Hubmaier, Balthasar - Von der brüderlichen Strafe
Wo die nicht ist, da ist gewißlich auch keine Kirche, obschon die Wassertaufe und das Nachtmahl Christi daselbst gehalten werden.
D. Balthasar Hubmaier von Friedberg
Die Wahrheit ist untödlich.
(Nikolsburg 1527)
Nachdem das Volk das Wort Gottes gehört, angenommen, ihm Glauben gegeben, sich mit der Wassertaufe gegenüber Gott öffentlich vor der Kirche nach dem Befehl Christi verpflichtet hat, danach zu leben, und Gott versprochen hat, daß es sich ihm durch die Kraft Gottes des Vaters und Sohnes und Heiligen Geistes unterwürfig gemacht hat zum Wirken und Leiden, zum Glück und Unglück, zu Freud und Leid, zum Leben und Sterben, ja wie Gott es schicke, so woll es das alles willig annehmen und mit Christus mitleiden, sterben und begraben werden, in der Hoffnung und Zuversicht, auch mit ihm aufzuerstehen durch die Glorie des Vaters, in der Neuheit des Lebens zu wandeln und fortan in dem sterblichen Leib die Sünde nicht regieren zu lassen, noch seinen Lüsten gehorsam zu leisten, sondern seine Glieder dem Herren als Waffen und zum Dienst der Gerechtigkeit in Gehorsam zu ergeben, auf daß sie heilig werden und das Ziel, welches das ewige Leben und eine Gabe Gottes in Christus Jesus unserm Herrn ist, erlangen und ihm also zu Lob, Ehr und Preis in Ewigkeit „Heilig, Heilig, Heilig“ jubilieren und singen können -Ja und solches zu tun und zu vollbringen, hat sich das Volk mit einem öffentlichen Bekenntnis des christlichen Glaubens, auch durch den Empfang der Wassertaufe in die Gemeinschaft der heiligen, allgemeinen und christlichen Kirche einschreiben, eintragen und einleiben lassen, außerhalb derer - wie außerhalb der Arche Noahs - kein Heil ist. Jetzt ist aus diesem Volk eine besondere und äußerlich (sichtbare) Kirche geworden, und eine neue Tochter geboren ihrer Mutter, der allgemeinen christlichen Kirche, welche Tochter nun mit Recht den Willen ihrer Mutter tun sollte, wie die Mutter, das ist die allgemeine christliche Kirche, tut den Willen ihres Mannes und Ehegemahls, welcher ist Christus Jesus, ein Sohn des lebendigen Gottes, dessen Willen er auch bis in den Tod vollbracht hat, auf daß so der Wille Gottes, des Vaters, durch seinen geliebten Sohn, Mutter und Tochter gleicherweise geschehe und erfüllt werde auf Erden wie in den Himmeln.
Danach, oh ihr frommen Christen, ist es stets nötig, weil doch die Menschen von Natur aus Kinder des Zorns, böse und sündhaft sind, ihnen mit heilsamer Arznei zu begegnen, auch das faule und stinkende Fleisch mitsamt den vergifteten und unreinen Gliedern manchmal ganz abzuschneiden, damit nicht der ganze Leib dadurch verunstaltet, geschändet und verdorben wird, sondern damit die christlichen Menschen in ihrem angefangenen, neuen und christlichen Leben fortfahren und verharren und nicht wie eine wüste Sau wieder in die Kotlachen der Sünden, auch in den Zorn Gottes fallen. Das alles kann nicht besser geschehen als durch die brüderliche Strafe nach der Einsetzung und Ordnung Christi (Matth. 18,15 ff.).
