was man von ihm erwartete, sondern lediglich dabei beharrte, das Volk zu lehren; und als nun gar noch die Einflüsterung hinzukam, dass er das Gesetz nicht genügend achte, seinen Jüngern Abweichungen von demselben gestatte, was ja in den Augen strenger Juden ein Hauptverbrechen war, dass er mithin die Sitte der Väter nicht ehre, wider den Glauben der Väter lehre, da musste das Misstrauen der Vorurteilsvollen immer reger werden, und es bedurfte nur noch eines Anlasses, dass es laut hervorbreche. Dieser fehlte, so lange Jesus offen und frei lehrte vor allem Volk, da zeigte noch die Wahrheit und die Würde der sittlichen Reinheit ihre siegende Kraft. Als Jesus aber gefangen war, als die Hohenpriester und Schriftgelehrten ihn laut anklagten, er habe Gott gelästert, die Männer, auf welche das Volk mit Ehrfurcht schaute, weil sie ja seine oberste Behörde bildeten und das Gesetz verstehen mussten, da war jede Scheu verschwunden, da hielten sich die Verblendeten überzeugt, dass sie damals in grobem Irrtum gewesen wären, als sie den jetzt Angeklagten für einen Propheten gehalten hätten, da erschien es ihnen wohl gar als eine Pflicht, jenen Irrtum gut zu machen, ihren Eifer für das Gesetz und den Glauben der Väter laut zu bekunden; je größer ihre Zahl wurde, desto mehr erhitzten sich die Gemüter bis zu dem entsetzlichen Rufe: Kreuzige, kreuzige ihn! Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!
Seht da, Geliebte, die verderbliche Macht des Vorurteils! Von ihr zeugt Jesu Leiden und Sterben wider die, welche ihr unterworfen waren. - Ist aber diese Macht schon gebrochen? Wäre sie es nicht, dann gälte dasselbe Zeugnis wider uns und unsere Zeit. Und es gilt, - leider Gottes, es gilt! - Was ist es denn, das die Menschen von dem ihnen so nötigen Fortschritt zurückhält, und sie fort und fort an dem Alten, wenn auch schon Veralteten kleben lässt? Es ist die Macht des Vorurteils in tausendfacher Gestalt. Es ist nichts Gutes, Edles. Gemeinnütziges auf der Welt erschienen, das nicht denselben Kampf gegen das Vorurteil und die mit demselben stets verbundene Geistesträgheit zu bestehen gehabt hätte. - Er zeigt sich in den verschiedenen Ständen der menschlichen Gesellschaft, im häuslichen, im Gemeinde- und Staatsleben, und je unaufhaltsamer unsere Zeit zu der Geburt neuer entsprechender Zustände drängt, desto mehr versteinert sich das Vorurteil, desto entschiedeneren Widerstand ruft es hervor; nirgends aber mehr als in dem kirchlichen Gebiet und in Beziehung auf die Religion. Da sind uns fast die Verhältnisse wiedergekehrt, welche wir zu Jesu Zeiten erblicken. Seit dem regen frischen Aufschwung, den das religiöse Leben in der Reformation nahm, sind Jahrhunderte eines neu eintretenden Stillstandes und teilweise geistiger Trägheit vorübergegangen. Während alle Wissenschaften, Künste und Gewerbe, ja das ganze Leben, die ganze Lebens- und Weltanschauung unendliche Fortschritte machten, und wesentliche Läuterung empfingen, war das religiöse Bewusstsein, gefesselt an den Buchstaben der Glaubensformeln und Satzungen stehen geblieben; diese wurden von den Einen gedankenlos festgehalten, von den Andern als ihnen nicht mehr zusagend aufgegeben - mit einem Wort: der Bau des Gottesreiches im Großen und Allgemeinen schien ins Stocken geraten. Das konnte nicht so bleiben! Es musste der sonst allgemeine Fortschritt sich auch des religiösen Bewusstseins und Lebens bemächtigen; der Forschungstrieb nach der Wahrheit musste auch diese geheiligten Gebiete neuer Prüfung unterwerfen und daraus entsprang der neue Trieb, die menschliche Auffassung der ewigen, göttlichen Wahrheit des Evangeliums zu