Dräseke, Johann Heinrich Bernhard - Uns fehlt nichts, als der Mut anzufangen.
Am vierten Sonntage der Adventszeit 1811.
Der Blick auf die Menschen, meine Brüder, kann uns bisweilen recht innig zufrieden machen.
Es findet sich nämlich nur selten Einer, der ganz Fremdling im Kreise seiner Pflichten und völlig unbekannt wäre mit seiner sittlichen Bestimmung. Den meisten ist es klar, wozu sie da sind; der Wahrheit heller Tag bescheint ihr Leben.
Wo Licht ist, ist auch Wärme. Daher lässt wenige die Tugend kalt. Den größeren Teil entzückt, begeistert ihre Schönheit. Sie glühen, wenn sie von Edeltaten reden. Ein Herz, das fromm in seine Pflicht sich hingibt, das unbedingt ihr folgt, und ihrem Rufe selbst seine liebsten Freuden opfern kann, es reißt sie hin zu feuriger Bewunderung; und schnell, von Mund zu Munde, fliegt sein Lob.
Und sollten nicht auch sie geneigt sich fühlen zu gleicher Trefflichkeit des Sinnes und des Tuns? Wohl mag es Einzelne geben, denen, in ihrer furchtbaren Entartung, kein guter Vorsatz mehr den Busen hebt: im Ganzen wollen die Menschen doch das Bessere. Sie legen's darauf an. Sie machen Pläne für ihr Wachstum in der Heiligung. Sie freuen sich des neuen Entwurfes, nach welchem, bei irgend einem wichtigen Zeitabschnitt, ihr Leben nun geordnet werden soll. Könnten wir sie nur belauschen in solchen Augenblicken und Zeugen sein von dem Ernste, der sie ergriffen hat, und sehen die tausend Tränen, mit welchen sie der Sünd' absagen, und hören ihr inbrünstig-frommes Flehen um Kraft von oben: wir würden noch lieber sie gewinnen.
Sehen wir dann zu dem Allen, wie talentvoll, wie geschmückt durch vieles Wissen, wie ausgebildet in der Schule der Erfahrung, wie eingeweiht in die Geheimnisse so mancher, das Leben verschönernden, Kunst, und wie fähig demnach sie sind, und wie berufen eben hierdurch, in ihrer Person die Tugend doppelt liebenswürdig und Herzen bezaubernd darzustellen: ja, teuerste Brüder, da werden wir unbeschreiblich froh.
Bleiben wir's aber? hat nicht vielmehr auch dies Bild seine Schattenseite?
Viele kennen des Lebens Ernst und ihrer Pflichten Umfang und Bedeutung; warum aber beobachten denn ihre Schuldigkeit so wenige? Viele sind, wo es einer schönen und großen Sache gilt, teilnehmende Zuschauer, warmherzige Sprecher; warum aber trifft man denn die Täter, die redlich und ausdauernd Hand anlegen, so sparsam an? Viele schreiben sich von Zeit zu Zeit die bewährtesten Regeln für eine neue Lebensordnung vor, wollen Herrliches beginnen, gehen mit den wichtigsten Entwürfen um; warum aber sehen wir denn von diesen allen so selten etwas getan, durchgeführt und vollendet? Viele könnten, wenn sie mit ihren übrigen, vielleicht glänzenden Vorzügen, den stillen, aber köstlichen, den bescheidenen, aber dennoch alles überstrahlenden Schmuck eines frommen Herzens und eines der Tugend geweihten Lebens verbinden wollten, sie könnten ausgezeichnete Menschen sein; sie könnten beglücken und segnen, und gesegnet werden, nah und ferne; warum aber trennen sie denn, „was Gott zusammengefügt hat“? Warum scheiden sie Wissenschaft und Kunst von Religion? Warum schreiten sie fort in Geschicklichkeiten, während sie im Glauben, Lieben, Hoffen ewig zurückbleiben? Warum muss man es als „Zeichen und Wunder“ betrachten, wenn einmal das Schöne mit dem Guten, und das Gute mit dem Schönen, Hand in Hand durchs Leben geht?
Seht, da werden wir wieder traurig, und wälzen das „Warum“ auf und nieder in der bekümmerten Seele.
Lasst uns versuchen, eine Antwort zu finden, meine Brüder. Wird uns die Antwort denn auch nicht ruhiger machen, so kann sie uns doch weiser machen; und Weisheit führt am Ende zur Ruhe zurück.