Ja, Gott lebt und bezeugt selbst, daß ich die Wahrheit sage. Wenn die brüderliche Strafe nicht wieder aufgerichtet, angenommen und gebraucht wird nach dem ernsten Befehl Christi, ist es nicht möglich, daß es recht zugeht und wohl steht unter den Christen auf Erden. Obschon wir uns alle an dem Evangelium heiser und müde schreien, schreiben und zuhören, so ist doch alles Geschrei, Mühe und Arbeit vergeblich und unnütz. Ja, es sind auch die Wassertaufe und das Brot-brechen eitel, umsonst und ohne Frucht, wo die brüderliche Strafe und der christliche Bann nicht dabei sind und mitlaufen, die Strafe, die zur Taufe gehört, und der Bann, der zur Kommunikation und Gemeinschaft gehört. Das alles haben wir in etlichen Jahren an vielen Orten wohl gesehen und mit eigenen Augen erfahren. In dieser Zeit hat das Volk nicht mehr als zwei Stücke gelernt, ohne alle Besserung des Lebens. Eins, daß es sagt: Wir glauben; der Glaube macht uns selig. Das andere: Wir können aus uns selbst nichts Gutes tun. Nun sind beide wahr. Aber unter dem Deckmantel dieser halben Wahrheiten hat alle Bosheit, Untreue und Ungerechtigkeit ganz und gar die Oberhand gewonnen, und ißt brüderliche Liebe mittlerweile mehr erkaltet in vielen Menschen als vorher in vielen tausend Jahren. Ja, es ist stets wahr und wird erfüllt das allgemeine Sprichwort: Je älter, desto böser. Es bessert sich nicht, sprich: es „bösert“ sich wohl. Je älter, desto kälter. Je länger die Welt steht, desto böser sie wird. Diesen Backenstreich müssen wir eben von den Gottlosen leiden. Aber Gott sei es geklagt, wir leiden das aus unserer Verschuldung. Denn wir alle wollen Christen und gut evangelisch sein mit Weiber nehmen, Fleisch essen, mit nimmer opfern, nimmer fasten, nimmer beten. Aber sonst sieht man nichts als Saufen, Fressen, Gottlästern, Wuchern, Lügen, Betrügen, Schinden, Schaben, Zwingen, Dringen. Stehlen, Rauben, Brennen, Spielen, Tanzen, Hoffieren, Müßiggang, Huren, Ehebrechen, Jungfrauen schwächen, Tyrannisieren, Würgen, Töten. Da ist alle Leichtfertigkeit und Frechheit des Fleisches im höchsten Schwange. Da sitzt die Üppigkeit dieser Welt im obersten Sessel, regiert, jubiliert und triumphiert in allen Dingen. Da leuchtet kein christliches Werk bei irgendeinem Menschen. Brüderliche Liebe und Treue sind ganz und gar erloschen. Dazu geschieht das alles -es ist schmerzlich zu sagen - unter dem Schein des Evangeliums. Denn sobald du zu solchen evangelischen Leuten sagst: „Es steht geschrieben, Bruder, laß ab von dem Bösen und tue Gutes“, so antwortet er sofort: „Es steht geschrieben: Wir können nichts Gutes tun; alle Dinge geschehen als Schickungen von Gott und mit Notwendigkeit.“ Sie meinen damit, ihnen sei das Sündigen schon erlaubt. Sagst du ferner: „Es steht geschrieben: Wer Böses tut, wird in das ewige Feuer gehen“, so finden sie augenblicklich wieder einen Wedel, aus Feigenblättern gemacht, ihre Laster damit zu bedecken, und sagen: „Ei, es steht geschrieben: Der Glaube allein macht uns selig und nicht unsere Werke.“ Mit solchen spitzfindigen Reden sind wir dennoch gut evangelisch und verkündigen die Heilige Schrift, wie die Freunde des Hiob, ja, auch wie der Teufel (Matth. 4) zur Beschirmung der mutwilligen Freiheit und Frechheit unseres Fleisches gar artig und meisterlich zitieren, schmücken und ziselieren. Aber wenn brüderliche Strafe unter uns wieder aufgerichtet würde, würde solche Entschuldigung und gefärbte Verblümung unserer Sünden und Laster bald aufgedeckt und zuendegebracht werden. Wohlan, wir wollen mit der Hilfe Gottes die brüderliche Strafe nicht allein mit der Lehre, sondern auch mit der Hand und Tat angreifen. Gott wolle uns seine Gnade und Kraft, solches zu vollbringen, gnädiglich dazu mitteilen. Dann wird erst der alte Adam seine Ohren strecken, murren, in die Höhe springen, schnauben, auch hinten und vorne ausschlagen. Denn die Strafe kann er einfach nicht erleiden. Er will stets ein Christ und dennoch „unsträflich“ sein. Das wollen wir ihm kraft der Heiligen Schrift ganz und gar anders zeigen und bitten seinen angeborenen Stolz, er wolle uns eine gnädige Audienz geben. Wenn er das aber hier nicht gern tun möchte, muß er es dort am Jüngsten Tag geschehen lassen. Hiermit wollen wir unsere Ehre und unser Gewissen gegenüber jedermann gewahrt haben.
