Frommel, Max - Am Sonntage Sexagesimä.

Frommel, Max - Am Sonntage Sexagesimä.

„Eins bitte ich vom Herrn, das hätte ich gern, dass ich im Hause des Herrn bleiben möge mein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und seinen Tempel zu besuchen“ das ist die Stimmung, mit welcher Israel nach der Wohnung Gottes unter seinem Volk, nach der Stätte seiner Offenbarung, nach der Zuflucht aller Betrübten Verlangen trug, und wenn ein anderer Sänger in der Wüste sein Klagelied anstimmt, so steigert sich der Schmerz der Verlassenheit zu einer Klage um das Fernesein vom Tempel in den Worten: „Wenn ich dann des innewerde, so schütte ich mein Herz heraus bei mir selbst; denn ich wollte gern hingehen mit den Haufen und mit ihnen wallen zum Hause Gottes, mit Frohlocken und mit Danken unter den Haufen, die da feiern.“

Welch eine Liebe zum Hause Gottes, welch eine Freude am Kirchgang spricht doch aus diesen Liedern des Alten Bundes! Wohl war die Stiftshütte und Salomos Tempel in einem andern Sinne eine heilige Stätte als unsere gottesdienstlichen Gebäude. Seit der Siegesruf erschollen: „Es ist vollbracht!“ ist der Vorhang vor dem Allerheiligsten zerrissen; denn das Eine Opfer ist gebracht auf ewig, unser ewiger Hoherpriester ist Christus zur Rechten. Gottes, unser großer Brandopferaltar ist das Kreuz auf Golgatha, wir beten nicht an zu Jerusalem noch zu Garizim, sondern im Geist und in der Wahrheit. Der alte Tempel ist in Schutt und Asche gesunken, und fortan ist keine Stätte auf Erden heiliger als die andere, die Kirche nicht heiliger als das Kämmerlein. Dennoch haben wir nicht weniger, sondern mehr als die Frommen des Alten Bundes. Die Gemeinde Jesu Christi ist zum Tempel des Heiligen Geistes geworden, und unter Wort und Sakrament naht ihr der Herr und hat verheißen: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Darum wo die Gemeinde sich sammelt um sein Wort und Sakrament, da ist heilige Stätte, da will Gott wohnen unter seinem Volk, da ist sein Tempel mit dem goldenen Leuchter seines Worts, mit dem Rauchaltar des Gebets, mit der Bundeslade des Sakraments, mit dem Dienst seines ewigen Hohenpriesters und mit den Lobgesängen seiner Kinder.

Meine Lieben, ist denn uns allen der Gottesdienst eine solche Stätte? Ist für uns alle der Kirchgang eine so selige, freudenreiche Sache wie für die Sänger jener Psalmen? Mit dieser Frage im Herzen lasst uns den Text vernehmen, welcher geschrieben steht:

Lukas 2, 25-32.
Und siehe, ein Mensch war zu Jerusalem, mit Namen Simeon, und derselbe Mensch war fromm und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war in ihm. Und ihm war eine Antwort geworden von dem heiligen Geist, er sollte den Tod nicht sehen, er hätte denn zuvor den Christ des Herrn gesehen. Und er kam aus Anregen des Geistes in den Tempel. Und da die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, dass sie für ihn täten, wie man pflegt nach dem Gesetz, da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden, und zum Preise deines Volkes Israel.“

Unser Text führt uns in die Tempelhallen Jerusalems und zeigt uns das Bild des greisen Simeon, der über dem Jesuskinde auf seinen Armen zum begeisterten Propheten wird und von dessen Lippen jenes unsterbliche Lied gesungen wird, das seitdem durch die Jahrhunderte erklingt. Beim Anblick dieses ergreifenden Bildes lasst uns fragen:

Wie kommen auch wir zu so freudenreichem Kirchgang wie Simeon?

und antworten aus unserm Text:

Wenn unser Ohr das Simeonsglöcklein hört, wenn unser Auge in Christo den Heiland sieht, wenn unser Herz über Ihn froh wird fürs Leben und fürs Sterben.