Um erleuchtete Augen bitten wir Dich, Vater. Lass uns inne werden, was Dein Wille sei. Stärke, kräftige, erneuere Du uns den inneren Menschen, damit wir das Gute nicht nur mit gerührtem Herzen anerkennen, sondern es auch mit heiligem Mute beginnen. Dir sei Anbetung, Preis und Ehre.
Joh. 1,19-34.
„Dies ist des Johannes Zeugnis rc.“
Nicht für den Christus hält sich Johannes, meine Andächtigen. Nicht einmal den Ruhm eines hochgeachteten Propheten aus der Vorzeit wagt er auf seine Person zu übertragen. Schlicht und recht nennt er sich „die Stimme in der Wüste“. Dennoch hat er den Mut, der Herold des Erhabenen zu sein, den sein Volk erwartet, und den er bereits im Geiste geschaut hat. Nicht ein blindes Zutrauen setzt er in seine Kraft und Einsicht; vielmehr bezeugt er: „Der nach ihm komme, stehe über ihm, und er sei nicht wert, ihm seine Schuhriemen aufzulösen“; dennoch hat er den Mut, das große Werk desselben zu beginnen, und den Glauben, dass dieser der Gottessohn sei, in alle Welt zu rufen. Nicht unbekannt ist er mit den Schwierigkeiten, welche die Laster der Nation ihrer Erlösung in den Weg legen dürften; aufgedeckt liegen dem ernsten Beobachter die Gebrechen aller Stände und Klassen. Dennoch hat er den Mut, mit diesem tausendgestaltigen Feinde, vorerst allein in die Schranken zu treten und über kleine und große Sünder erschallt anklagend des Sittenrichters Stimme. Nicht wähnt er vermessen, er bringe auf diese Weise die heilige Angelegenheit zum Ziel; die Hauptsache, er weiß es, könne nur erst vollendet werden, durch den, der da gerüstet sei „mit heiligem Geist zu taufen“. Dennoch hat er den Mut seine „Taufe mit Wasser“ als eine nützliche Bereitung voranzusenden, und kann er auch nicht selbst, als der Heiland, einziehen in die Herzen, ihm wenigstens den Weg zu ebnen und die Pforte zu öffnen. Und er macht nicht nur Entwürfe hierzu in stiller Klause, oder eifert für die Herrlichkeit des Unternehmens an voller Tafel, oder verheißt dem kühnen Beginner eine Belohnung aus reichem Schatze. Da steht er am Jordan, er selbst, und hat angefangen und arbeitet und entbehrt und opfert auf und leistet, was in seiner Gewalt steht.
Ach, dass in jeder Wüste, wo es Berge zu ebnen, in jeder Gesellschaft, wo es etwas aufzuräumen, neben jedem Hause und Herzen, wo es etwas zu ordnen gibt, ein Johannes stände, ein Mensch mit Johannessinn!
Aber das ist es.
Sie erkennen das Gute, sie freuen sich dran, sie beratschlagen darüber; es reift jedoch an diesen Sonnen keine Frucht!! Es fehlt weder an Einsicht, noch an Gefühl, noch an Entwürfen: woran fehlt es?
Vielen Menschen, es ist klar! fehlt, zur Vollendung des Trefflichsten, nichts, als der Mut anzufangen.
Dieser Gedanke liegt heute vor uns. Lasst uns ihm, weil er beides verdient, unsre Aufmerksamkeit schenken und unsre Beherzigung.
Beweisen kann ich euch das nun nicht erst sollen, dass vielen Menschen, zur Vollendung des Trefflichsten, nichts fehle, als der Mut anzufangen. Den Beweis davon erhaltet ihr überall, wohin ihr schaut, es sei in das Leben der Brüder, oder in euer eigenes. Denn, wo alles, was man wünschen kann, beisammen ist, und zum schönen Werke gleichsam bereit liegt; wo der Mensch das Geschäft kennt und seinen Beruf dazu eingesteht; wo er sich gedrungen fühlt, der Arbeit seine Teilnahme und seine Achtung zu widmen; wo er alle die Überlegungen angestellt hat, auf die es dabei ankommt, und überdies, vielleicht, eine Menge liebenswürdiger Talente sich vereinigt, die den Bau zieren, und seiner Zweckmäßigkeit durch Würd' und Anmut die Krone aufsehen können: möget ihr da noch etwas nötig finden, als dass es nun auch heiße: Auf! und ans Werk!?
