Girgensohn, Thomas - Mahnung für die Passionszeit.
Wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht; gleichwie des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er ihm dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele. (Matth. 20, 27. 28.)
Die vorstehenden Worte Christi weisen uns die Richtung an, die unser Wandel infolge einer gesegneten Betrachtung des Leidens unseres Herrn einzuschlagen hat, welcher Betrachtung wir jetzt mit dem Beginn der Passionszeit entgegengehen. Der Herr gibt das Gebot zu dienen demjenigen, welcher der Vornehmste sein will; und wer wollte nicht vornehm sein, großen Einfluss erlangen, Macht ausüben, Ansehen genießen, Erfolge erreichen; darum gibt der Herr dies Gebot uns allen, die wir seine Jünger sind, teils zur Unterdrückung des falschen Trachtens nach hohen Dingen, teils zur Befriedigung des echten Strebens in die Höhe. Wer unter den Jüngern Christi vornehm sein will, der darf es ja nicht bloß äußerlich sein wollen vor Menschenaugen, solches Streben wird durch das Gebot zu dienen einfach abgewiesen; sondern ein von der Wahrheit und von der Liebe durchleuchtetes Wesen, das vor Gott wert und den Menschen angenehm ist, das ist die vor Allem von den Jüngern zu erstrebende Vornehmheit. Aber die Wahrheit macht durch Erkenntnis der Sünde demütig und die Liebe suchet nicht das Ihre; sie beide treiben zum Dienen und die rechte Vornehmheit findet notwendig ihren Ausdruck in der Erfüllung des Gebots: wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht. Mahnung für die Passionszeit nennen wir dies Gebot, weil es der Herr selbst verknüpft hat mit dem Hinweis an sein Leiden und Sterben, indem er sprach: gleichwie des Menschen Sohn gekommen ist, nicht dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele. Durch dieses „gleichwie“ wird das Dienen und Leiden des Herrn Jesu Christi zum Urbild, zur Quelle der Kraft, zur schaffenden Ursache seiner Jünger geprägt und erklärt. Des Menschen Sohn ist gekommen und hat sich offenbart in göttlicher Vornehmheit, von der der Apostel bezeugt: wir sahen seine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit. Und diese Gnade und Wahrheit ist am allerherrlichsten hervorgetreten in seinem Gehorsam gegen den Vater und in seinem selbstverleugnenden Dienen, und dieses Dienen erscheint wiederum am wunderbarsten in alledem, was uns in der Passionszeit gepredigt wird, in der Hingabe seines Lebens zu einer Erlösung für viele. Diese Erlösung aber, die Jesus Christus beschafft hat durch sein Dienen bis in den Tod, hat ihre segensreichen Folgen erwiesen an der Menschheit darin, dass, selbst noch ehe das letzte Ziel der Vollendung erreicht ist, in dieser irdischen Welt sich erfüllt hat und je mehr und mehr erfüllt das Wort des Herrn: siehe, ich mache alles neu, und an dem Herrn selbst ist dadurch jener Spruch zur Wahrheit geworden: so Jemand will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht, er ist ja der Vornehmste geworden durch Dienen, weil er gedient hat, darum hat ihn Gott erhöhet und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist. Wenn uns nun in der Passionszeit verkündigt wird von dem Dienen Christi zu einer Erlösung für viele, so soll durch solche Verkündigung vor allem der dankbare Glaube an den Gekreuzigten in uns erweckt, gestärkt, genährt werden, so ergeht an uns vor allem die Mahnung: das Reich Gottes ist herbei gekommen, tut Buße und glaubt an das Evangelium. So wir aber im Glauben mit dem Gekreuzigten verbunden werden, so prägt sich auch sein Bild in unsere Herzen, und die Grundzüge dieses Bildes sind Wahrheit und Liebe, und getrieben von dem Geiste Christi ringen wir danach, zur Ausgestaltung zu bringen, was in uns ist, wir verlangen nach einer vornehmen Stellung und Haltung im Leben, nämlich als Gottes Kinder, die wir sind, auch zu erscheinen. Aber, wo Wahrheit und Liebe hervortreten, da müssen sie sich erweisen nach dem Urbilde, aus welchem sie herstammen, in der Demut, im Kämpfen, im Kreuztragen, im Dienen. Nur werden solche Erweisungen des himmelan strebenden Sinnes nicht hervortreten, wo nicht dem Worte vom Kreuze gegenüber das Gebot des Herrn zu Herzen genommen wird: folgt mir nach, wo nicht für die Passionszeit gerade die Mahnung sich einprägt in die Seelen: wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht. Wenn uns die Betrachtung des Leidens Christi auf diesen Weg weist, dann wird die Hoffnung, einst zu den Vornehmsten zu gehören, auch belebt und gekräftigt werden, die Hoffnung: es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wir wissen aber, dass wenn es erscheinen wird, wir ihm gleich sein werden.
R. K. 94. Nr. 9.