Hofacker, Ludwig - Predigt am Pfingst-Montage
Wie wir der in Christo eröffneten Gnadenschätze Gottes theilhaftig werden können
Text: Joh. 3,16-21.
Also hat Gott die Welt geliebet, daß Er Seinen eingebornen Sohn gab, auf daß Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat Seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß Er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde. Wer an Ihn glaubet, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubet, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes. Das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist; und die Menschen liebten die Finsterniß mehr denn das Licht. Denn ihre Werke waren böse. Wer Arges thut, der hasset das Licht, und kommt nicht an das Licht, auf daß seine Werke nicht gestraft werden. Wer aber die Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden, denn sie sind in Gott gethan.
Aus unserem herrlichen Evangelium nehme ich Veranlassung, unter Gottes Beistand zu euch davon zu sprechen:
Wie wir der in Christo eröffneten Gnadenschätze Gottes theilhaftig werden können.
Ich will
- I. zeigen, daß sie in Christo eröffnet seyen;
- II. wie wir derselben theilhaftig werden.
I.
„Also hat Gott die Welt geliebet, daß Er Seinen eingebornen Sohn gab, auf daß Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ In diesem Worte des Heilandes ist Alles enthalten, was ein armes Menschen-Herz zum Trost, zur Beruhigung, zur Heiligung, zu einem sichern und rechtschaffenen Gang durch diese Welt, zum seligen Durchkommen durch das Todes-Thal, was ein armes Menschen-Herz für Zeit und Ewigkeit bedarf. Also hat Gott die Welt, die in Sünden todte, erstorbene, abtrünnige, vergiftete, die arge und kranke Welt, die von den Ketten der Finsterniß gebundene Menschheit geliebet, mit solchem Erbarmen hat Er sie angesehen und umfaßt, daß Er Seinen eingebornen Sohn, daß Er Sein Liebstes, daß Er den Abglanz Seiner Herrlichkeit und das Ebenbild Seines Wesens, daß Er JEsum Christum herausgab in die Sünder-Welt, daß Er Ihn auf diese arme Erde in viel Leid, Noth und Trübsal, ja in den bittern Tod dahingab, damit wir nicht verloren, sondern errettet würden, damit wir auch noch Erben des ewigen Lebens werden könnten, und nicht der ewigen Finsterniß anheim fallen müßten, was wir ja tausend Mal verdient hätten; und dieß Alles hat Er gethan aus lauterer, purer, freier, unverdienter Gnade.
Aber, möchte Jemand sagen: soll denn immer nur von dem Heilande, von der Erlösung gepredigt werden? Soll denn das der Haupt-Gegenstand seyn, auf welchen alles Andere wieder zurückbezogen wird? Ja, liebe Brüder, wenn ich mit Menschen- und mit Engel-Zungen redete, wenn ich alle Geheimnisse wüßte, wenn ich alle Höhen und alle Tiefen durchschauete, und hätte allen Glauben und mehr als menschliches Wissen, wenn ich das Alles verstünde und besäße, und wüßte nichts zu sagen von der ewigen Erbarmung Gottes in Christo JEsu, und würde das nicht zu Grunde legen, und das nicht predigen, und das nicht immer wieder auf’s Neue mit und meinen armen Mitsündern vorhalten, sehet, so wäre ich nichts, so wäre ich nicht tauglich, auf dieser Kanzel zu stehen, und würde nichts anders verdienen, denn daß mir würde ein Mühlstein an meinen Hals gehänget, und ich ersäuft im Meere, da es am tiefsten ist; denn ich würde sammt allem Wissen und sammt aller Erkenntniß in Hohem und Tiefem dem ewigen Feuer entgegenreisen, und noch diejenigen mit in’s Verderben ziehen, welche auf richtige Weide zu führen mit der HErr befohlen hat. Ich weiß es ja aus eigener Erfahrung, was an einer auch noch so großen Erkenntniß ist, wie sie eben das Herz nicht beruhigen und das Gewissen nicht stillen, wie sie hochmüthig und aufgeblasen machen kann, und dabey doch leer läßt, so daß man meint, man habe Etwas und hat Nichts, und hat doch keinen Trost im Leiden und keinen Trost im Tode.