läutern, und den äußern Ausbau der Kirche im Geist der evangelischen Freiheit fortzusetzen. Und wieder ist es das Vorurteil, das sich diesem segensreichen Bestreben entgegenstellt; wiederum sind es die Schriftgelehrten und Hohenpriester, welche, gestützt auf weltliche Macht, sich der Wahrheit aus Gott entgegenstellen, wieder sehen wir sie hier und da versuchen, mit dem Schreckwort: der Glaube der Väter ist in Gefahr! die leicht getäuschten Massen aufzuregen; wiederum hören wir manchen Verdammungsspruch, der, vergleicht man unsere Zeit mit jener, dem: „Kreuzige ihn!“ jener Tage schwerlich etwas nachgibt. O der Glaube der Väter, der Glaube an die göttliche Wahrheit des Evangeliums von Jesu Christo, ist uns allen heilig, darum eben ist es unsere Pflicht, diesen Glauben durch alle die Hilfsmittel, welche unsere Zeit und ihre Wissenschaft darbietet, und welche die frühere Zeit nicht darbot, gereinigt in uns aufzunehmen; das, worin die Auffassung der Väter irrte, zu verbessern; das, was die Väter begannen, im Geist Jesu Christo fortzubauen und für unsere Zeit wenigstens zu vollenden, damit wir werden, was wir nach der Forderung der Apostel werden sollen, immer völliger in dem Herrn, immer fester im Glauben, immer tätiger in der Liebe und immer freudiger in der Hoffnung für das ewige Leben. - Und gegen dieses echt christliche, evangelische segensreiche Bestreben türmen sich Vorurteile aller Art auf! Ihre Macht wider die Wahrheit ist noch nicht gebrochen; Jesu Leiden und Sterben ist darum auch immer noch ein Zeugnis wider unsere Zeit und wider uns. Es ist dies auch ferner noch, indem es uns
2) zeigt, wie in dem Parteihass alle edleren menschlichen Gefühle zu Grunde gehen!
War es das Vorurteil, aus welchem ich das Gebaren des Volkes bei dem Leiden und Sterben Jesu allein abzuleiten mich berechtigt glaubte, so erscheint mir neben diesem der Parteihass als die Quelle der unversöhnlichen Feindschaft, mit welchem die Pharisäer und die ihrer Partei entstammenden Hohenpriester und Schriftgelehrten den Heiland in seinem ganzen Leben, bis zu seinem Tod, ja über denselben hinaus verfolgten. Sie bildeten eine mächtige Gemeinschaft in dem jüdischen Volk; sie leiteten dasselbe unbeschränkt in religiöser Hinsicht, in bürgerlicher so weit, als es die römische Herrschaft noch gestattete; der damalige Zustand der Dinge sicherte ihnen immer noch Ehre, Macht, Einkünfte, sie standen daher eng verbunden jedem Bestreben entgegen, das eine Verminderung dieser Güter für sie befürchten ließ, deren Vermehrung sie im Gegenteil von dem erwarteten Messias hofften. - Wie sehr sich nun auch Jesus im Allgemeinen an die bestehenden Gebräuche anschloss, sie konnten es doch nicht verkennen, dass die von ihm verkündete Lehre das religiöse Leben von dem Äußeren in das Innere des Menschen zu verpflanzen strebt, und da drohte ihnen Gefahr. Sie sahen, wie alles Volk ihm anhing und ihn pries; sie fühlten sich durch ihn in den Schatten gestellt, und das erweckte ihren Neid. Darum sehen wir sie bald als seine entschiedenen Gegner auftreten, und sie haben nun keine Anerkennung mehr für die Wahrheit, welche er lehrt, für die Liebe, welche er übt, für die Heiligkeit, in welcher er lebt! Je mehr ihre Absicht, ihm durch verfängliche Fragen Schlingen zu legen, ihn zu fangen in seiner Rede missglückt, um so höher steigt ihr Groll. Sie fühlen, er droht ihnen Gefahr, reden sich aber nach einer bei Herrschenden sehr gewöhnlichen Verwechslung ein, er drohe dem Volk Verderben, und kommen nun bald zu dem gesuchten Ergebnis: Es ist besser, er sterbe! Das war der Urteilsspruch vor dem Verhör, vom Parteihass eingegeben, und durch ihn