Christus Jesus unser Herr und Seligmacher hat stets und immer großen Fleiß und Ernst angewendet, damit er die Laster unter seinem Volk auswurzelte und dämpfte, durch die viele Menschen verführt, verdorben und des ewigen Lebens dadurch beraubt werden. Er sagt: „Wehe, wehe der Welt von des Ärgernis wegen. Wehe, wehe dem, durch welchen Ärgernisse kommen! Es wäre ihm besser, daß man ihm einen Mühlstein an seinen Hals hängte und würfe ihn in das Meer, als daß er dieser Kleinen einen ärgert. Hütet euch“ (Luk. 17,1-3) „Sündiget aber dein Bruder an dir, so gehe hin und strafe ihn zwischen dir und ihm allein. Hört er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Hört er dich nicht, so nimm zu dir noch einen oder zwei, auf daß alle Sache bestehe auf zweier oder dreier Zeugen Mund. Hört er dich auch I: nicht, so. sage es der Gemeinde. Hört er die Gemeinde nicht, so halte ihn als einen Heiden und Zöllner. 11 Wahrlich ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll gebunden sein auch in den Himmeln, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll gelöst sein auch in den Himmeln“ (Matth. 18, 15-18).
Hier, christlicher Leser, bei dem Wörtlein „an dir“ oder „in dich“ ist zu merken, daß es zweierlei Sünden gibt, öffentliche und heimliche. Öffentliche, die geschehen ohne alle Scham vor den Menschen. Diese Sünde soll man auch öffentlich und sofort strafen, damit nicht andere fromme und einfältige Leute dadurch verführt oder verdorben werden und sagen könnten: „Ist es dem recht, so ist es auch mir recht.“ So hat es das Volk denn auch getan und bisher in Hurerei und in allem Ehebruch gelebt, wenn es sah, daß seine Meßpfaffen und Obersten auch so haushielten. Genauso, als der Papst dem geistlosen Haufen und den Stiften erlaubte, fünf Gulden (und ein wenig mehr) vom Hundert zu nehmen (wider das klare und deutliche Wort Christi, Luk. 6, 34), da haben es andere Leute auch so gehalten und sogar ein ehrliches Kaufmannsgewerbe daraus gemacht. So eine böse Sünde ist das Ärgernis. Es frißt um sich wie der Krebs und Aussatz, wenn man es mit brüderlicher Strafe nicht eilend austilgt. Darum lehrt uns Paulus und schreibt: „Die da öffentlich sündigen, die strafe vor allen, auf daß die andern Furcht haben“ (1. Tim. 5, 20). So strafte Christus auch den Petrus, als er nur mit wenigen Worten aus menschlicher guter Meinung ihn bat, daß er seiner selbst schonte und nicht hin gen Jerusalem gehen sollte, auf daß ihm nicht Arges widerführe. Denn damals sagte Christus zu ihm: „Hebe dich, Satan, von mir! Du bist mir ärgerlich; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“ (Matth. 16,23). So strafte Petrus den Simon, als er den Heiligen Geist von den Aposteln für Geld kaufen wollte, und sprach: „Daß du verdammt werdest mit deinem Geld, daß du meinst, Gottes Gabe werde durchs Geld erlangt. Du wirst weder Anteil noch Anrecht haben an diesem Wort; denn dein Herz ist nicht aufrichtig vor Gott. Darum tue Buße für diese deine Bosheit und bitte Gott“ (Apg. 8, 20-22). Doch habe ein jeder Christ sich selbst in guter Acht, damit diese Strafe und Schärfe der Worte aus Liebe und nicht aus Neid, Haß oder Zorn herfließen, wie man aus den Worten des Petrus sieht, in denen er die Besserung Simons begehrt und sagt: „Tue Buße“ usw. Ebenso strafte auch Paulus den Petrus, als er sah, daß er nicht richtig nach der Wahrheit des Evangeliums wandelte, und sagte: „So du, der du ein Jude bist, heidnisch lebst und nicht jüdisch, warum zwingst du denn die Heiden, jüdisch zu leben?“ (Gal. 2,14). Ja, öffentlich stand Paulus dem Petrus von Angesicht zu Angesicht gegenüber; denn Petrus war strafbar.