Ich bin durch manche Zeiten,
Wohl auch durch Ewigkeiten
In meinem Geist gereist;
Nichts hat mir’s Herz genommen,
Als bis ich angekommen
Auf Golgatha – Gott sey gepreist!
Nur die Erkenntniß des Sohnes Gottes, die lebendige Erkenntniß der Liebe, die am Kreuze für mich sich zu Tode geblutet hat, nur diese nimmt das Herz, nur diese ist Balsam auf die schweren Wunden des Gewissens, nur diese gibt einen heitern Blick in die Ewigkeit, nur diese bewahrt vor dem Verzagen, wenn der Feind das Leben verklagt, und man dem ernstlichen Gerichte Gottes entgegen geht.
Ja, wenn wir nicht die Leute wären, die wir sind, wenn wir keine Kinder Adams, wenn wir keine Sünder von Geburt aus wären, dann wollte ich’s gelten lassen, wenn man sagte, man müsse auch noch etwas Anderes predigen als von der ewigen Erbarmung Gottes in Christo. Aber wir sind Sünder, wir ermangeln des Ruhms, der vor Gott gilt, wir haben etwa eine bürgerliche, menschliche Gerechtigkeit, aber die Gerechtigkeit haben wir nicht, die uns des Wohlgefallens Gottes würdig macht. Wenn ein Mensch nicht hurt, nicht stiehlt, nicht raubt, wenn ein Mensch sparsam, ordentlich, fleißig, haushälterlich ist, wenn ein Mensch Steuern und Abgaben richtig entrichtet, nicht betrügt, kein Raufer, kein Weinsäufer, kein Vieh- und kein Leute-Schänder ist, wenn er, wie man sagt, kein Hühnlein beleidigt, so ist dieß Alles eine feine äußerlich Zucht, so haben Menschen gerne mit ihm zu thun, so ist er gut gelitten in der Gesellschaft und vielleicht gut angeschrieben bey der Obrigkeit; aber eine Gerechtigkeit vor Gott ist das nicht, das Wohlgefallen Gottes kann er damit nicht verdienen. Und wenn er hingeht, und steift sich auf diese seine guten Eigenschaften, und meinet, Gott werde ihn um so lieber haben, weil er sich also betrage, und legt sich wohl gar hin auf sein Todtenbett und spricht: ich kann mit gutem Gewissen der Ewigkeit entgegengehen; denn ich habe mich der Rechtschaffenheit jederzeit beflissen, so ist er ein Narr, der sich selbst in seiner Blindheit um seine ewige Seligkeit betrügt. Zu einer Gerechtigkeit, die vor Gottes Augen taugen könnte, gehört wohl mehr. Siehe, armer Mensch! wenn du mit deinem Verdienste vor Gottes feuerflammenden Augen auskommen und bestehen wolltest, so müßtest du in dir haben eine Liebe zu Gott und dem Nächsten, wie das Gesetz sie vorschreibt. Das Gesetz sagt: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, und von ganzem Gemüthe, und deinen Nächsten als dich selbst.“ Du kannst di einbilden, daß zu einer solchen Liebe gegen Gott nicht genug ist, daß man hin und wieder an Gott denkt, hin und wieder zu Gott betet; sondern zu einer solchen Liebe gegen Gott gehört das, daß du, wie du schon in der Jugend gelernt hast, Ihn für das höchste Gut achtest, Ihm mit dem Herzen anhangest, immer in Gedanken mit Ihm umgehest, das größte Verlangen nach Ihm tragest, das größte Wohlgefallen an Ihm habest, Ihm ganz und gar dich ergebest, und um Seine Ehre eiferst. Du kannst dir auch denken, daß zu der Nächsten-Liebe mehr gehört, als daß man seinen Nächsten nicht beißt oder frißt, sondern es gehört das dazu, was du ebenfalls schon in deiner Jugend gelernt hast, daß du es nicht nur mit demselben getreulich meinest, ihm alles Gute von Herzen wünschest und gönnest, mit Worten und Geberden dich freundlich gegen ihn bezeugest, mit Trost, Rath und That ihm beyspringest; sondern auch seine Schwachheit mit Geduld ertragest, und durch sanftmüthige Bestrafung seine Besserung suchest. Und siehe, das Alles müßte fließen aus einem freiwilligen Geist, ungezwungen, nicht, daß du dir es erst als Pflicht vorhalten müßtest; sondern es müßte so deine Natur seyn, und in deinem ganzen Leben dürftest du dich auch mit keinem Gedanken gegen dieß Gebot der Liebe verfehlt haben. Dann hättest du das Gesetz erfüllt und eine Gerechtigkeit erlangt, die vor Gott gilt.