vollstreckt. Es fragte sich nun nicht mehr: Ist es Wahrheit, was er lehrt? Hat er Schuld oder nicht? Es hindert nicht mehr, dass sie auf seine Frage: Wer von Euch kann mich einer Sünde zeihen? verstummen mussten, dass sie selbst nicht wagen durften, vor dem Volk Hand an ihn zu legen, dass sie sich des Verrats und falscher Zeugen bedienen, dass sie eine Entrüstung erheucheln mussten, um nur einen Schein des Rechts für ihren Spruch zu gewinnen, dass sie zur Volksaufregung, zur Drohung gegen Pilatus ihre Zuflucht nehmen mussten, um diesen Spruch zur Ausführung zu bringen - das Alles, wie schmählich es auch war, war ihnen gleichgültig geworden, jedes Gefühl für Wahrheit, für Gerechtigkeit, ja für die eigene Würde war in dem Parteihass untergegangen; ja selbst, als der Unschuldige gegeißelt und verspottet ihnen vorgeführt wird, als er in aller Hoheit der Geduld und Ergebung vor ihnen steht, als selbst der Heide gerührt auf ihn hinweist: Seht, welch ein Mensch! - auch da regt sich nicht eine Spur von Mitleid in ihren Herzen! O wahrlich! die Zeit, in welcher, und die Menschen, welche der Parteihass so verblenden kann, richten sich selbst, und Jesu Leiden und Sterben legt ein schweres Zeugnis ab wider sie.
Aber wie? meine Geliebten, gilt dieses Zeugnis etwa wieder auch gegen unsere Zeit und gegen uns? Ich fürchte, wir werden auch diese Frage nicht verneinen können. - Dass sich über verschiedene Angelegenheiten verschiedene Ansichten, und auf Grund derselben auch verschiedene Parteien unter den Menschen bilden, das liegt in der Natur der Sache. Eben so natürlich ist es, dass diese verschiedenen Ansichten einander bekämpfen und um den Sieg mit einander ringen. Dass aber auch die Personen, welche die verschiedenen Ansichten hegen, gegen einander in Feindschaft entbrennen, das ist, wenn es auch gewöhnlich an rohen Menschen natürlich ist, doch sicherlich unchristlich. Und doch lehrt uns ein Blick auf die Geschichte unserer Tage, wie sehr gewöhnlich es auch in diesen ist, wie gewöhnlich die, welche sich am lautesten als die Streiter für den wahren christlichen Glauben ausgeben, am gehässigsten gegen die Person ihrer Gegner auftreten und die weltliche Gewalt aufrufen wider sie. Da wird dann nicht die Sache, sondern die Person bekämpft, die Gesinnung des Gegners verdächtigt, jedes Wort belauscht und aufs Schlimmste gedeutet; ist dem Gegner eine Schwäche abgewonnen, so erweckt das Jubel, ist er aber an Ehre und Amt geschädigt, so wird das für einen Triumph genommen! - O, blickt auf, ihr, die ihr euch Christen nennt, zu dem Kreuze des sterbenden Erlösers, und lasst euch durch diesen Anblick von eurem Hass, von eurer Parteileidenschaft erlösen! Er litt Verfolgungen, Martern der schwersten Art, ihn verfolgte Hass und Leidenschaft, ihn, der nur die Liebe war, und doch entquillt seinem Munde keine Klage, kein Wort der Bitterkeit; ja so groß ist seine Milde, dass er noch für seine Feinde beten kann. Zu seiner Höhe bildet euch empor, um noch in dem Gegner das Recht und die Würde des Menschen zu ehren, ja den Bruder in ihm noch zu lieben. Je mehr ihr glaubt, dass ihr Recht habt, um so mehr ist solche Ruhe und Milde, solches Scheiden der Person von der Sache euch Pflicht. Könnt ihr euch zur Übung dieser Pflicht nicht erheben, so ist Jesu Leiden und Sterben ein Zeugnis auch wider euch; wider uns, denn es ist wohl Keiner von uns ganz frei von der gerügten Schuld, und wider unsere Zeit, die solche Zustände wieder geboren. - Dies Zeugnis gilt aber auch ferner, weil wir aus der Leidensgeschichte Jesu sehen:
3) wie sehr es auch den Besseren an der wahren Entschiedenheit für das Gute mangelt.