Lieber himmlischer Vater, der Du sprichst: „Der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meiner Füße Schemel, was wollt ihr mir denn für ein Haus bauen, und wo ist die Stätte, da ich ruhen soll?“ der Du wohnst in den zerbrochenen Herzen und hast unsere sündigen Seelen erkoren zur Stätte Deiner seligen Ruhe, wir bitten Dich: lass uns auch heute Deine Nähe innewerden, reinige uns vom Staub der Erde und von der Befleckung der Sünde und weihe Dir unser Herz zu Deinem Tempel und zur Wohnung durch Deinen Geist. Amen.

I.

„Simeon kam auf Anregen des Geistes in den Tempel“ hier liegt das Geheimnis seines Kirchgangs. Nicht eherner Glocke Ton hatte ihn zum Hause Gottes gelockt, sondern das wundersame Läuten des Heiligen Geistes hatte er vernommen, und dem Zuge des Geistes war er gefolgt. Meine Lieben, kennt ihr dies Simeonsglöcklein, das bald leiser, bald lauter erklingt? Es läutet schon am Feierabend zuvor den lieben Sonntag ein; aber Viele hören das stille Läuten nicht, im Gegenteil, sie richten sich so verkehrt am Sonnabendabend ein, dass sie am Sonntag gar nicht zur Kirche kommen können. Es läuten am Sonntagmorgen die Glocken zur Kirche mit ihrem feierlichen Klang, und wem das Ohr geöffnet ist, der vernimmt darin das Läuten des Geistes und den Glockenton von Oben, der jedem Christen ins Herz ruft: „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser denn sonst tausend.“ Aber Viele hören das helle Läuten nicht. Warum denn? Ich rede nicht von denen, welche eine tiefe innere Scheu vor der Kirche haben, weil sie fühlen, dass Alles, was hier vorgeht, Gesang und Gebet, Wort Gottes und Abend mahl, sie beunruhigen würde; weil die Himmelsluft, die hier weht, unbewusst ihren irdischen Sinn straft, oder weil das Brandmal in ihrem Gewissen die Berührung mit dem Heiligen nicht erträgt; sondern ich rede zu denen, welche eigentlich zugeben, dass das Gotteshaus der Sammelplag der Christen sein sollte, die aber zu uns Predigern wie dort im Gleichnis sprechen: „ich bitte dich, entschuldige mich.“ Aber die Glocken, die des Morgens und die des Abends zur Kirche läuten, die werden sie beschuldigen und verklagen; denn in ihrem Klang tönt etwas von der wehmütigen Rede Christi: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“