Eine solche Gerechtigkeit aber haben wir nicht, hat Keiner von uns und bekommt Keiner von uns. Glaubet ihr das? Es gibt freilich selbstgenügsame, blinde Seelen, die, wenn sie nur halb anfangen, sich dem Dienste Gottes zu ergeben, sogleich meinen, die Sache sey bey ihnen gethan, und nun hätten sie eine gewissen Rechts-Ansprache an die Seligkeit; aber das ist pure Blindheit. Ein Mancher meint, weil er das Fluchen etwa aufgegeben habe, das er vorher fleißig übte, sey er der Gerechtigkeit voll, die vor Gott gilt; der Himmel könne ihm nicht mehr fehlen. Viele, die von ihrem Gewissen über die bisherige Verkehrtheit ihres Herzens bestraft werden, fangen an, fleißiger als bisher in der Bibel zu lesen; sie beten wohl auch öfters zu dem HErrn; sie beugen wohl auch ihre steifen Kniee vor Ihm, was Alles ganz gut ist; aber wenn sie einen solchen Anfang gemacht haben, so können sie sich schon nicht mehr fassen vor Verwunderung über ihre eigenen Frömmigkeit; sie meinen schon etwas bei Gott voraus zu haben, darum, weil sie Ihn suchen; sie verachten schon die Andern, die nicht eben so fromm sind wie sie. Dieß Alles kommt vom Wahne her, daß sie sich einbilden, eine Gerechtigkeit vor Gott zu haben, Etwas zu haben, was ihnen das Wohlgefallen Gottes verdient. Ach, liebe Zuhörer! es ist ja gut, es ist ja nach dem heiligen Willen Gottes, wenn wir unsere Sünden lassen, wenn wir nicht mehr fluchen und die Strafgerechtigkeit Gottes nicht mehr herausfordern; es ist ja gewiß ein Trieb des Geistes darunter, wenn Einer seine Seligkeit sucht und in der Schrift zu forschen anfängt, wenn er seine Kniee vor seinem Schöpfer und Erbarmer beugt und um Gnade schreiet; aber glaubet doch nur nicht, daß dieß eine Gerechtigkeit zu Stande bringe, die vor Gott gilt; sehet doch nicht die Sache als einen Gefallen, als einen Dienst an, den wir Gott leisten, und um deßwillen Er uns wieder einen leisten, und uns zu Erben des ewigen Lebens machen müsse; wir schaffen und suchen ja dadurch nur unsere eigene Seligkeit, nicht die Seligkeit Gottes; denn Er ist selig ohne uns, und der Heiland sagt: „Wenn ihr Alles gethan habt, so sprechet, wir sind unnütze Knechte.“
O liebe Zuhörer! wir haben keine Gerechtigkeit vor Gott, und wenn wir selig werden, so werden wir es niemals um unsertwillen; denn wir mangeln des Ruhms, den wir vor Gott haben sollten, auch wenn wir die heiligsten Leute sind. Wißt ihr aber auch, was ich damit ausgesprochen habe? Ich habe damit das ausgesprochen, daß, so gewiß es gegenwärtig Tag ist, wir Alle, die wir hier sind, in die Hölle kommen, und wenn wir die frömmsten und heiligsten und rechtschaffensten Leute wären, wofern wir nicht durch den Glauben an den Sohn Gottes der Gnadenschätze Gottes theilhaftig werden. Denn unsere Gerechtigkeit ist ein unfläthig Kleid, ein Gestank vor Gott, und wenn wir die Frömmsten sind. Aber in Christo sind die Gnaden-Schätze Gottes offenbar geworden; Er hat die Scheidewand durchbrochen, die zwischen Gott und der verschuldeten Menschheit lag; Er hat die Decke hinweggethan; der Vorhang ist zerrissen; der Himmel stehet offen. Auf daß uns geholfen würde, hat Gott gesandt Seinen Sohn, damit Er uns eine