Etliche Sünden aber sind heimlich, die da in der Stille und Verborgenheit vollbracht werden. Solche Sünden soll man auch nach dem Befehl Christi heimlich strafen. So straft Nathan der Prophet den König David und Christus den Verräter Judas, wenn auch vor den Jüngern, aber doch mit verborgenen Worten. Hört dich alsdann dein Bruder, folgt deiner Strafe und kehrt sich von den Sünden ab, so hast du mehr als alle Kaufleute von Venedig ihr Leben lang auf einmal gewonnen. Hört er dich nicht, so nimm noch einen oder zwei, der Zeugenschaft wegen. Hört er die aber auch nicht, so sage es der Gemeinde. Damit tust du den Willen und ernsten Befehl Christi, der mit einem Gebot zwei heilsame Gebote zusammengefaßt hat. Wie er dir nämlich geboten hat, deinen Bruder zu strafen, oder du bist seiner Sünden teilhaftig, so hat er mit eben diesen Worten deinem Bruder geboten, die brüderliche Strafe im Guten und tugendlich anzunehmen. Tut er das, so ist es zum Heil, tut er es nicht, bist du jetzt an seiner Sünde vor Gott unschuldig. Hier murrt aber die fleischliche Weisheit (der alle Worte Gottes Gift und Galle sind) und sagt: „Das
dünkt mich nicht recht zu sein, daß mir mein Bruder meine heimliche Sünde offenbar machen soll. Er wollte nicht, daß ich es ihm täte. Deshalb sollte er billigerweise mich damit auch verschonen und mir vielmehr helfen, meine Sünde zu verdecken.“ Antwort: Er hat dich doch allein unter vier Augen gestraft, damit deine Sünde nicht offenbar würde. Du wolltest ihn aber nicht hören. Da mußte er wohl nach dem Befehl Christi zwei oder drei zu sich nehmen, ob er doch deine Seele nochmals gewinnen könnte, auf daß du nicht vor der ganzen Gemeinde schamrot würdest. Als du solches auch nicht annehmen wolltest, mußte er es alsdann wohl der Kirche vortragen, da doch der Befehl Christi und deiner Seelen Seligkeit ihm mehr zu Herzen gegangen sind als deine zeitliche, falsche und gleißnerische Ehre und Frömmigkeit, daß man dich für fromm halten sollte und warst doch nicht fromm. Denn es ist stets besser für dich, du wirst beschämt vor der einzelnen Pfarrkirche allein als vor der allgemeinen Kirche und vor dem ganzen himmlischen Heer am Jüngsten Tag. Denn es gibt nichts, i das so heimlich ist -es wird offenbart, und vor allem i muß die Sünde stets einfach zuschanden werden.