Warum wollen sie denn nicht? Gestehen wir es doch offen: es ist so Manchem nicht mehr wohl in der Kirche, er fühlt sich hier nicht mehr daheim, es zieht ihn nicht mehr zu der Gemeinde und ihrem Gottesdienst. Wenn es zwölf Uhr schlägt und die Schule ist aus, da sehe ich so manchen Schüler und Schülerin, Groß und Klein, fröhlich und rasch die Straße dahineilen. Was macht die Gesichter so froh und die Füße so behänd? Sie eilen ins Vaterhaus, sie freuen sich auf des Vaters Tisch und der Mutter Freundlichkeit da ist ihnen wohl, auch wenn das Haus nicht stattlich und der Tisch nicht köstlich ist. Meine Lieben, so will das Simeonsglöcklein des Geistes Gottes durch sein stilles Läuten uns erinnern, dass wir an der Kirche das Vaterhaus und am Altar den Tisch des Herrn und an der Kanzel die Stätte haben, wo Gott Einen tröstet, wie Einen seine Mutter tröstet. Wer nun auf das Anregen des Geistes kommt, dem wird der Kirchgang ein seliger Gang; am Sonnabendabend heißt es in seinem Hause: „Wisset ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vaters ist?“ und Sonntag früh in seinem Herzen: „Ich freue mich des, das mir geredet ist, dass wir werden ins Haus des Herrn gehen;“ da wird Einem hier wohl ums Herz wie unter Elims Palmen und an seinen Wasserbrunnen. Und wenn die Schulferien im Anzuge sind und die auswärtigen Schüler dürfen heim, so zählen sie heimlich die Tage, bis die Schule aus ist, und das Herz lacht ihnen im Leibe, wenn sie sich auf den Weg machen zu der Eltern Haus und in der Geschwister Mitte. Meine Lieben, der Sonntag ist die Ferienzeit der Woche, wo die Berufsarbeit ruht und die Schule des Werktags schließt; hier ist das Vaterhaus und hier die Gemeinschaft der Brüder und Schwestern in Christo, und wer diesen Blick hat aus Anregen des Geistes, der freut sich, dass er einmal doch in der Woche, eine Stunde doch am Sonntag ruhen darf unter dem Schatten des Allmächtigen, ruhen als Küchlein unter den Fittigen der Gluckhenne, ruhen als Kind im Schoße seines Abbavaters.

Was ist denn dies arme Leben mit all seinem Jammer und verborgenen Weh, mit seinem Schmerz und seinen Tränen, mit seinen Kämpfen und mit seinen Gräbern ohne Trost aus Gott? Was ist das Leben des reichen Mannes alle Tage herrlich und in Freuden, was sind jene Vergnügungen und Anstrengungen zur Lustigkeit ohne die Ahnung von der tiefen quellhaften Freude in Gott? Ja, auch das pflichttreuste Berufsleben mit all seiner Mühe und Arbeit, es vermag doch deine unsterbliche Seele nicht zu sättigen und ihren Durst nach lebendigem Wasser nicht zu stillen, und Gott dankt dir es nicht, wenn du in selbsterwählter vermeintlicher Berufstreue dich um den Segen bringst, den er dir sonntäglich zugedacht.

Darum, wenn am Sonntagmorgen es in deinem Gemüte heißt: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen,“ so folge solchem Anregen des Geistes und komme eilends. Denn wessen Ohr das Simeonsglöcklein vernimmt und folgt dem Zuge des Geistes, der soll solch freudenreichen Kirchgang erleben wie Simeon.

II.

Simeon tritt in den Tempel und sieht Maria mit dem Kinde; mit geistgeöffnetem Auge erkennt er in dem Kinde den Messias, den Gott seinem Volke verheißen. Ihn hindert nicht die Kindesgestalt noch die arme Hülle der Knechtsgestalt, so wenig sie die Engel vom Himmel und die Hirten vom Felde und die Weisen aus dem Morgenlande hinderten, in ihm den Gottessohn und König von Israel zu erkennen; frohlockend nimmt er ihn auf seine Arme und singt: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“

