Gerok, Karl von – Brosamen - 2. Predigt am 2. Advent.
(1886.)
Matth. 25,31-46.
Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit; und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie von einander scheiden, gleich als ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet; und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, erbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt. Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir kommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen, und haben dich gespeist? oder durstig, und haben dich getränkt? Wann haben wir dich einen Gast gesehen, und beherbergt? oder nackt, und haben dich bekleidet? Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen, und sind zu dir kommen? Und der König wird antworten und sagen zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln. Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. Da werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig oder durstig oder einen Gast oder nackt oder krank oder gefangen, und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden in die ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben.
„Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir?“ Das war die Frage, die vor acht Tagen am ersten Adventsonntag das Festevangelium uns auf die Lippen legte. Heute am zweiten Advent unter dem Eindruck des soeben vernommenen Schriftworts könnte sich uns fast die Frage aus dem Herzen drängen: „Wie wirst du mich empfangen und wie begegnen mir,“ mein großer Herr und Heiland, dort bei deinem zweiten Advent, wenn du kommen wirst zu richten die Lebendigen und die Toten?
Das ist ja der andre Advent Christi, an den diese Adventszeit uns mahnt, sein Kommen zum Gericht am Ende der Tage. Und wenn es eine wichtige Frage ist für uns alle: Wie soll ich heute ihn empfangen, da er unsichtbar noch einmal kommt als der Welterlöser? so ist die Frage gewiss nicht minder ernst für jeden unter uns: Wie wird er mich drüben empfangen? Wie kann ich dort vor ihm bestehen, wenn er kommen wird als der Weltrichter?
Eine Antwort auf diese Frage bekommen wir aus des Herrn eignem Mund in unsrem heutigen Evangelium in jenem großartigen Gemälde vom jüngsten Gericht mit seiner gewichtigen Schlusssentenz: „Wahrlich, ich sage euch, was ihr getan habt dem Geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan, und was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir nicht getan.“
Also unsre Liebeswerke sind‘s, die uns nachfolgen in die Ewigkeit, und die uns dort Zinsen tragen sollen über Bitten und Verstehen, die aber auch ein böses Defizit aufweisen können zu unsrer furchtbaren Überraschung und unsrem ewigen Schaden.
Und doch, bleiben uns nicht da noch allerlei Fragen übrig? Sollte denn wirklich an solch einzelnen Werken, an solch äußerlichem Tun und Lassen der ganze Wert oder Unwert unsres Lebens, sollte daran unsre ewige Seligkeit und Verdammnis hängen? Stimmt das mit unsrem evangelischen Glauben? Stimmt es mit dem Pauluswort: Nicht aus den Werken, auf dass sich nicht jemand rühme? Stimmt es mit anderen Aussprüchen aus Jesu eigenem Mund?
Solche Fragen können einem denkenden Christen wohl aufsteigen beim Lesen oder Hören unsres heutigen Evangeliums. Aber ein denkender Christ wird auch die Antwort darauf nicht vergebens suchen. Auch wir wollen uns jetzt die Frage vorlegen:
Wie müssen unsere Liebeswerke beschaffen sein, dass wir damit bestehen können im Lichte der Ewigkeit?
Die evangelische Antwort lautet:
- Ihr Grund muss sein der rechte Liebessinn;
- Ihr Zweck muss sein das wahre Menschenwohl;
- Ihr Lohn muss sein ein reiner Gnadenlohn.
Weh, wie wird‘ ich Armer stehen,
Wen zum Anwalt mir erflehen,
Wenn Gerechte schier vergehen?
Hehrer König, Herr der Schrecken,
Gnade nur deckt unsre Flecken,
Gnade, Gnade lass mich decken! Amen.
Wie müssen unsre Liebeswerke beschaffen sein, dass wir damit bestehen können im Lichte der Ewigkeit? Die evangelische Antwort lautet:
1) Ihr Grund muss sein der rechte Liebessinn;
die echte Liebe zu den Brüdern - wie sie wurzelt in der Liebe zum Herrn.