Nein, es waren nicht Alle Verblendete und Böse, die den Herrn in seiner letzten Stunde umgaben; sein brechendes Auge fiel auch auf manchen Freund, auf manchen Gefühlvollen, dessen Auge eine Träne für ihn hatte. Aber diese konnten sein Schicksal nicht wenden, weil es ihnen an der rechten Entschiedenheit im Guten, an dem rechten Mut, an der rechten Tatkraft mangelte. Da waren seine Jünger, die sich vermaßen, mit ihm in den Tod gehen zu wollen, und die auch wirklich seine Herrlichkeit erkannten und mit inniger Liebe an ihm hingen; als aber die Stunde der Entscheidung kam, da zerstoben sie, wie Spreu vor dem Wind, und statt alle früheren Freunde des Herrn, Alle, denen er wohlgetan, aufzusuchen, und sie zu erwecken, dass sie für den Unschuldigen zeugten, verbargen sie sich; den Johannes allein erblicken wir unter seinem Kreuz. - Da war Pilatus, der sich alle Mühe gab, die Juden von ihrer Anklage abzubringen und ihn zu retten. Er hätte es auch durch ein Wort gekonnt, denn ohne seine Zustimmung konnte Niemand am Leben gestraft werden. Aber er mochte dies Wort nicht sprechen, die Juden hätten dann über ihn klagen, und das hätte ihm Ungelegenheiten bereiten können, und, ehe er sich dem aussetzte, mochte lieber der Unschuldige sterben. - Da war Joseph von Arimathia und Nikodemus, der Obersten Einer, die seinem Leib nachher eine ehrenvolle Bestattung zu Teil werden ließen; aber ihren eigenen Standesgenossen, den Pharisäern, entgegentreten, ihnen die Augen öffnen über ihre Sünde, das Volk aufzuhalten in seiner blinden Wut, es zu erinnern an das, was ihm Jesus einst gewesen, dazu fanden sie die nötige Entschiedenheit des Willens, den nötigen Mut nicht in sich. - Und Alle, deren Herz sonst gebrannt hatte bei seiner Rede, die er gespeist hatte mit leiblicher und geistiger Nahrung, die er geheilt hatte von leiblichen und geistigen Gebrechen, die ihm entgegengejubelt hatten bei seinem Einzug nach Jerusalem, war denn von ihnen Niemand da? O, gewiss fehlten sie nicht ganz, gewiss wurden nicht Alle von den Aufreizungen der Priester, von dem Taumel des Volkes mit fortgerissen, gewiss beklagten Viele seine Verblendung, waren in ihrem Herzen tief betrübt über den furchtbaren Tod ihres Wohltäters. Hätten alle diese sich vereinigt, wären sie kühn für den Schuldlosen aufgetreten, wohl hätten sie seinem Geschick eine andere Wendung geben können. Aber sie fanden sich nicht zusammen, weil sie sich nicht suchten, weil sie Alle sich fürchteten, dem aufgeregten Volk gegenüber für die Gerechtigkeit zu zeugen, weil sie sich einredeten: Es wäre doch Alles nutzlos, sie könnten doch nicht helfen - und darum zeugt die Geschichte wider sie, wider ihre sündliche Feigheit und Schlaffheit, welche mit dem Vorurteil und dem Parteihass die gleiche Schuld daran trägt, dass der Heiland am Kreuz dahingeopfert wurde.