Eben deshalb aber müssen wir darnach allerdings fragen: warum, nach solchen Vorkehrungen, nun doch nicht angefangen werde?
Die Ursachen dieser Erscheinung sind nicht durchgängig dieselben. Die vornehmsten und gangbarsten indes wollen wir aufzählen.
Ein großer Teil der Menschen fängt nicht an, aus Unentschiedenheit. Bei aller Einsicht nämlich in das sittliche Gesetz, und bei aller Achtung für dasselbe, sind sie noch immer darüber nicht einig mit sich selbst, ob sie ihm folgen wollen. Das sittliche Gesetz besteht darauf, dass alle übrigen Rücksichten, welche es noch etwa zu nehmen gibt, sobald seine Stimme sich erhebt, schweigen, und das Angenehme weiter nicht in Betracht komme, wenn gefragt wird, was recht, was Pflicht sei? Der Mensch möchte aber gern beides verbinden. Während er der Vernunft huldigt, möchte er nicht minder der Sinnlichkeit frönen; während er das Gewissen den Ausschlag geben lässt, möchte er zugleich seine Neigungen befriedigt sehen. Wie weit diese Wünsche auseinander liegen, und wie so ganz verschiedenartig und entgegengesetzt die Dinge sind, die er zu vereinen begehrt, das entgeht ihm nicht. Wirklich schmeichelt er sich mit dem Gelingen seiner Versuche auch nur auf Augenblicke. In seinen hellsten Stunden leuchtet ihm die Unmöglichkeit ein; und dass er sich nicht teilen, dass er nicht Gott und dem Mammon dienen, dass er nicht himmelan das Herz wenden und zugleich in den Dienst der Eitelkeit es verkaufen kann, in Verzweiflung möchte er darüber zuweilen geraten. Soll er nun irgend einmal dieses Schwanken zwischen Wollen und Nichtwollen endigen, und bestimmt für das Eine sich erklären, so findet er den Entschluss nicht. Schon will er den Mund öffnen, aber das Wort stirbt ihm auf der Zunge. Schon will er Hand anlegen, aber eine geheime Macht, die ihn mit unsichtbaren Fesseln bindet, zieht ihn wieder zurück. Wie mag das Schöne, das Göttliche da wirklich beginnen!
O, es gehört nichts dazu, für eine gute Sache in heil'gen Eifer zu geraten, oder selbst Pläne zu entwerfen für eine edlere Lebensordnung. Dergleichen flüchtige Aufwallungen des sittlichen Gefühls sind keinem, auch dem Leichtsinnigsten nicht, unbekannt. Tritt nun aber das Gesetz zu uns her, und macht Ansprüche und tut Forderungen und dringt auf Gehorsam und will Taten sehen, und es ist nun der Entscheidung, wie wir‘s eigentlich meinen, durchaus nicht mehr zu entrinnen: dann spricht das: Ich will! weil es auf einen wirklichen Anfang deutet, sich nicht ohne Mut aus. Der Jüngling wollte auch, der einst zu Jesu mit der Frage kam: „was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe“? Als es aber hieß: „entsage deinen Gütern“! die Probe bestand er nicht. So nahe grenzte sein Wollen an Nichtwollen, und so treffend bewies sich des Meisters Wort: „Wer seine Hand an den Pflug legt, und blickt zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes“1). Hast du den Willen, o Mensch, den wahrhaften, echten Willen; sind sie abgetan, die Rücksichten links und rechts; bist du entschieden, so, dass gegen diese Entscheidung nun nichts mehr in deinem Innern sich zu regen wagt, und alles ehrerbietig verstummt: dann handelst du auch. Segen über dich und alle Menschen in deiner Nähe, wenn du in solchem Geiste beschließt: Ich will mich bessern, ich will dem Einfluss der Begier wehren, ich will Wahn und Leidenschaft bekämpfen, ich will helfen, retten, beistehen, ich will die gute Sache fördern, oder wie Jesus, „ich will, ich will die Menschen erlösen“!
Was fehlt den Menschen zu schönem Werk? Der Mut anzufangen. Und warum haben sie diesen Mut nicht? Weil sie in ihrer Unentschiedenheit den Willen nicht haben, der allein solchen Mut erzeugt.