Hungrige speisen und Durstige tränken; Nackte kleiden und Kranke besuchen; Gäste beherbergen und bei Gefangenen einkehren, wenn daran die ewige Seligkeit hängt, dann könnte man denken, wird die heutige Christenheit glänzend bestehen am Tage des Gerichts, denn diese Liebeswerke alle - wann sind sie eifriger, wann sind sie vollständiger betrieben worden als in unsrer Zeit mit ihren Anstalten für wohlfeile Speise und gesunden Trank der Bedürftigen, mit ihren Vereinen für Bekleidung der Armen und zu Besuchen bei Kranken, mit ihren Herbergen für Heimatlose und ihrer Fürsorge für Strafgefangene? Ja, wenn es nur darauf ankommt am Tage des Gerichts, dann wären wohl wenige unter uns, die nicht einen Platz zur Rechten des Herrn hoffen und ein Lob aus seinem Munde erwarten dürften; denn wer unter uns hätte von solchen Liebeswerken nicht auch dies und jenes aufzuweisen in seinem Leben oder könnte nicht im schlimmsten Fall von heut an, ja in seinem letzten Willen auf dem Sterbebett durch eine milde Stiftung da noch Vieles nachholen.
Gewiss, solche Werke der Barmherzigkeit sollen nicht unterschätzt und unsrer Zeit im Ganzen, und so manchem Mann und so mancher Frau unsrer Zeit insbesondere soll das Lob ihrer Liebesarbeit nicht entleidet und die Lust zu ihrem löblichen Tun nicht verkümmert werden - da sei Gott vor! Nur vergiss nicht, lieber Christ: Der, welcher über deine Liebeswerke zu Gericht sitzt, ist eben derselbe, der über die Almosen der Pharisäer das Urteil sprach: Sie haben ihren Lohn dahin, und frage dich: ist auch der Grund meines Tuns der rechte Liebessinn?
Ists wirklich aufrichtige Menschenliebe, herzliches Erbarmen mit der Not meiner Brüder, was mich treibt, zu helfen wo ich kann? Oder ists oft nur die pharisäische Rücksicht auf das Urteil der Leute, was mir die Hand führt, wenn ich vielleicht widerwillig meinen Namen einzeichne in das Sammelbuch? Ists oft nur der selbstsüchtige Wunsch, den Armen los zu sein, was mich treibt, ihn so schnell als möglich abzufertigen mit einem Stück Geld oder Brot, oder Kleid? - Dass solche hingeworfene Liebesgaben, solche lieblose Liebeswerke nicht zu denen gehören, von denen es heißt: Selig sind die Toten die in dem Herrn sterben, sie ruhen von ihrer Arbeit und ihre Werke folgen ihnen nach, das sagt jedem sein christliches Gewissen.
Aber jene aufrichtige Menschenliebe, jenes herzliche Erbarmen - wie kann ich‘s denn immer in Bereitschaft haben für jeden Armen, der mir vielleicht ganz fremd ist, der mir vielleicht recht unbequem in den Weg tritt, ja dem vielleicht neben der Not auch die Schuld recht abstoßend auf der Stirn geschrieben steht? Da gibts nur Einen Weg, er ist angedeutet in den Worten des Herrn: „Was ihr getan habt an dem geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Du musst in dem Leidenden einen Bruder des Herrn sehen; anders ausgedrückt: deine Menschenliebe muss wurzeln in der Liebe zu deinem Gott und Heiland. Wir wollen‘s nicht übersehen, liebe Freunde: unsrem heutigen Evangelium gehen in demselben Textkapitel noch zwei große Gleichnisse voran die ebenfalls handeln von der Zukunft des Herrn zum Gericht, das Gleichnis von den zehn Jungfrauen und das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden. Diese beiden Gleichnisse sagen uns, wie wir zum Herrn stehen müssen, wenn wir vor ihm bestehen. wollen am Tag des Gerichts. In unsrem Herzen muss die stille Flamme des Glaubens und der Liebe zu ihm brennen und in unsrem Leben müssen wir mit unserm Pfund ihm dienen so gut wir können. Was dort der Herr von den Seinen verlangt, das brennende Öl in den Lampen, die stetige Flamme des lebendigen Glaubens und inniger Liebe für ihren Heiland im Herzen, und das treuverwaltete Pfund in den Händen, der redliche Fleiß im Dienste des Herrn unsres Gottes, - dieses beides tut ebenso not am Tage des Gerichts wie die Liebeswerke gegenüber dem Nächsten, ja es geht ihnen voran, es legt für sie erst den rechten Grund.