Da du nun die Kirche auch nicht hören wolltest, war es besser für dich, daß man dich ausschloß und für einen Heiden hielt, denn daß du die ganze Kirche durch Ärgernis geschändet und vielleicht viele andere Glieder mit dir in Sünde und ewiges Verderben geführt hättest. Es war dir auch darum besser, damit du in dich selbst gehen, dein Elend erkennen, von Sünden dich abkehren und alsdann mit großen Freuden von der Kirche wiederum aufgenommen und in ihre christliche Gemeinschaft eingelassen werden kannst.
Siehst du da, du frommer Christ, wie nützlich und heilsam die brüderliche Strafe ist? Ja, dem, der ihr Heil erkennt und sie tugendlich annimmt! Doch Fleisch, Blut oder der seelische Mensch kann solches nicht begreifen. Er will stets fromm gesehen werden und von niemand gestraft sein. „Aber der Geistliche urteilt alle Dinge“ (1. Kor. 2,15). Diese Strafe aber und Ausschließung ist nicht allein gut dem Menschen im Hinblick auf die Sache, sondern ihm wäre es noch viel besser, einen Mühlstein an seinen Hals gehängt zu bekommen und ins Meer geworfen zu werden, als daß er auch nur allergeringsten Anstoß oder Ärgernis in der Kirche geben und Sünde auf Sünde häufen könnte.
Weil nun die brüderliche Strafe und der christliche Bann aus so ganz innerlicher, herzlicher und inbrünstiger Liebe fließt, die ein Christ gegenüber dem andern in rechter Treue täglich tragen soll, deshalb muß stets der ein unverständiges, wüstes und gottloses Scheusal sein, ja ein grimmiger Herodes, der diese Strafen nicht freundlich, mit Güte und mit Danksagung von seinem Bruder annimmt.
Noch eins ist hier zu wissen, frommer Leser, daß nämlich in dieser Sache zweierlei Gebote sind. Das erste gebietet einem jeden einzelnen Christen, seinen sündigenden Bruder zu strafen nach der Ordnung Christi. Das andere gebietet dem Strafenden, daß er den Balken zuerst aus seinen (eigenen) Augen ziehe. Alsdann sehe er auch darauf, den Splitter, der im Auge seines Bruders ist, herauszuziehen. Das ist nun die rechte Ordnung Christi, die gerade so gehalten werden sollte. Doch wird das erste Gebot durch das zweite nicht aufgehoben, weil es doch stets besser ist, ein Gebot zu erfüllen als beide zu unterlassen. Deshalb ist niemand entschuldigt, wenn er seinen Bruder nicht straft, weil er selbst ein Sünder ist. Denn auf diese Weise würde die brüderliche Strafe wohl ganz und gar zu Boden fallen. Vielmehr ist der allergrößte Sünder schuldig, seinen Bruder zu strafen - oder er macht sich mit seinem Stillschweigen auch (noch) fremder Sünden teilhaftig. Das nennt Jesaja: Gesellen sein der Diebe. Und David nennt es: mit den Dieben laufen und mit den Ehebrechern Gemeinschaft haben.
Das habe ich deshalb erwähnt, weil unter dem Vorwand, daß wir alle Sünder sind, keiner den andern mehr hat strafen oder Strafe für gut annehmen wollen und weil so die brüderliche Strafe ganz und gar ausgelöscht und zu Asche geworden ist.