Und auch dies Zeugnis, geliebte Gemeinde, findet seine volle Anwendung auf unsere Zeit und unsere Verhältnisse. O, wie viel Böses fristet noch sein verderbliches Dasein, wie viel Gutes wird noch gehindert, weil diejenigen, welche es wirklich als solches anerkennen, nicht den Trieb und den Mut haben, dem Einen zu widerstehen, das Andere zu befördern mit aller ihrer Kraft! Da waltet an vielen Orten immer noch die trostlose Gleichgültigkeit, welche spricht: Was geht es mich an! - Wohl geht es dich an, denn alles Gute, Wahre, Rechte und Gemeinnützige geht jeden Menschen an, und es ist deine Pflicht, es zu fördern. Tust du es nicht, so bist du ein untreuer Knecht. - Da hindert noch immer die jämmerliche Selbstsucht, die nur an sich denkt, und vor jedem entschiedenen Auftreten gegen das Böse und für das Gute zurückschreckt durch den Gedanken: Ich könnte mir Ungelegenheiten machen! - Aber wozu bist du denn in der Welt, wenn du, um das Böse auszurotten und das Gute zu fördern, dir nicht einmal Ungelegenheiten machen willst? Hats etwa dein Heiland nicht getan dir zu gut, zu deinem Heil? Willst du besser sein als er? Der Jünger ist nicht über dem Meister! Blicke hin auf sein Kreuz; das sei dir Mahnung, denn er ruft uns Allen zu: Nehmt auf euch mein Kreuz und folgt mir! Willst du den Jüngern gleichen damals, als sie, von dem rechten Geist verlassen, auch ihren Herrn verließen? oder damals, als sie, heiligen Geistes voll, auf sein Wort ausgingen in alle Welt, das Evangelium zu verkündigen, und es auch dir zu gut mit ihrem Blut zu bezeugen? So viele und so große Opfer sind für dich gebracht, Christ, und du willst jetzt keins bringen für die Wahrheit und das Recht? Und so große Opfer werden ja gar nicht in unserer Zeit von dir verlangt! Nur reden sollst du für die Wahrheit und das Recht, welche du als solche erkennst, und nicht scheu schweigen; nur handeln für sie, wenn du dazu Gelegenheit hast, nicht aber dich feige zurückziehen, wenns zum Handeln kommt, und zwar bloß deshalb, weil du etwa einen kleinen Vorteil, oder die Gunst irgend eines Mächtigen dieser Erde verlieren, oder dir etwa sonstige Ungelegenheiten machen könntest! Nach dem Allen hat dein Heiland nicht gefragt, sondern nur danach, was der Wille sei seines Vaters im Himmel, und den hat er getan. So wollen wir denn auch hingehen, geliebte Mitchristen, und dergleichen tun, damit wir uns als seine wahren Jünger erweisen; sonst zeugt sein Leiden und Sterben auch wider uns.
O wahrlich, kein Tag ist geeigneter zu solchem Entschluss, uns aufzumuntern, als der Todestag unsers Heilandes. Nur wenig könnte es uns frommen, wollten wir uns an demselben lediglich in Gefühle der Wehmut und Trauer über seine Pein versenken; wir kennen ja seinen und seiner Sache herrlichen Triumph, für diesen ist er freudig das Opfer geworden. Aber das muss uns schmerzen, dass um der Blindheit und Sünde der Menschen willen ein solches Opfer erst nötig geworden ist, dass die heilige Sache nicht ohne dasselbe zum Sieg gelangte. Das muss uns schmerzen, dass die Menschen und ihre Zustände sich unter dem Einfluss des Evangeliums noch nicht mehr geändert haben, und dass um gleicher Blindheit und Sünde willen jeder Fortschritt zum Besseren noch immer den gleichen Kampf kämpfen muss, noch immer andere, wenn auch kleinere Opfer erfordert. Dem Schmerz können wir aber für die Zukunft vorbeugen, wenn wir dafür sorgen, dass das Vorurteil seine Kraft verliere, dass der Parteihass ferner nicht mehr wirken könne, dass die Unentschiedenheit für das Gute nicht ferner es hindere. Dann erst werden wir des Leidens und Sterbens Jesu gedenken können, ohne zugleich an unsere Brust zu schlagen und zu bekennen: Dies Leiden und Sterben zeugt auch wider uns.
Ja, du Heiliger, an deinem Kreuz wollen wir dir es geloben: die Wahrheit und das Heil der Welt, dafür du lebtest und starbst, sie wollen auch wir suchen, für sie wollen auch wir zeugen, und - wenn es sein muss - dafür sterben. Wenn wir die Liebe und den Mut dazu haben - erst dann sind wir deiner wert und dein. Amen.