Gerhard, Johann - Heilige Betrachtungen - Von der Flucht des gegenwärtigen Lebens.

Gerhard, Johann - Heilige Betrachtungen - Von der Flucht des gegenwärtigen Lebens.

Was ist das Leben der Menschen? Ein Zylinder.

Bedenke, andächtige Seele, das Elend und die Flucht dieses Lebens, damit dein Herz erhoben werde zur Sehnsucht nach dem himmlischen Erbteil. Während dieses Leben zunimmt, nimmt es zugleich ab; während es vermehrt wird, wird es zugleich vermindert: was zu ihm hinzu kommt, das geht auch zugleich von ihm ab. Ein Punkt von Zeit ist es, was wir leben, und noch weniger als ein Punkt; indem wir uns umdrehen, wird die Ewigkeit da sein. Wir sind im Leben gleichwie in einem fremden Haus. Abraham hatte in dem Lande Kanaan kein Grundstück zum Wohnen, sondern nur ein Erbbegräbnis 1 Mos. 23,4 ff.: so ist das gegenwärtige Leben der Ort der Herberge und des Begräbnisses. Der Anfang dieses Lebens ist sofort der Eingang des Todes. Unser Leben ist einem Schiffenden ähnlich; wer schifft, er stehe nun, oder sitze, oder liege, der kommt immer näher hinzu zum Hafen, und nimmt den Lauf dahin, wohin er vom Lauf des Schiffes geführt wird: so werden auch wir, wir wachen nun, oder wir schlafen; wir liegen nun, oder wir wandeln; wir wollen nun nicht, oder wir wollen, durch die Augenblicke der Zeit immer hin zum Ende geführt. Dieses Leben ist vielmehr Tod, weil wir alle Tage sterben, wiefern wir nämlich alle Tage etwas von unserem Leben wegnehmen. Dieses Leben ist voll Schmerzes im Betreff der Vergangenheit, voll Mühe im Betreff der Gegenwart, voll Angst im Betreff der Zukunft. Der Eingang in dieses Leben ist kläglich, weil das Kind mit Tränen das Leben beginnt, gleich als sähe es das künftige Elend voraus; der Fortgang ist mühselig, weil viele Krankheiten anfechten, viele Sorgen ängsten; der Ausgang ist schrecklich, weil wir nicht allein ausgehen, sondern unsere Werke zugleich mit uns ausgehen Off. 14,13, und wir durch den Tod ausgehen zu dem strengen Gericht Gottes Ebr. 9,27. Unsere Empfängnis ist Schuld, unsere Geburt Elend, unser Leben Strafe, unser Tod Angst. In Sünden werden wir gezeugt, in Finsternissen genährt, in Schmerzen geboren. Vor der Geburt sind wir eine Last der elenden Mütter, bei der Geburt zerfleischen wir sie nach Art der Schlangen. Wir sind Ankömmlinge durch die Geburt und Einwohner durchs Leben, weil wir durchs Sterben gezwungen werden zu wandern. Der erste Teil unseres Lebens weiß nichts von sich, der mittelste wird mit Sorgen belastet, der letzte durch beschwerliches Alter gedrückt. Alle Zeit des Lebens ist entweder gegenwärtig, oder vergangen, oder zukünftig. Verwesung sind wir im Entstehen, eine Wasserblase im ganzen Leben, eine Speise der Würmer im Tod. Erde tragen wir an uns, auf Erde wandeln wir, Erde werden wir sein 1 Mos. 3,19. Die Notwendigkeit der Geburt ist verächtlich, die zu leben elend, die zu sterben bitter. Unser Leib ist eine irdische Behausung, in der der Tod und die Sünde wohnen, welche alle Tage an jener zehren.

Unser ganzes Leben ist ein geistlicher Streit Hiob 7,1: oberwarts halten die bösen Geister zum Verderben Wache, zur Rechten und zur Linken liegt die Welt zu Feld; unterwarts und innerlich bereitet das Fleisch Gefahr. Ein Streit ist das Leben des Menschen, weil in ihm ein fortwährender Kampf des Fleisches und Geistes ist Gal. 5,17. Wie könnte es daher eine wahre Freude des Menschen in diesem Leben geben, da es ihm kein sicheres Glück gibt? Wie kann etwas von dem Gegenwärtigen uns zur Ergötzung gereichen, da, während alles vergeht, doch das nicht vergeht, was uns bedroht; da das ganz zu seinem Ende kommt, was wir lieben, und das immer näher rückt, wo der Schmerz niemals aufhört? Der Gewinn eines längeren Lebens ist für und der, dass wir mehr Böses tun, mehr Böses sehen, mehr Böses leiden: das nützt uns ein längeres Leben, dass im letzten Gericht die Anklage der Sünden großer ist.