Gerechtigkeit erwärbe, weil die unsere nichts taugt, auf daß wir durch die fremde Gerechtigkeit Christi selig und Erben des Lebens würden, weil wir durch unsere Gerechtigkeit nur die Hölle verdienen. Seine Gerechtigkeit ist unzerstückelt und ein Ganzes; aber doch können wir zwey Seiten daran unterscheiden. Für’s Erste hat der Heiland das ganze Gesetz für uns erfüllet; für’s Andere hat Er sich allen Folgen der Sünde unterzogen, wie wenn Er ein Sünder, ja ein Hauptsünder wäre. oder mit andern Worten: darauf beruhen die Gnadenschätze Gottes in Christo, erstens, daß Er kein Sünder gewesen und geworden, wie wir sind, und zweitens, daß er sich als einen Sünder hat behandeln lassen, und für uns zur Sünde geworden ist.
Um vom ersten etwas zu sagen, so hat Gott den Eingebornen Sohn darum dahin gegeben, auf daß dieser als das unsündliche Lamm Gottes Seinen Lauf durch diese Welt heilig und fleckenlos vollende im völligsten Gehorsam gegen den Willen des Vaters. Heilig und unsündlich war schon Seine Empfängniß im Leibe Seiner Mutter; denn Er ist empfangen durch den Heiligen Geist. Unsere Empfängniß ist nicht so heilig und unsündlich; denn wir sind aus sündlichem Samen gezeuget, und unsere Mutter hat uns in Sünden empfangen. Heilig und unsündlich war der ganze innere uns äußere Wandel des HErrn JEsu; was das Gesetz uns befiehlt, die Liebe Gottes und des Nächsten, das hat Er gehalten während der 33 Jahre Seines Laufes, und ist niemals auch nur einen Augenblick aus dieser Liebe Gottes und des Nächsten gewichen; niemals ist ein Gedanke in Seiner Seele aufgestiegen, der nicht mit dieser Liebe Gottes und des Nächsten übereinstimmte. Das Kleid der Gerechtigkeit Christi ist so rein, daß nicht das geringste Fleckchen daran haftet. Seine Jahre, die Er in Nazareth zubrachte, Seine Jahre, die Er als Lehrer und Prophet unter Seinem Volke verlebte, bis in Seinen letzten Athemzug hinein, bis zu dem Worte hin, da Er rief: „Es ist vollbracht“, sind ein zusammenhängendes Ganzes, das die heiligste, reinste Gerechtigkeit ist. Das Kleid Seiner Gerechtigkeit ist wie der ungenähte Rock, den Er trug, und über den die Kriegsknechte das Loos warfen unter Seinem Kreuze, von welchem es heißt: er sey ungenäht gewesen, gewirket durch und durch. Unsere Gerechtigkeit ist, wenn man von ihr reden will, sehr genäht und zusammengeflickt. Hier ist ein Anflug von Liebe, wenn sie Gott uns in’s Herz gibt; dann kommt wieder ein Loch, das die Ungeduld oder der Geiz, oder der Hochmuth hineingerissen hat; dann kommt vielleicht wieder ein Flecken von unkeuschen Gedanken oder Augen; jetzt kommt wieder ein kleines Plätzchen, auf dem etwas ist wie Sanftmuth; dann kommen wieder große Löcher und Sündenflecken. Ich weiß es aber wohl, wie es die Menschen machen, daß man die Sündenflecken und Löcher nicht sehen soll; sie ziehen an ihrem Gerechtigkeits-Kleide das Fleckchen, das aussieht, wie wenn Sanftmuth darauf stände, herauf, und nähen es zusammen mit dem Fleckchen, auf welchem etwas von Liebe steht; so soll man dann die dazwischen liegenden Löcher und Fleckchen nicht sehen. Aber nähe nur recht zusammen; jedoch siehe zu, wenn du so fortnähst, so wird dein Gerechtigkeits-Mantel so klein werden, daß du die Schande deiner Blöße nicht mehr decken kannst, ein Strick, der dich in den Jammer hineinreißt: „Bindet ihm Hände und Füße, und werfet ihn in die äußerste Finsterniß hinaus, da wird seyn Heulen und Zähnklappern“ (Matth. 