Soll dein Kirchgang ein freudenreicher werden, so muss dein Auge den Heiland sehen. Simeon nennt ihn den Heiland Gottes, denn Gott hat ihn zum Heiland der Welt gemacht, wie Paulus sagt: „Christus ist uns von Gott gemacht zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung.“ Christus ist die Summa der Friedensgedanken Gottes über uns, Er der Welterlöser und der Weltenrichter, an welchem alle Herzen und Gedanken offenbar werden, Er das Licht der Welt und der Arzt der Seelen, Er der Sohn Gottes und der Vater der neuen Menschheit, durch seinen Kreuzestod der Sünder Heiland und durch seine Auferstehung der ewige Friedefürst. Von diesem Heiland Gottes und seinen unausforschlichem Reichtum zeugt seine Kirche fort und fort und wird nicht müde, allen Völkern zu predigen, dass in Christo die Wahrheit und das Leben ist und außer Ihm, ohne Ihn Irrtum und Tod. Sie hat es gepredigt den gebildetsten Kulturvölkern des Altertums wie den fortgeschrittensten Nationen der Festzeit, den Griechen wie den Germanen, den Gelehrten wie den Unmündigen; sie bekennt Allem, was Mensch heißt, dass in Christo die höchste Weisheit und die tiefste Kraft, die höchste Schönheit und die wahre Sittlichkeit für uns beschlossen liegt, dass in Christo das Geheimnis der Weltschöpfung, Welterlösung und Weltvollendung uns vom Vater offenbart ist. Lasst der Schule und ihrer Wissenschaft, was der Schule ist, lasst den Männern des Staates, was des Staates ist, die Kirche wird, so lange ein Odem in ihrer Brust ist und sie sich nicht selbst aufgibt, nicht aufhören, in das irrende, sündigende, sterbende Geschlecht hineinzurufen: Es ist in keinem Andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darin wir sollen. selig werden.“ Darum kein Gottesdienst, da man nicht in seinem Namen zusammenkäme, kein Kirchenlied und kein Kirchengebet, das nicht seinen Namen priese, keine Predigt, die nicht Ihn zum Mittelpunkt haben sollte, keine Taufe und kein Abendmahl, da die Gemeinde nicht Ihn in seiner holdseligen Gnade nahen sehen dürfte. Denn der tiefste Rat Gottes und die höchste Krone seiner Liebe steht darin, dass Er uns seinen Sohn gegeben hat, dass wir durch ihn leben sollen.

Manche finden, die Predigt sollte mehr Neues bieten. Wenn darin auch die Wahrheit liegt, dass uns Predigern vom Herrn gesagt ist: „Ein jeglicher Schriftgelehrter, zum Himmelreich gelehrt, bringt hervor aus seinem Schatze Neues und Altes“, nämlich das Neue immer im Zusammenhang des Alten und das Alte immer in der frischen Gestalt des Neuen, so darf doch daran erinnert werden, dass die Apostelgeschichte von den Atheniensern erzählt: „Sie waren begierig, allezeit etwas Neues zu sagen oder zu hören,“ dagegen von den Berrhoensern: „Sie nahmen das Wort auf ganz willig und forschten täglich in der Schrift, ob sich's also hielte.“ Willst du einen gesegneten Kirchgang haben, so musst du nicht als ein Athenienser kommen, der stets etwas Neues hören will, sondern als ein Berrhoenser, der von Neuem aus der Schrift seines alten Heilandes froh und gewiss werden will. Denn wenn du Christum hörst in der Kirche und mit Glaubensaugen siehst im Wort, so hast du das gesehen und gehört, was das Allerälteste und zugleich immer Neueste ist. Denn Er ist Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit. Sag an, hast du dich in deinem Leben schon beklagt, dass an jedem Morgen die alte Sonne immer wieder aufgeht? Wenn die Strahlen der Sonne, die nun schon seit Jahrtausenden scheint, so hell und froh in dein Haus und Herz fielen, war dir's nicht, als hätte sie noch nie so schön geschienen als gerade heute? Siehe, die alte Sonne und doch täglich neu, die alte Gnade und doch alle Morgen neu, das alte Wort und doch alle Sonntage neu!

„Meine Augen haben deinen Heiland gesehen,“ sagt Simeon. Besseres, Größeres, Tieferes, Höheres konnte Gott der Welt nicht schenken als Christum, seinen eingeborenen Sohn. Diesen Christus predigen wir euch, wie Paulus sagt: „Wir predigen nicht uns selbst, sondern Christum, dass Er sei der Herr, wir aber eure Knechte um Christi willen.“ Sollte ich euch meine eigene armselige Weisheit predigen, nicht eine Stufe stiege ich zu dieser Kanzel herauf, nicht Eines von euch wollte ich einladen ins Gotteshaus zu solcher Hungerkost. Nun ich dir aber Christum bringen darf, das Beste, was der allmächtige Gott für dich hat, das Notwendigste, was du für Zeit und Ewigkeit bedarfst nun will ich getrost hier rufen: „Komm, denn es ist Alles bereit!“

III.