Bei Manchem kommt noch Langsamkeit hinzu. Alles ist an ihnen schwerfällig, der Gedanke, wie das Gefühl, die Sinne, wie die Glieder. Nur mit Mühe setzen sie sich in Bewegung. Diese Mühe fürchtend schieben sie so gern auf, was nicht durch irgend eine äußere Not ihnen abgedrungen wird; jeder Aufschub aber erschwert die Arbeit noch mehr, und macht die Hoffnung, dass sie jemals beginnen werde, stets geringer. Kommt es indessen bei solchen Gemütern auch wirklich einmal zu einem Entschlusse, so können sie doch den eigentlichen Anfang nicht finden, noch mit den Vorkehrungen dazu fertig werden.
Wie wenig dies Wesen dazu passt, Treffliches zu leisten und Großes zu vollbringen, sieht Jeder. Das Gute wird, wie das Schöne, nur in Augenblicken der Begeisterung geboren. Wer solche Augenblicke, wenn er sie hat, vorüber lässt, ohne sie genutzt zu haben, der wird nie etwas anders, als Gemeines und Alltägliches vermögen; zuletzt wird er sich gar nicht mehr, auch nicht in Gedanken, über diesen Kreis erheben können. Schnell will überdies diese Hilfe gebracht, jene Rettung versucht sein, weil sie eben jetzt nur möglich ist, und der geringsten Zögerung die Gelegenheit für immer entflieht. Wie im Sturm muss manches, wenn es überall geschehen soll, gewagt werden, damit durch Seitenblicke oder Rückblicke die Kraft nicht geteilt und die Gefahr nicht sichtbar werde, die das kühne Unternehmen begleitet. An den Entschluss muss sich die Ausführung knüpfen, damit das Herz seinen Wankelmut binde, jeden Rückweg sich abschneide, und indem es nun weiter keinen Ausweg sieht, als vorwärts, nicht ablasse, diesen zu verfolgen. Dies alles, wird es eure Sache sein, o ihr, die man immer nur mit Mühe und oft mit aller Mühe nicht einmal, bedeuten und erwärmen und in Gang bringen kann, die zu beflügeln, oder in Feuer und Flammen zu sehen, vollends ganz unmöglich ist? Beweise eines gegenwärtigen, eines für jeden Augenblick und jeden Vorfall und jedes Bedürfnis und jede Not gleichsam bereitstehenden und allezeit gerüsteten Geistes, werdet ihr sie ablegen können? Was nur gelingen kann, wiefern es beeilt wird, mag man es euch anvertrauen und von euren Händen erwarten? Wahrlich, das bloße Wissen und der bloße Beifall, und das bloße Planmachen tut es nicht.
Was fehlt den Menschen zu schönem Werk? Der Mut anzufangen. Und warum haben ihrer so Manche diesen Mut nicht? weil er mit ihrer Langsamkeit sich nicht verträgt.
Denkt überdies an die Verzagtheit, die nicht Wenigen eigen ist, die nie traut und immer zweifelt, nie hofft und immer fürchtet. Es wird ja doch vergebens sein, sagen sie, wenn ich mir auch noch so viel Mühe gebe. So glauben sie an keinen Erfolg. Dabei sehen sie sich, im Voraus, bei jeder nützlichen Anstrengung mit Hindernissen, mit Neidern, mit Feinden, mit Gefahren, mit Gelegenheiten zu den größten Aufopferungen umringt, wenn zu dem Allen auch in der Wirklichkeit gar kein Anschein vorhanden ist. Schwierigkeiten, die sich finden könnten, macht ihr furchtsames Gemüt zahlreicher, bedeutender, als sie sind. Jede Mücke, die ihnen entgegenfliegt, ist ein Kamel, und jeder Stein, über welchen der besonnene Wanderer lächelnd hinwegschreitet, oder den er aufräumend an die Seite wälzt, türmt sich in ihrer Einbildung zu einem Felsen empor. Ihrer eigenen Kraft endlich trauen sie nichts zu. Was der Mensch vermöge, wenn er sich recht zusammennimmt, davon haben sie keinen Begriff. Wie stark das Gefühl mache, Gutes zu treiben, und in einer heiligen, vom Gewissen gerechtfertigten, vielleicht dringend empfohlenen, Angelegenheit begriffen zu sein, das ahnen sie nicht. Wie mächtig, wie reich an Mitteln, wie unüberwindlich der Mensch werde, so oft er für Wahrheit und Tugend kämpft, durch seinen unsichtbaren Bundesgenossen, Gott, den Freund aller Gerechten, das kommt nicht in ihre Seele. So verstecken sie sich, schüchtern, bald hinter ihrer geringen Einsicht, bald hinter ihrem schwachen Herzen, bald hinter der ungeübten Hand, bald hinter dem kurzsichtigen Blicke, bald hinter ihrem Temperament, oder ihrer Leidenschaft, bald hinter den Verhältnissen und Umständen. Ich kann es nicht über mich erhalten, ich verstehe es dahin nicht zu bringen, ich würde doch auch, wenn ich anfinge, nur straucheln, nur einen Fehler über den andern machen. Und nun unterbleibt der Versuch ganz.