32,13.). So sah das Gerechtigkeits-Kleid Christi nicht aus, sondern es ist ungenäht von lauterer, purer Heiligkeit. Auch alle äußern Anläufe und Versuchungen konnten auf dieses Kleid der Gerechtigkeit Christi keinen Flecken bringen. Wie versuchlich war die Lage des Heilandes in Nazareth? Welchen Gedanken über die wunderbaren Führungen des Vaters hätte Er da nachhängen, wie hätte Er sich da ärgern, daran stutzig werden können, daß der Vater den eingebornen Sohn in das kleine unbedeutende Nazareth 30 Jahre lang hineinbannte; aber ein solcher Gedanke stieg nicht in Seiner Seele auf; Er ruhte ganz im Willen des Vaters. Wie versuchlich war für Ihn Seine Lage in der Wüste, wo dem Satan ausdrücklich Raum gegeben wurde, Ihn zu versuchen? Wie versuchlich war Ihm selbst Sein Lehramt, wo von Ihm selbst Seine Gedanken im Propheten beschrieben werden: „Ich dachte, ich arbeitete vergeblich, und brächte meine Kräfte umsonst und unnützlich zu, wiewohl meine Sache des HErrn und mein Amt meines Gottes ist“ (Jes. 49,4.); aber demungeachtet gieng Er auf dem vom Vater angewiesenen Wege fort. Wie versuchlich war Sein Leiden und Tod für Ihn! Aber durch alle Bangigkeiten kämpfte Er sich hindurch und sprach: „Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe!“ und so hat Er den reinsten Gehorsam, die lauterste Heiligkeit hindurch behauptet bis an’s Ende. Deßwegen hat Ihm aber auch der Vater das Zeugniß gegeben: „Dieß ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe“, daß heißt mit andern Worten: Seine Gerechtigkeit gilt vor mir; mein heiliges Auge ruht mit Wohlgefallen auf Ihm, das Kleid Seiner Gerechtigkeit ist völlig fleckenlos, daß auch mein Gottes-Auge nur Wohlgefallen an Ihm haben kann.
Aber zu diesem Allen kommt noch etwas unaussprechlich Großes, unaussprechlich Wichtiges. Obgleich der Heiland heilig, rein und unschuldig war: so ließ Er sich doch vom Vater Sein ganzes Leben hindurch als ein Sünder behandeln, um die Schuld und Strafen der Sünde, die auf uns lagen, auf Sich zu nehmen und zu büßen. Schon dadurch, daß Er einen menschlichen Leib an Sich trug, stellte Er sich in die Reihe der Sünder hinein, ließ Er sich das Erbtheil der Sünder gefallen. Denn mit viel Beschwerden, mit viel Demüthigung ist das Leben in diesem Leibe verbunden; man muß essen und trinken; man muß schlafen und wird müde und matt; wenn man von einem Orte zum andern will, muß man seinen Körper mühselig hin bewegen; es muß dieß Alles eine unendliche Verläugnung für den Schöpfer aller Dinge gewesen seyn, größer, als wir es denken können, dieweil wir solches Alles gewohnt sind, in diesem beengenden Gefängniß aufgewachsen, und von nichts Anderem wissen. Den Fluch, der auf der Sünde lag, mußte der Heiland fühlen, als Er auf Seinem Handwerk in Nazareth arbeitete; denn es stehet geschrieben: „Im Schweiß deines Angesichtes sollst du dein Brod essen.