Wenn in deinem Herzen die stille Flamme eines lebendigen Glaubens und einer innigen Liebe für deinen Gott und Heiland glüht, dann nur, aber dann gewiss wirst du um seinetwillen auch seine und deine Brüder lieben. Wenn du alles, was du hast und bist, betrachtest als ein vom Herrn anvertrautes Pfund, dann wirst du mit diesem Pfund auch treu haushalten in seinem Dienst zum Besten derer, unter die er dich hineingestellt hat. Wenn du deinen Heiland im liebenden Herzen trägst, deinen Gott gewissenhaft vor Augen hast in all deinem Tun, dann wirst du nicht nur hie und da einmal in guter Laune dem Armen etwas hinwerfen von deinem Überfluss, sondern dann wird dein ganzes Leben eine Liebesarbeit werden im Dienste Gottes und der Menschen. Dann wirst du dir nicht nur das Leichtere heraussuchen von jenen Liebeswerten: Hungrige speisen, Durstige tränken, Nackte kleiden; dann wirst du Trieb und Geschick auch zum Schwereren finden: Kranke besuchen, Verlassene aufnehmen, Gefangenen die Bruderhand reichen; dann wirst du auch hinter dem abstoßenden Gesicht eines an Leib und Seele verkommenen Menschen das milde Antlitz deines Heilands sehen, der gekommen ist zu suchen und selig zu machen das verloren ist und der dich bittet: tu's mir zu lieb; was ihr getan habt dem Geringsten unter meinen Brüdern, das habt ihr mir getan!
Sagt selbst, welche Kreise sind es denn und was für Leute sind es zumeist, die am reichlichsten ihre Opfer geben, am treulichsten ihre Hand bieten, am tüchtigsten ihren Mann stellen, am häufigsten auch ihre Frauen und Töchter schicken zu diesen Werken christlicher Barmherzigkeit an Armen und Kranken, an Kindern und Alten, an Verwahrlosten und Gefallenen? Sind es nicht die christlichen Kreise? Sind es nicht die Leute, die an Gott glauben und Christum lieb haben zum Beweis: die rechte Liebe zu den Brüdern wurzelt in der Liebe zum Herrn?
Und stehen unsre Liebeswerke auf diesem Grund, dann wirds auch am andern nicht fehlen:
2) Ihr Zweck muss sein das wahre Menschenwohl, nicht nur das leibliche, sondern auch und vielmehr noch das geistliche.
Den Hungrigen speisen, den Durstigen stärken, den Entblößten warm kleiden, den Kranken pflegen und den Fremdling beherbergen das sind ja wohl schöne Liebeswerke zu allen Zeiten und unter allen Völkern von Abrahams Tagen bis auf diese Stunde, in der Hütte des roten Indianers im Urwald, wie unter dem Zelte des Arabers in der Wüste. Den tausendfachen leiblichen Nöten steuern unter dem Volk, das ist ja gewiss eine heilige Pflicht, eine wichtige Sorge, ein hohes Verdienst für den einzelnen Christen wie für die christliche Obrigkeit und die christliche Gesellschaft im Großen und Ganzen.