Aber zum Sehen gehören Augen, und zum Glauben gehört ein zerbrochenes Herz, und dein Auge wird in Christo nur dann den Heiland Gottes sehen, wenn es den Heiland deiner kranken Seele in Ihm schaut. Nur so wird Herz und Mund über Ihn froh werden für Leben und Sterben.

Brauchst du einen Heiland, einen Mittler vor Gott, oder rechnest du dich zu den sogenannten gesunden Naturen“, zu den Gerechten, die keines Arztes und keiner Arznei bedürfen? Zwar sagt die Schrift: „Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder,“ aber darin ist ein großer Unterschied, ob ein Mensch dies erkennt und fühlt, oder ob er es sich verbirgt und leugnet.

Meine Lieben, alle Religion hat ihren Mittelpunkt im Opfer, und der erste Gottesdienst auf Erden, von welchem uns die Schrift erzählt bei Kain und Abel, es war ein Opfergottesdienst. Der Mittelpunkt der christlichen Religion ist das einmal gebrachte Sühnopfer auf Golgatha, und all unser Gottesdienst in Zeit und Ewigkeit ist das Eine große Dankopfer aller Heiligen, das aus allen Zeiten und Landen von der Erde zum Himmel aufsteigt. Sühnopfer aber seht Schuld voraus. Wer nun als armer Zöllner, das Schuldbewusstsein im Herzen, in Gottes Haus geht, an seine Brust schlägt und spricht: „Gott sei mir Sünder gnädig!“ und hört nun wieder und wieder, wie Gottes Sohn als Mittler für ihn eingetreten und für ihn sich selbst geopfert und eine ewige Erlösung erfunden hat, und tut nun wie Simeon und nimmt Jesum in seine Glaubenshände und umschließt ihn mit seinen Glaubensarmen und spricht: Du bist mein und ich bin dein der geht wie jener Zöllner gerechtfertigt hinab in sein Haus und sagt mit Simeon: Meine Augen haben deinen Heiland gesehen; der weiß, was er an seinem Kirchgang hat, der kommt wieder und wieder und spricht, wenn er über die Schwelle des Gotteshauses tritt und in seinem Kirchstuhl sein stilles Gebet verrichtet, wie jene Griechen im Evangelium: „Ich wollte Jesum gerne sehen.“ O, meine Lieben, solch ein Gottesdienst, da unser Ohr die Glocke des Geistes gehört, da unser Auge in Christo den Heiland sieht, das ist Flügelschlag der Seele, da sie sich aufschwingt zu den Bergen, von welchen ihr Hilfe kommt; das ist ein Bad der Seele, da sie gereinigt, erquickt und verjüngt aus den Fluten steigt und neue Kraft gewonnen hat, den Pilgerweg zu laufen in den Schranken. des Berufs, in dem Kampf der Arbeit und in dem Weh des Leidens und Sterbens.

Das sehen wir an Simeon. Als sein Auge in Christo den Heiland seiner Seele erblickt hatte, da ward sein Herz und Mund froh fürs Leben und Sterben. Das Jesuskind auf den Armen, heilige Freude auf seinem verklärten Greisenantlitz, hebt er sein Auge heimatwärts, und wes sein Herz voll ist, des geht sein Mund über in seinem Schwanengesang: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren“, ein Gesang, der an vielen Orten der Christenheit gesungen wird, wenn am Altar der Leib und das Blut Christi empfangen worden, ein Lied, das auf den erbleichenden Lippen vieler tausend sterbender Christen als freudvoller Siegeston, als ein seliger Valetsegen und als zuversichtliches Amen erklungen ist.