Denkt euch den Menschen, geliebte Brüder, mit diesem Sinne, in welcher sittlichen Beziehung ihr wollt; denkt ihn euch, dass er für seine eigene Veredelung etwas tun, oder dass er zum Heil der Gesellschaft wirksam werden, denkt ihn euch, dass er etwas unternehmen soll für sein Wachstum an Erkenntnis und Geschicklichkeit, oder dass er sich den Durchbruch er kämpfen soll in ein planmäßiges und vielseitig nützliches Leben, oder dass er auftreten soll, und zwar in einem höheren als dem ganz gemeinen Sinn, als der Beglücker seiner Kinder, seines Hauses, seines Dorfes, seines Wirkungskreises, seines Volkes und Vaterlandes: oder, dass er sich, nach unseres Meisters Ausdrucke, „mit Blut soll taufen lassen“ für Menschenerrettung und Menschenwohlfahrt; wenn er an das Gelingen nicht glaubt, wird er damit anfangen mögen? wenn er vor den Hindernissen zurückbebt, wird er damit anfangen mögen? wenn er seine Kräfte für unzureichend hält, wird er damit anfangen mögen? wenn er selbst sein Möglichstes noch immer zu schlecht findet, um es darzubieten, wird er dann anfangen mögen?
Hoffen und nicht zweifeln, vertrauen und nicht wanken, wacker und ohne Scheu sein muss der Mensch, soll etwas Herrliches durch ihn geschehen. Rechnen muss er, wo sein Wissen und können zu Ende ist, auf den Beistand von oben, will er sich fähig machen, Taten zu tun. Das Herz muss er haben, was die Eitelkeit, die nur glänzen will, nicht hat, es darauf ankommen zu lassen, ob er auf einem ungebahnten Wege straucheln, und wo ihm Niemand vorgearbeitet hat, etwas versehen werde. Der misslungene Versuch muss ihn nicht niederschlagen, sondern zu einem abermaligen und nochmaligen ermuntern. Der Einsturz dessen, was er mühsam gebaut, muss nicht seine Ruhe mit niederreißen, sondern ihn nur bewegen zur Verdoppelung seines Fleißes für die Zukunft. Seht, alles Wissen, und alles Glühen, und alles Vornehmen in Stunden der Begeisterung hilft nicht aus. Was fehlt den Menschen zu schönem Werke? Der Mut anzufangen. Und warum haben Unzählige diesen Mut nicht? Weil er nicht aufkommen kann bei ihrer Verzagtheit.
Nenne ich euch nun noch die Schlaffheit, meine Brüder, welche einen großen Teil der Menschen bezeichnet, so werdet ihr der Gründe genug haben. Betrachtet diese genauer. Sie folgen nicht deutlichen Vorstellungen, sondern dunklen Gefühlen. Was sie tun, geschieht nicht nach freier, überlegter Wahl, sondern aus irgend einem Triebe und Drange der sinnlichen Natur. Nicht ein höheres Gesetz ordnet und bestimmt ihre Tätigkeit, sondern eine zufällige Gewalt, welche sie sei, entscheidet darüber, entweder das Bedürfnis, oder die Leidenschaft, oder die Gewohnheit, oder das Beispiel der Andern. So ist es bei ihnen endlich gar nicht auf ein unsichtbares und überirdisches Ziel abgesehen, sondern immer und einzig nur darauf, dass sie wohlleben, dass ihr Vergnügen nicht geschmälert werde, dass jeder Augenblick seinen angenehmen Genuss habe.