Aber dass mit solcher äußern Hilfe noch nicht alles getan ist auch nur für diese Welt, geschweige denn für die Ewigkeit; dass unsre Liebespflicht und unsrer Brüder Wohl noch mehr erfordert als solche leibliche Handreichung - das hat unser Herr und Heiland, der göttliche Menschenfreund und Seelenfreund, nicht nur durch sein Beispiel gezeigt, wenn er dem Gichtbrüchigen zurief: dir sind deine Sünden vergeben und den Armen das Evangelium predigte und die Hungrigen in der Wüste mit seinem Wort als dem Brot des Lebens speiste; sondern das können wir auch heute herauslesen aus seiner Rede von der letzten Rechenschaft.
Wenn er‘s den Seinen zum Lobe anrechnet, Kranke besuchen und zu den Gefangenen kommen: was sollen sie denn dem Gefangenen in seine Zelle bringen, wo nicht Trost und Vermahnung aus Gottes Wort? Werden sie wenn sie die Seinigen sind dem Kranken nur eine leibliche Erquickung ans Bett stellen und nicht auch seine Seele zu erquicken suchen mit freundlichem Zuspruch und herzlichem Gebet? Wenn unsre christlichen Vereine ihre Häuser auftun, damit der Arme eine kräftige Speise für sich und die Seinen, der Arbeiter einen gesunden erwärmenden Trank, der Entblößte ein schützendes Gewand für sich oder sein Kind, der heimatlose Lehrling eine Unterkunft für seinen Feierabend, das arme Waisenkind ein Obdach und eine Pflege finde - ists uns bei dem allem nur um die leibliche Hilfe zu tun und nicht ebenso und noch mehr um sittliche Hebung und Bewahrung, um Behütung vor allerlei Bösem, um Erziehung zu allerlei Gutem? Und du selber, wenn dir Gott einen Hilfesuchenden in den Weg führt, wenn du einem Armen eine Gabe reichst, weißt du nicht, dass du noch weit mehr als durch die leibliche Gabe ihm oft wohltun kannst durch eine Ansprache an sein Herz, durch ein Wort liebreicher Nachfrage oder herzlicher Teilnahme, freundlichen Zuspruchs oder ernster Vermahnung, guten Rats oder milden Trosts? Nicht als müsste dabei immer ausdrücklich gepredigt und etwa die milde Gabe durch eine herbe Strafrede versalzen werden. Nein, auch ein einfältiges Wort herzlichen Wohlwollens ohne gesuchte Salbung kann sein Herz rühren, sein Gewissen wecken, seiner Seele wohltun, wenn er nur herausfühlt: du meinst es herzlich gut mit ihm.
Sollte nicht gerade diese Adventszeit das hohe Ziel aller rechten Liebesarbeit uns wieder recht rührend und erhebend vor Augen stellen? Was ist es denn, was den himmlischen Gast, den Heiland der Welt herabrief ins Jammertal dieser Erde? Ist es nicht das geistliche Elend, der sittliche Jammer, die Sündennot der Welt? Und was ist es denn, was der himmlische Gast, der Heiland der Welt herabgebracht hat ins Jammertal dieser Erde? Ist es nicht eine geistliche Hilfe, ein Heil für die Seelen, ein Reich Gottes das da ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist? Und wenn wir mit neuem Eifer beten in dieser Adventszeit: zu uns komme dein Reich; und wenn wir als redliche Diener des Herrn selber mit helfen wollen, dass sein Friedensreich komme in diese arme verstörte Welt; und wenn wir als seine treuen Knechte und Mägde einst mit Freuden vor sein Antlitz treten und zu seiner Rechten stehen wollen an seinem großen Tag: wird nicht dann neben der ersten Pflicht, dass wir ihm Bahn machen in unsrem eigenen Herzen, unsre zweite die sein, dass wir, so viel an uns ist ihm auch den Weg bereiten in der Welt durch jene Liebeswerke, die allein gelten im Lichte der Ewigkeit, deren Zweck ist, das wahre Menschenwohl, nicht nur das leibliche, sondern auch das geistliche?