Wie einer den andern strafen soll
Nach der Schrift soll es folgendermaßen geschehen: „Bruder, es steht geschrieben, daß die Menschen Rechenschaft geben müssen am Jüngsten Tag von einem jeden unnützen Wort, das sie geredet haben (Matth. 12,36). Nun hast du, lieber Bruder, ein Taufgelübde unserm Herrn Christo Jesu getan, dich ihm derart verpflichtet und öffentlich vor der Kirche versprochen, daß du dein Leben fortan nach seinem heiligen Wort (dem Zeugnis in der Schrift) richten und regieren wolltest; wo du aber solches nicht tätest, dich nach dem Befehl Christi williglich strafen zu lassen. Darauf hast du die Wassertaufe empfangen und bist so in die Zahl der christlichen Gemeinschaft eingeschrieben worden. Nun brauchst du viel unnütze Worte und leichtfertige Reden, durch die die guten Sitten nicht wenig zerstört werden und die auch einem Christenmenschen nicht gebühren. Deshalb erinnere ich dich an dein Taufgelübde, mein allerliebster Bruder, daß du desselben eingedenk bist, was du Gott zugesagt hast, und bitte dich um Gottes und deiner Seelen Heil willen, fortan solch unnützes Geschwätz zu vermeiden und dein Leben zu bessern. Damit tust du den Willen Gottes.“
Stellt dein Bruder daraufhin die Sünde ab, so hast du ein köstliches Kleinod gewonnen. Tut er es aber nicht, so nimm zwei oder drei Zeugen zu dir und versuche es noch einmal mit ähnlichen Worten. Hört er die auch nicht, so sage es der Pfarrkirche. Die weiß wohl, wie sie sich in dem Fall verhalten soll. So handle auch mit allen andern Sünden.
Wo du weiter merkst, christlicher Mensch, daß ein Bruder etwas gegen den andern hat, es sei Neid, Haß oder andere Feindschaft, bringe sie zusammen und halte ihnen die Lehre Christi vor, die sagt: „So du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst dort eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich hat, lasse deine Gabe beim Altar und gehe hin, versöhne dich zuvor mit deinem Bruder. Alsdann komme und opfere deine Gabe“ (Matth. 5,1.3 f.). Denn Gott will nie etwas in Gnaden von uns haben oder annehmen, während wir gegenüber unserm Nächsten noch Feindschaft hegen. Also versöhne sie unter sechs Augen. Wollen sie dich aber nicht hören, so halte dich, wie es oben mit der brüderlichen Strafe ausgeführt ist. Wahrlich, wahrlich, wo das geschieht, da wird Gott gewaltig und wunderbar seinem Wort und Befehl beistehen, so daß die christlichen Brüder und die Gemeinschaft solch schwere Sachen und Uneinigkeiten versöhnen werden und schlichten können, wie sie in vielen Jahren mit großem Aufwand und Schaden nicht in Ordnung gebracht werden konnten. Wenn aber eine Seite nicht will, die wird auch Gott derart strafen, daß es sie bei zehn Gulden hundert Gulden, ja vielleicht Leib und Leben kosten wird. So stark ist Gott, daß er mit dem Friedsamen friedsam und mit dem Zänker zänkisch ist. Das heißt, er kann Zank mit Zank strafen.
Solche Ermahnung und Strafe, christlicher Bruder, kann nicht besser geschehen als durch das Zitieren des göttlichen Wortes, wie zum Beispiel der zehn Gebote und anderer christlicher Lehren. „Denn die Dinge sind geschrieben“, sagt Paulus (1. Kor. 10, 11), „zur Ermahnung unserer (selbst), auf die das Ende der Welt gekommen ist“. Und an einem andern Ort: „Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nutz zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ohne Makel und zu allem guten Werk fähig sei“ (2 Tim. 3,16).