Betrachtet ihren Zustand. Wo sinnliches Bedürfnis, sinnliche Begier, sinnliche Gewöhnung ausschließend und unumschränkt gebieten, da ist keine Freiheit des Geistes. Wo keine Freiheit des Geistes stattfindet, da gibt es keinen eigentlichen Willen mehr. Wo der Mensch aber keinen Willen mehr hat, da kann auch von einem Entschlusse die Rede nicht sein. Befangen ist unser Wesen da in Regungen, Gefühlen und Wünschen, in einem Sorgen und Trachten, wobei wir an die Außendinge uns verlieren, und aller unserer Vorrechte beraubt nur noch gehen, wohin die Sinnlichkeit uns zieht. Dies ist Schlaffheit.
Mutet nun der Schlaffheit ein großes Werk zu; was verlangt ihr? Nicht wahr, das Gegenteil von dem, was sie sonst zu tun pflegt. Sie kann nur Eindrücken nachgeben, sie soll ihnen widerstehen. Sie kann nur Leidenschaften nähren, sie soll sie unterdrücken. Sie kann nur Fesseln tragen, sie soll sie zerreißen. Sie kann nur im alten Gleise fortschleichen, sie soll eine neue Bahn brechen und ungewohnte Pfade wandeln. Der Leichtsinnige soll ernsthaft werden, und der Heftige sanftmütig, der Wollüstige soll seine unzüchtigen Freuden, und der Trunkenbold seine tierischen Ausschweifungen fliehen. Der Träger soll sich anstrengen, und der Zerstreute soll sich sammeln. Der Müßiggänger soll einen würdigen Lebensplan befolgen, und der Tor Verzicht leisten auf die Eitelkeiten, daran er hängt. Der Eigennützige soll seinen Vorteil aufopfern, und der Selbstsüchtige soll das Fremde und Ganze umfassen lernen. Schwäche soll Kraft beweisen, und Hass soll Liebe üben. Sinnlicher Ungestüm soll sich verwandeln in die Ruhe des Weisen, und die Rohheit soll sich emporläutern zum höchsten Adel des Geistes, zu religiöser Würde. Ich frage euch, ist das zu hoffen? Und lässt sich der Übergang aus der einen Verfassung in die andre nur so geradezu und unmittelbar bewerkstelligen?
Haben aber deshalb die Menschen dieser Art gar keinen Begriff ihres höheren Berufes? Fühlen nicht auch sie in besseren Stunden eine unwiderstehliche Sehnsucht nach Befriedigungen, die ihnen das gewohnte Leben schuldig bleibt? Machen auch sie nicht zuweilen sogar einen Plan zu ihrer Rettung, Befreiung und Erneuerung? Beseufzen sieht man sie ihre Schwäche und fluchen ihrem Leichtsinn. Ach, wie willig oft ist der Geist! Und doch! Hilft ihnen die Vorsehung nicht durch besondere Mittel und Übungen wieder auf, woher soll ihnen die Tat kommen? Je länger wir in den Ketten der Sünde gehen, desto unfähiger werden wir, sie abzuschütteln. Das Laster, das uns umstrickt hat, verwebt sich nach und nach mit unserem Wesen, gleichsam zu einem Stoffe. Und so ist es denn leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als, dass eine so weit verirrte Seele die Tore des Reiches Gottes finde.
Was fehlt demnach dem Menschen zu schönem Werk? der Mut anzufangen. Und warum haben sie diesen Mut nicht? Weil ihre unglückselige Schlaffheit, diese verderblichste Wirkung der bösen Lust, sie desselben beraubt.