Und Eines vergesst nicht zum Schluss: sollen unsre Liebeswerke bestehen im Lichte der Ewigkeit, so muss
3) ihr Lohn sein ein reiner Gnadenlohn, nicht in Selbstgerechtigkeit erwartet, sondern in aller Demut empfangen.
„Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, erbt das Reich das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt.“ So lautet der Spruch des Weltrichters über die Seinen, womit er ihnen die Tür auftut zu einer seligen Ewigkeit und sie als treue Knechte eingehen heißt zu ihres Herrn Freude.
Aber wie vernehmen sie diesen Spruch, wie empfangen sie diesen Lohn? Vernehmen sie ihn als ein längst erwartetes Urteil? Empfangen sie ihn als einen wohlverdienten Sold? Nein - und das ist ein besonders schöner und zarter Zug in diesem großartigen Gemälde - überrascht, beschämt, erschrocken fast fragen diese guten Seelen: Herr, wann haben wir dich gespeist und getränkt, gekleidet und beherbergt, gepflegt und besucht? Womit haben wir solch ein hohes Lob, solch einen herrlichen Lohn verdient? Unbekannt mit ihrem eigenen Wert, gebeugt von ihrer unverdienten Ehre, geblendet von ihrem unverhofften Glück, mit demütig gesenktem Haupt, wie selig Träumende gehen sie ein durch die strahlenden Tore des geöffneten Himmels.
Was lernen wir daraus? Das wollen wir daraus lernen, meine Lieben: Sollen unsre Liebeswerke wohlgefällig sein vor dem Herrn und bestehen im Lichte der Ewigkeit, so darf keine Lohnsucht daran kleben, als könnten wir uns damit eine Staffel in den Himmel erbauen; so darf kein Hochmut sich dran hängen, als hätten wir uns damit ein Verdienst erworben - vor den Menschen oder gar vor dem alleinguten und vollkommenen Gott.
Wenn wir mit solchen Gedanken an unsre Liebesarbeit gingen und auf unsre guten Werke blickten, dann wären wir dem Spruch des Herrn über die Pharisäer verfallen: Sie haben ihren Lohn dahin; dann würden wir in jene unevangelische Werkheiligkeit zurücksinken, gegen die unsre Kirche das Evangelium wieder auf den Leuchter gesteckt hat von der freien, alleinseligmachenden Gnade nach dem Pauluswort: Aus Gnade seid ihr selig worden durch den Glauben und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es, nicht aus den Werken, auf dass sich nicht jemand rühme. (Eph. 2.)
Nun denn, lieber evangelischer Christ, - o lieb' so lang du lieben kannst; tue Gutes so lang du lebst; tue Gutes insbesondere auch in der bevorstehenden Festzeit zum Dank für die Liebe deines Gottes und Heilands; tue Gutes, wenn du kannst noch auf deinem Sterbebett, in deinem letzten Testament, dass über deinem Grabe noch ein herzliches Vergelts Gott für dich gen Himmel töne aus dankbaren Herzen! Aber vergiss nicht das Wort des Herrn: Wenn ihr alles getan habt was euch befohlen ist, so sprechet: wir sind unnütze Knechte, wir haben getan was wir schuldig waren, und bekenne es in Demut: nein, wir haben nicht einmal unsre ganze Schuldigkeit getan, mit all unsern guten Werken können wir unsrer Sünden Menge nicht zudecken, bei allem Lob der Menschen mangeln wir des Ruhmes den wir vor Gott haben sollten, und haben keine Hoffnung denn seine Barmherzigkeit, und wollen keinen Lohn außer den er aus Gnaden uns gibt. Solchen Sinn rechter Liebe und herzlicher Demut wollest du selbst in uns pflanzen, Herr unser Heiland, damit wir als deine treuen Knechte und Mägde eingehen zu unsres Herrn Freude.
Was ich den Deinen hier getan,
Den Kleinsten auch von diesen,
Das siehst du, mein Erlöser, an,
Als hätt' ich‘s dir erwiesen,
Drum gib mir, Herr, durch deinen Geist
Ein Herz das dich durch Liebe preist!
Amen.