Meine Lieben, mit diesem Liede im Herzen soll jeder Kirchgang enden. Wer aus Anregen des Geistes gekommen, wessen Auge Christum, seinen Heiland, im Gottesdienst geschaut, der kann singen und spielen dem Herrn in seinem Herzen: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren“, in Frieden hinabgehen in sein Haus; der kann in Kraft der Liebe die Seinen grüßten daheim, kann geben und vergeben, kann tragen und hoffen, kann dulden und leiden, kann mit neuer Kraft, die er an solchem Sonntag in stiller Sammlung erfahren, hineintreten in den Werktag, kann dienen mit neuer Freudigkeit in seinem Beruf und Stand und bewahrt sich unter alledem, was die Woche Schweres bringen. mag, den inwendigen Sabbat der Seele.

Und wie solcher Kirchgang froh macht fürs Leben, so macht er auch stark und bereit zum Sterben. Blick noch einmal auf Simeon, das schöne Bild des ehrwürdigen Greises, der mit dem Jesuskind auf den Armen an die Schwelle des Grabes tritt: die Morgenröte der Ewigkeit umleuchtet sein Antlitz, die Friedensluft Jerusalems droben umweht ihn, mit Adlersfittigen steigt er der Sonne entgegen, er hört im Geist den Wagen Israels und seine Reiter vor seiner Türe halten, um ihn aufzunehmen zu der Fahrt durch die goldenen Gassen, und von seinen bebenden Lippen klingt es wie Sterbesabbat und wie Auferstehungsmorgen: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren.“

Das wollen wir lernen an Simeons freudenreichem Kirchgang: selig leben und selig sterben. Jeder Gang in Gottes Haus sei uns ein Gang nach Pniel, wo uns die Sonne aufgeht und wir mit Jakob sagen können: „Ich habe den Herrn gesehen, und meine Seele ist genesen.“ Aber wer unter uns weiß, was er an seinem Kirchgang hat, der wandele sein Lied in einen Psalm, vorzusingen denen, die es noch nicht wissen. Es darf uns nicht gleichgültig sein, wenn es noch Viele unter uns gibt, welche nicht kommen, welche selten kommen. Wir müssen es als unsere gemeinsame Aufgabe erkennen, ein Jeglicher an seinem Teil, mitzuhelfen, dass Gottes Haus voll werde. Das Bewusstsein muss wieder in uns stark werden, dass wir uns als Eine Gemeinde fühlen und dass jeder Gottesdienst eine Tat der ganzen Gemeinde ist, eine gemeinsame Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, da Gott zu uns naht in Wort und Sakrament, und da wir Ihm nahen im Gebet und Gesang; wo wir uns fühlen als Genossen Eines Hauses, als Glieder Einer Familie, als Kinder Eines Vaters. Ist doch das Gotteshaus fast noch die einzige Stätte auf Erden, wo der Unterschied der Stände zurücktritt, wo Reich und Arm, Hoch und Niedrig, Alt und Jung neben einander sitzt und der Eine vor Gott nicht mehr gilt als der Andere; wo sie dieselben Lieder singen, dasselbe Wort hören, zu demselben Tische nahen und gemeinsam Den anrufen, der der rechte Vater ist über Alles, was Kinder heißt im Himmel und auf Erden; wo der Kampfruf der Parteien schweigt und die Friedenslosung gilt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Weib, sondern sie sind allzumal Einer in Christo Jesu.“

Gottes Geist lehre uns Simeons freudenreichen Kirchgang erfahren, dass wir mit dem Gefühl zur Kirche kommen und mit dem Gefühl aus Gottes Hause gehen, welches im Psalm zu so schönem Ausdruck kommt: „Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt. Ich halte mich, Herr, zu deinem Altar, da man hört die Stimme des Dankens, da man predigt alle deine Wunder.“ Amen.

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autoren/f/frommel_max/frommel_max_-_sexagesimae.txt · Zuletzt geändert: von aj
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