Lasst uns den Mangel eines so wesentlichen Erfordernisses für unsere und unserer Brüder Wohlfahrt tief betrauern, geliebte Mitchristen. Denn nur, weil wir ihn nicht hatten, den Mut anzufangen, wie viel Treffliches ist ungeschehen geblieben! Wie viel Segen ist über uns selbst und über unseren Wirkungskreis nicht gekommen! Wie viel Kräfte, wie viel Talente, wie viel Jahre vielleicht unseres Lebens sind dadurch dem Dienste der Menschheit und dem Heil unserer Familien entzogen! Wie viel Mängel und Missbräuche und Übel, unter denen die Bewohner der Erde seufzen, haben darum fortgedauert, wiewohl sie längst sich hätten abstellen lassen! Wie viel Böses ist geschehen, weil die Entschlossenheit und der Nachdruck fehlten, wodurch es hätte gehindert werden können! Seht! Alle unsere Erkenntnis Gottes und unserer Pflichten, alles unser Wohlgefallen am Schönen und Guten, alles unser Reden und Schreiben von den Dingen, wie sie sein sollten, alle unsere Ratschläge und Entwürfe für die Erziehung der Menschen, und für die Verbesserung des Weltzustandes und für den Frieden unserer eigenen Seele, was waren sie, ohne den Mut anzufangen? Welke Keime, taube Blüten. O, wer anfing, viel hat der gewonnen; viel, auch wenn er nie das Angefangene ganz zu Stande bringt. Man kann doch Achtung für sich selbst haben und Zutrauen zu seiner Willenskraft. Man fühlt doch, dass man etwas sei und könne. Man sieht das Werk doch werden. Man gewinnt es lieb. Man hat die ersten Schwierigkeiten überwunden und findet die folgenden weniger groß. Man sieht im Geist die Berge schon erstiegen, die Hügel schon geebnet, die noch warten. Man sieht Hilfen aller Art herbeikommen. Man sieht die Nachwelt fortsetzen, was man nicht enden konnte. Man sieht im Vorgenuss des künftigen hohen Lohnes reiche Fülle. Wohl schwer ist aller Anfang; und es aufnehmen mit seinen Leidenschaften, mit langer Gewohnheit, mit eingewurzelten Fehlern der Gesinnung und der Sitte, oder mit dem Zeitgeiste, mit dem Einfluss des bösen Beispiels, mit der Macht der Verführung, mit dem Hasse eines verderbten Geschlechts, wer mag dies leicht nennen? Aber viel leichter doch ists ein noch nicht Angefangenes erst beginnen, als ein glücklich Begonnenes wieder liegen lassen. Darum ist der Mut anzufangen so köstlich, weil der Vorteil, angefangen zu haben, so groß ist und so herrliche Aussichten gewährt.
O für euch, die ihr des Guten schon viel begonnen habt und noch beginnt, für euch, die ihr das Notwendigste, das Ehrwürdigste, was der Mensch auf Erden unternehmen kann, das Werk eurer sittlichen Erziehung, eurer Bildung zur Tugend und Frömmigkeit, eurer Bereitung für eine bessere Welt, mit ernstem Nachdruck und mit schönen Hoffnungen treibt; - nein, für euch bedarf es unter solchen Umständen keiner Aufmunterung zu redlichem Beharren. Die Sache selbst hat für euch den süßesten Reiz. Seinen eigentümlichen Wert hat euch das Leben erst durch sie empfangen. Glückliche Jünger, ihr fühlt es eurem Meister bereits nach: es sei die Speise des wahren Menschen, dass er tue den Willen des, der ihn gesandt hat und vollende sein Werk.
Ihr aber, denen diese Weihe des Lebens noch fehlt: wie lernt ihr beginnen?
Frage sich vor allem ein Jeder, warum er noch nicht begann?
Sind wir unentschieden in der Hauptsache, und wissen nicht, was wir eigentlich zu unserem Ziel sehen wollen: Lasst unser armes, durch Zweifeln und Wanken gefoltertes Herz sich endlich bestimmen und zur Ruhe kommen! Und was könnte uns hindern, den rechten Weg zu treffen? Der Nebel der Leidenschaft? O vielfältig zerreißt doch das Licht der Vernunft diese armseligen Schleier und macht es fürchterlich helle vor unsern Augen. Oder die Freuden der Welt? Aber „die Welt vergeht mit ihrer Lust“. Oder die Furcht vor den Menschen? Doch was können sie uns für einen Ersatz bieten, wenn wir ihnen nun mehr gehorcht haben, als dem Herrn? Es gibt nur eine Segensquelle, wie es nur eine Wahrheit gibt; kann es schwer sein für ein redliches Gemüt, sie zu entdecken? - Aufhören also müsse diese schreckliche Ungewissheit! Ein Wille, und zwar ein Wille, der es weiß, warum er der rechte ist, müsse siegreich hervortreten aus diesem inneren Streite. Solcher Entscheidung folgt glücklicher Anfang.
Sind wir langsam und verwöhnt an lässiges Säumen und geneigt, von einer Frist zur andern ein Beschlossenes aufzuschieben: Lasst uns eilen, meine Brüder; denn die Sache eilt, und mit jedem Verzuge wird sie mühsamer. Denn unsere Sehnsucht eilt und wir können ja nie zu früh glücklich werden. Denn die Gelegenheit eilt und kehrt nicht wieder, wenn sie einmal verschwunden ist. Denn die Zeit eilt und nimmt jede pflichtvergessene, dahin geworfene Stunde mit sich fort, um uns zu verklagen. Denn der Tod eilt und ehe wir's denken, ist über allem Besinnen und Warten das Leben entflohen und wir müssen enden, bevor wir wahrhaft angefangen haben.