“ O! was hat der Heiland erduldet um unsertwillen? Und doch war das noch nicht das Größte. Er that noch mehr. Johannes predigte in der Wüste, und taufte die Sünder mit der Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden; da kam auch JEsus herzu, daß Er sich taufen ließe. Johannes, der Ihn einigermaßen kannte, wehrte es Ihm. Aber JEsus sprach: „Laß jetzt also seyn; also gebühret es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ Und so ließ Er sich taufen mit der Taufe der Buße; so stellte Er sich als ein Sünder dar, und mitten in die Sünder-Reihe hinein, und ließ Sich das gefallen, was nur ein Sünder sich gefallen lassen durfte. Er war das heilige, unbefleckte Lamm Gottes; und dennoch ließ Er sich taufen zur Vergebung der Sünden. Und warum das? Darum, weil Er die Sünden aller Sünder auf Sich genommen hatte, und Sich behandeln ließ als den größten Sünder. Dieß ist aber vorzüglich offenbar geworden in Seinem letzten blutigen Leiden und Sterben; es ist offenbar geworden in Gethsemane, auf Gabbatha und Golgatha, wo Er der Sünder Lohn empfieng, wo Er als ein Fluch am Kreuze hieng, „denn verflucht ist“ – spricht die Schrift – „wer am Holze hängt.“ Also hat Gott die Welt geliebet, daß Er Seinen eingebornen Sohn in diese Tiefen der Trübsal und Angst hinabstieß um unsertwillen, daß Er Den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde machte.
Das ist der Gnadenschatz der Gerechtigkeit Christi. Und diese Gerechtigkeit Christi ist verdienstlich für die Menschen. Für Sich selbst hätte Er es nicht bedurft, einen Menschen-Lauf durch diese Welt zu machen; was hätte Ihn auch dazu bewegen sollen? Für Sich selbst hätte Er nicht bedurft, Sich als einen Sünder, ja als den größten Sünder von Gott behandeln zu lassen; denn Er ist ja der Heilige, und aller Glanz der Seraphinen ist gegen Ihn nur Dunkelheit. Das ist also Alles für uns geschehen; für uns hat Er Seinen heiligen, unsündlichen Lauf gemacht; für uns und zur Tilgung unserer Schuld die Folgen und Strafen der Sünde auf Sich genommen. Das ist das reine, unbefleckte Kleid der Gerechtigkeit Christi, und wenn wir damit bekleidet sind, so sind wir so wohlgefällig vor Gottes Augen als Christus selber, so sieht Er eben so auf uns herab, wie Er auf den Heiland herabgesehen hat, und spricht: das ist mein geliebtes Kind, an welchem ich Wohlgefallen habe, nicht um sein selbst willen, denn es ist ein Sünder, sondern um Christi willen, mit dessen Gerechtigkeits-Schmuck es bekleidet ist.
II.
Aber wer glaubt unserer Predigt, und wem ist der Arm des HErrn offenbar? Ach! es will’s Niemand glauben, daß er so übel daran ist; es will’s Niemand zugeben, daß er ein Kind des Todes und Verderbens ist, daß das höllische Feuer auf ihn wartet. man meint, man könne sich noch hindurchbringen mit der alten Schläfrigkeit und Faulheit und mit der väterlichen Weise; man meint, man könne sich noch hinein betrügen in das Reich Gottes, und das falsche Geld, das man im Sacke hat, werde der Heiland für gute Münze gelten lassen. Darum ist auch kein Aufstehen da, und keine Buße und kein Fliehen zu den Wunden JEsu und kein Trieb, seine Seele zu erretten; die wenigsten strecken sich aus nach der Gnade.