Was ist der Mensch? Eine Beute des Todes, ein Wanderer, der herbergt, leichter als eine Wasserblase, kurzer als ein Augenblick, eitler als ein Bild, geringer als ein Schall, zerbrechlicher als das Glas, veränderlicher als der Wind, flüchtiger als ein Schatten, trügerischer als ein Traum. Was ist dieses Leben? Ein Warten auf den Tod, ein Schauplatz von Missgeschick, ein Meer von Elend, ein Röselchen Bluts, das jeder beliebige Zufall erschüttert, jedes noch so geringe Fieber zersprengt. Der Lauf des Lebens ist ein Irrgang; in denselben treten wir ein, so wie wir aus der Mutter Leib kommen, aus ihm treten wir heraus, wenn wir die Schwelle des Todes überschreiten. Wir sind nichts als Erde, die Erde aber ist nichts als Rauch; der Rauch aber ist nichts, darum sind wir nichts. Die es Leben ist zerbrechlich wie Glas, dahin eilend wie ein Strom, elend wie ein Streit, und doch erscheint es vielen sehr begehrenswert. Eine wertvolle Nuss scheint dieses Leben dem Äußeren nach zu sein, aber wenn du sie mit dem Messer der Wahrheit öffnest, so wirst du sehen, dass sie nichts in ihrem Inneren birgt als Würmer und Verwesung. Um die Gegend herum, wo sonst Sodom stand, reifen Äpfel, welche durch äußere Schönheit ergötzen, aber, wenn man sie zerdrückt, in Staub vergehen: das Glück dieses Lebens ergötzt äußerlich, betrachtest du es aber ernst und nüchtern, so wird es dem Rauch und Staub ähnlich erscheinen.

Darum, andächtige Seele, wolle nicht den Hauptinhalt deiner Gedanken auf dieses Leben beziehen, sondern sehne dich immer mit deiner Seele nach der ewigen Freude. Vergleiche den so kurzen Raum von Zeit, der in diesem Leben und vergönnt wird, mit den unbegrenzten und niemals zu beschränkenden Jahrhunderten der Ewigkeit, und es wird offenbar werden, wie töricht es ist, diesem so flüchtigen Leben anzuhangen, das ewige aber nichts zu achten. Sehr flüchtig ist dieses unser Leben, und doch wird in ihm das ewige Leben erlangt oder verloren. Sehr elend ist dieses Leben, und doch wird in ihm die ewige Seligkeit erlangt oder verloren. Voller Trübsale ist dieses Leben, und doch wird in ihm die ewige Freude erlangt oder verloren. Verlangst du darum nach dem ewigen Leben, so sehne dich in diesem vergänglichen Leben mit dem ganzen Herzen nach ihm. Brauche der Welt, aber dein Herz hänge nicht an die Welt. Richte in diesem Leben deine Sachen aus, aber deine Seele sei nicht an dieses Leben geheftet. Der äußere Gebrauch der weltlichen Dinge schadet nicht, wenn nur die innere Liebe diesen nicht anhangt. Im Himmel ist das Vaterland, in der Welt die Herberge; darum lass dich von der alltäglichen Herberge nicht so anziehen, dass du von dem Verlangen nach dem himmlischen Vaterland abgezogen wirst. Dies Leben ist das Meer, das ewige der Hafen; lass dich nicht von der augenblicklichen Stille des Meers so anziehen, dass du nach dem Hafen der ewigen Ruhe nicht ausschaust. Dieses Leben eilt dahin, und hält seinen Liebhabern keine Treue, weil es oftmals wider alles Erwarten von ihnen flieht: warum willst also du ihm Vertrauen schenken? Es ist gefährlich, wenn du dir die Gewissheit auch nur einer Stunde mit Zuversicht versprichst, denn sehr oft endet sich in jener einen Stunde dieses überaus flüchtige Leben. Das Sicherste ist, jede Stunde das Ende dieses Lebens zu erwarten und auf dasselbe in ernster Buße sich bereiten. In dem Kürbis, daran Jonas seine Freude hatte, verschaffte der Herr einen Wurm, dass er verdorrte Jon. 4,7: so gibt es in weltlichen Dingen, denen viele mit Liebe anhängen, nichts Beständiges, sondern zerstörende Würmer haben darin die Stätte ihrer Geburt. Die Welt ist bereits durch so großes Verderben aller Dinge erschüttert, dass sie auch den Schein der Verführung verloren hat; denn so sehr die zu loben und zu preisen sind, welche gewürdigt sind, mit der blühenden Welt zu blühen, eben so sehr sind die zu tadeln und anzuklagen, denen es Freude macht, mit der zu Grunde gehenden Welt zu Grunde zu gehen.

Wende, o Christe, unsere Herzen ab von der Liebe dieser Welt, und wecke in uns das Verlangen nach dem himmlischen Reich!

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