Sind wir verzagt und ängstigen uns bei jedem ungewohnten Schritte, den das Gewissen fordert, und werden gehindert und gehalten durch ein lähmendes Misstrauen: lasst uns ein Herz fassen, meine Brüder. Wovor fürchten wir uns denn, so wir Gutes vorhaben? dass es nicht gelingen werde? „Aber der Herr lässt's den Aufrichtigen gelingen und beschirmt die Frommen“. Oder, dass wir zu viele und große Hindernisse möchten zu bekämpfen haben? Aber der Herr spricht auch zu den furchtbarsten Gewalten, wenn seine Stunde schlägt: „Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter“. Oder dass uns besonders schwere Prüfungen dabei erwarten? Aber der Herr versucht Keinen über sein Vermögen, sondern gibt dem Leid ein angemessenes Ziel“. Oder dass unsere Kräfte zum Vollbringen nicht hinreichen? Aber der Herr ist in den Schwachen oft am mächtigsten“. Oder dass wir Fehler machen werden in der ungewohnten Arbeit? Aber eben durch mangelhafte Versuche will der Herr uns führen zu hoher und seliger Vollendung.
Seht, es winken uns Gelegenheiten genug; und wir haben Kräfte genug, lasst uns nur einmal anfangen, wirklich anfangen, bei dem, was zunächst liegt! Wie viel Seelen können wir bilden, wie viel Schwache stärken, wie viel Traurige trösten, wie viel Fehlende tragen, wie viele Große und Kleine beglücken! - Verstehen wir nicht Urheber zu sein, lasst uns Helfer sein; oder nicht voranzugehen, lasst uns folgen; oder nicht zu vollenden, lasst uns vorbereiten; lasst uns Bahn machen; lasst uns die Tore öffnen; lasst uns dienend zur Hand gehen den Herrlichen, denen wir die Schuhriemen aufzulösen nicht wert sind“. Eitel, ihr könnet es nicht leugnen, bleibt immer eure Scheu. Mit dem Rechtschaffenen ist Gott, und „mit Gott können wir Taten tun“.
Sind wir aber schlaff, meine Brüder, haben wir verlernt zu wollen, weil wir nie einen ernsten Willen bewiesen, sehen wir vielleicht auch nicht einen guten Vorsatz, der zuweilen in unserem Herzen erwacht ist, ausgeführt, und glauben daher an unsere sittliche Kraft gar nicht mehr: Ach das ist traurig, das ist fürchterlich, das ist ein tiefes, unabsehliches Elend. Aber sollte nicht auch aus diesem Abgrunde der Versunkenheit doch eine Erlösung sein? Sie ist es; denn ein Vater sucht das weit verirrte Kind; ein Helfer streckt die Arme nach uns aus. Nur umsehen wollt euch nach ihm. Nur betäuben wollt euch nicht gegen seinen Ruf. Nur antworten wollt ihm, wenn er fragt. Nur beten wollt erst wieder lernen. Und dann einen nur, ach nur erst einen Sieg über das Böse, einen Beweis nur, dass ihr wieder ihr selbst seid, und dass ihr über den Staub euch erheben könnet, sobald ihr wollt: dann, ja dann wirds besser werden, die Genesung wird wunderbar fortschreiten. Das Leben wird, vom Gefühle neuer Kräfte verjüngt, euch anlächeln wie ein Frühlingstag. Ihr werdet bald gar keine Freude mehr kennen, als die eure Wiedergeburt euch bereitet; und wachsen, wachsen wird diese Glückseligkeit, weil ihr täglich etwas aufzuweisen haben werdet, was in der inneren Welt, was für das Reich Gottes von euch beschickt ist.
O dass wir heute noch, ihr Geliebten, noch heute so anfangen, dass wir in dieser Gestalt das schöne Fest begrüßen möchten, dem wir entgegengehen! Reiche, himmlische Geschenke würde auch uns der heilige Christ dann mitbringen; denn ach! wir hätten ja getan, was er fordert. Wir wären umgekehrt zu den Kindern und geworden wie sie“. Amen.