Höret, ihr Sünder! ich predige euch Vergebung der Sünden, nicht auf eigenen Antrieb, sondern nach dem Gebot des HErrn, Der da spricht: „Also mußte Christus leiden und auferstehen am dritten Tage, und predigen lassen in Seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden unter allen Völkern, und anheben zu Jerusalem.“ Höret es doch: der Gnadenschatz Gottes ist in Christo aufgethan; eure Sünden sind getilgt und an’s Kreuz geschlagen; Christus ist die Versöhnung für der ganzen Welt Sünde; schon vor 1800 Jahren ist’s geschehen, es ist nicht Noth, verloren zu gehen; wir können, wir sollen selig werden; es ist der Wille Gottes, es gibt ein Lamm Gottes, das der Welt Sünde trug. „Wohlan! Alle, die ihr durstig seyd, kommt zum Wasser, und die ihr nicht Geld habt, kommt her, kaufet und esset, kommt her und kaufet ohne Geld und umsonst Beydes, Wein und Milch“ (Jes. 55,1.). Wer keine Ruhe im Herzen hat, wem nicht wohl ist, wen die Welt aneckelt, wer Hunger und Durst empfindet nach der Gerechtigkeit, wer gerne selig sterben und nicht verloren gehen will, wer einen Bürgen braucht für seine vielen Schulden, wer nach Vergebung der Sünden schmachtet, mit einem Wort, wer einen JEsus braucht, der komme und nehme das Wasser des Lebens umsonst! Du hast nichts mehr abzumachen an der alten Schuld; du brauchst nichts mehr abzubüßen; du darfst nichts mitbringen als deine Schuld und dein elendes, unwerthes Herz; dafür wird die JEsus schenken ein neues Herz und einen neuen gewissen Geist.
Sünder! ihr dürft, so wie ihr seyd, zum Heiland kommen,
Und kommt ihr nur, so werdet ihr angenommen.
Ihr mögt so sündig seyn, so voller Schanden,
So ist ein dürstend Herz nach euch vorhanden.
Aber freilich, wer der Gnadenschätze Gottes in Christo theilhaftig werden will, wer im Schmucke des Gerechtigkeits-Kleides Christi erscheinen will, der darf dasselbe nicht über sein eigenes Gerechtigkeits-Kleid hereinziehen, der darf nicht denken: wo meine Gerechtigkeit nicht zureicht, wo sie mangelhaft ist, da soll die Gerechtigkeit Christi den Mangel ausfüllen; wehe dem, der Christum zu einem Lückenbüßer macht. Auch darf er ja nicht wähnen, daß er zu seiner Seligkeit noch etwas beitragen könne: denn es hängt ja nicht an seinem Rennen und Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. Aber eben so wenig darf man auch den Rock der Gerechtigkeit Christi über den befleckten Rock des Fleisches hereinziehen, und Sein Verdienst zum Deckel der Bosheit machen, denn wahrlich! wer das thut, dessen Schande wird offenbar werden, weil ja vor Gott nichts gilt als eine neue Kreatur in Christo JEsu, unserem HErrn. Wer daher den kürzesten Weg gehen, und der Gnadenschätze Gottes in Christo theilhaftig werden will, der bitte Gott, daß Er ihm die Kleider seiner Gerechtigkeit ausziehe, daß Er ihn entkleide von allem Vertrauen auf alles eigene Erkennen und Wollen, auf alles eigene Besitzen und Haben, daß Er ihm ausziehe den besudelten Rock des Fleisches, dessen Willen der Ungerechtigkeit anhängt, und durch Lüste in Irrthum sich verderbet. Aber wie mag Solches zugehen? Das vermag allein nur Gott, Der Beydes wirket, das Wollen und das Vollbringen, Der die Kleider des Verderbens dir aus- und die Kleider des Heils dir anziehen kann; du selbst aber hast nichts dabey zu thun, als in Seinem Willen zu ruhen, und den Sturz deines Gerechtigkeits-Gebäudes dir gefallen zu lassen.
Ach, mein HErr JEsu, wenn ich Dich nicht hätte,
Und wenn Dein Blut nicht für die Sünder red’te,
Wo sollt’ ich Aermstes unter den Elenden
Mich sonst hinwenden?
Ich wüßte nicht, wo ich vor Jammer bliebe,
Denn wo ist solch’ ein Herz, wie Dein’s, voll Liebe,
Du, du bist meine Zuversicht alleine;
Sonst weiß ich keine.
Amen!