Jetzt sieht man klar, woher die Vollmacht stammt, daß ein Bruder Macht und Recht hat, den andern zu strafen: aus der Taufverpflichtung nämlich, die der Mensch vor Empfang der Wassertaufe abgelegt hat, und weil er sich nach der Ordnung Christi der Kirche und allen ihren Gliedern unterworfen hat. Das aber kann der Antichrist mit seinem Haufen nicht erleiden. Er möchte schlechthin ohne Verirrung, frei und unsträflich sein, obgleich er täglich eine große Schar von Seelen in die Hölle führt. Dennoch darf niemand zu ihm sagen: „Warum tust du es?“ Darum hat er das rechte Taufgelübde mitsamt der Wassertaufe umgestürzt. Denn es hat sich mit seiner Hoffahrt, seinem Pomp und seiner Hochgeistigkeit nicht vertragen können. Nun möchte er aber auch als ein getaufter Christ zur Kirche gezählt werden, ja, ein Haupt der Kirche sein, möchte aber nicht leiden, daß man zu ihm sagt: „Bruder Papst, Bruder Bischof, Bruder Kaiser, König, Fürst oder Herr, du irrst und sündigst wider Gott.“ Aus dem Grund hat der Antichrist Tag und Nacht einen so auffallenden Fleiß angewandt, die Wassertaufe Christi auszugießen und seine eigene, erdichtete, elende und antichristliche Kindertaufe an die Stelle zu setzen, auf daß, wenn er an sein sakramentliches Taufgelübde und an die mit eigener Hand gelobte Treue erinnert und zu ihr ermahnt würde, er sich gleich entschuldigen und sagen könnte: „Ich bin ein Kind gewesen, habe nicht Latein verstanden, habe nichts versprochen, auch damals nicht gewußt, was Gelübde, Glaube, Christus, Taufe oder brüderliche Strafe ist.“ Aber, du antichristlicher Haufe, dir wird solche Ausrede nicht helfen! Das Evangelium ist dir als Zeugnis in aller Welt gepredigt worden. Niemand kann sich ausreden.
„Wer nur das geringste der Gebote Christi auflöst, der wird der Geringste genannt im Himmelreich“ (Matth. 5, 19). Wehe, wehe, wehe allen denen, die die Wassertaufe Christi, brüderliche Strafe, das Nachtmahl Christi und den christlichen Bann aufgelöst und anders gebraucht haben! Welche aber die Gebote Christi recht tun und lehren, wohl, wohl, wohl denselben! Denn sie werden groß, groß in dem Reich der Himmel genannt.
Darum alle die, die da schreien: „Ei, was ist es mit der Wassertaufe? Was ist es mit dem Nachtmahl? Es sind doch nur äußerliche Zeichen. Da ist nichts denn Wasser, Brot und Wein. Was zankt man nun darüber?“ - dieselben haben ihr Leben lang nie so viel gelernt, daß sie wüßten, warum die Zeichen eingesetzt worden sind von Christo, wozu sie dienen oder worauf sie schließlich abzielen, nämlich eine Kirche zu sammeln, sich äußerlich zu verpflichten, nach dem Wort Christi im Gauben und in brüderlicher Liebe zu leben, und sich um der Sünden willen brüderliche Strafe und den christlichen Bann gefallen zu lassen und solches alles mit einem sakramentlichen Eid vor der christlichen Kirche und vor allen ihren Gliedern, die zum Teil persönlich, sicher aber im Geist beieinander sind, im Namen der Kraft Gottes des Vaters und Sohnes und Heiligen Geistes oder im Namen der Kraft unseres Herrn Jesu Christi (was alles eine Kraft ist) öffentlich zu bezeugen und sich dieser Kraft mit handgelobter Treue zu ergeben. Darauf seht, ihr lieben Brüder, und nicht auf Wasser, Brot oder Wein, obwohl unsere Wassertaufe und unser Brotbrechen auch nur ein Schein und eine Spiegelfechterei ist, ja, nichts besseres als wie es die törichte Kindertaufe und das Kindleinfüttern bisher gewesen sind, wenn die brüderliche Strafe und der christliche Bann nicht stets mitlaufen.
In Summa: Wo die Wassertaufe nicht nach der Ordnung Christi gegeben wird, da ist es unmöglich, daß einer vom andern brüderliche Strafe im Guten annimmt. Es weiß auch niemand, wer in der Kirche ist und wer außerhalb. Keiner hat dem andern gegenüber Vollmacht; wir sind zerstreut wie die Schafe ohne Hirten, ohne Weide, ohne Zeichen. Auch erkennen oder wissen wir nicht, wer sich als ein Schaf Christi bezeichnen läßt oder wer außerhalb der Herde Christi ein Bock bleiben will. Gott helfe uns allen, daß wir durch die rechte Tür in diesen Schafstall Christi Jesu eingehen mögen und nicht anderswo wider die ausdrückliche Ordnung Christi einsteigen.
Amen.
Die Wahrheit ist untödlich
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