Calvin, Jean - Psalm 94.
Inhaltsangabe: Der Dichter ruft Gott zu Hilfe gegen gottlose Vergewaltigung, durch welche die Heiligen tyrannisch und grausam unterdrückt wurden. Ohne Zweifel schweben ihm innere Feinde vor, deren ungerechte Herrschaft den Heiligen nicht weniger lästig und widrig war als alle Angriffe vonseiten der Heiden.
1Herr, Gott, des die Rache ist, Gott, des die Rache ist, erscheine! 2Erhebe dich, du Richter der Welt; vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen! 3Herr, wie lange sollen die Gottlosen, wie lange sollen die Gottlosen prahlen? 4Sie geifern, reden trotziglich; es überheben sich alle Übeltäter. 5Herr, sie zerschlagen dein Volk und plagen dein Erbe. 6Witwen und Fremdlinge erwürgen sie, und töten die Waisen.
V. 1. Gott, des die Rache ist usw. Gewiss sahen sich die Juden von bösen Nachbarvölkern umgeben und von schlimmen Feinden ununterbrochen gereizt. Da aber jetzt unter dem Druck eines gottlosen und launenhaften Regiments die innere Trübsal sie noch schwerer bedrängte, hat der Prophet guten Grund, den Herrn anzurufen, dass er diesen verderblichen Zuständen Heilung bringe. Die Redeweise: Gott, erscheine, erhebe dich! – ist geläufig, wenn es sich darum handelt, Gott zum richterlichen Einschreiten gegen verbrecherisches Treiben und zum offenbaren Erweis seiner Macht aufzurufen. Der Ausdruck ist in Rücksicht auf unsere Empfindung gewählt: meinen wir doch, der Herr kümmere sich um uns nicht, wenn er nicht seine Hand spürbar und gleichsam sichtbar zu unserer Hilfe ausstreckt. Dass der Herr zweimal als Gott der Rache, dann als Richter der Welt angerufen wird, soll ihn angesichts der gegenwärtigen Bedrängnis gleichsam an seine Pflicht erinnern: Herr, deine Sache ist es, Rache an den Verbrechern zu nehmen und das Land zu richten; du siehst aber, wie frech ihre Hoffart sich gebärdet, wenn ihr sündhaftes Wesen ungestraft um sich greifen darf. Gewiss bedarf Gott, der ja nicht schläft, keiner Ermahnung; ja während er zu zaudern scheint, rüstet er seine Gerichte für die beste Zeit, die er ja kennt. Aber indem die Gläubigen in dieser Weise Gottes Eigenschaften sich vergegenwärtigen, stärken sie ihre Zuversicht und treiben sich an zu brünstigem Gebet. Darauf zielt auch die Wiederholung. Gegenüber aller Frechheit der Gottlosen soll uns also immer diese Wahrheit vor Augen stehen, dass sich Gott sein Amt als Weltrichter und Rächer aller Untaten nicht nehmen lässt. Und wenn er auch, wie wenigstens unser Fleisch meint, sich ins Dunkel zurückzieht, so sollten wir diese vom heiligen Geist gegebene Gebetsform unbedenklich gebrauchen, damit endlich sein Licht aufgehe.
V. 3. Wie lange sollen die Gottlosen usw. In diesem Vers entschuldigt der Prophet sein stürmisches Vorgehen: Eile tut not, weil die Frevler in ihrem Übermut kein Maß finden. Weil schwere Bedrängnis uns die Zuversicht stärken darf, dass gerechte Gebete erhört werden müssen, bezeugt der Prophet, dass seine Klage nicht aus einer geringen Ursache geboren wird, sondern dass das allerschwerste Unrecht sie ihm auspresst. Ganz besonders unwürdig ist es, dass die Feinde durch Gottes lange Geduld verstockt und infolge dessen besonders aufsässig und frech wurden, gleich als hätte sich Gott zu ihrem schändlichen Treiben bekannt. Im Blick auf diese lange Straflosigkeit wird zweimal ausgerufen: Wie lange? Also nicht erst jetzt heben die Frevler an, sondern da sie allzu lange geduldet wurden, finden sie kein Maß im Sündigen. Haben nun schon in alten Zeiten die Verworfenen die Kirche tyrannisiert, ohne dass Gott sofort sein Heilmittel gab, so wollen wir auch heute nicht glauben, dass die Kirche unter der langen Unterdrückung von Gott ganz verlassen sei, obgleich er seine Hand nicht plötzlich zur Heilung ausstreckt. Dass die Gottlosen „prahlen“, beschreibt ihre ausgelassene und freche Freude: trunken vom lang dauernden Glück halten in ihrem Übermut alles für erlaubt.
V. 4. Sie geifern usw. Jetzt wird noch deutlicher beschrieben, wie sie in geschwollener Frechheit kein Bedenken tragen, sich ihrer Verbrechen zu rühmen. Das Wort, welches wir mit „geifern“ übersetzen, bedeutet buchstäblich „überschäumen“, beschreibt also nicht bloß ein Reden überhaupt, sondern anmaßendes Reden. Übermut und Stolz treibt die Frevler, in ihrer Eitelkeit sich dessen zu rühmen, was ihnen doch zu Schmach und Schande dient. Denn ihre Drohungen zielen auf Mord, Vergewaltigung und barbarische Grausamkeit. In dieser Weise reden sie trotziglich: weder Furcht noch Rücksicht auf sittlichen Anstand hindern die Ausbrüche ihrer ungezügelten Frechheit. Musste solch tyrannisches Treiben schon in alten Zeiten den Gläubigen zu schwerer Versuchung dienen, so sollen auch wir heute wissen, dass es nichts Neues ist, wenn die Kirche übel regiert und sogar unterdrückt wird. Wir sollen vielmehr Gott anrufen, dass er endlich seinen Knechten beistehe, nachdem er solange sein Angesicht verborgen.
V. 5. Sie zerschlagen dein Volk. Nachdem der Prophet die trunkenen und frechen Reden der Feinde vorgeführt, beschreibt er ihre grausamen Taten, mit denen sie die Gemeinde Gottes bedrängen. Ist es schon unwürdig, dass heidnische Könige ihre Untertanen ungerecht bedrücken, so erscheint es noch viel weniger unerträglich, dass Gottes auserwähltes Volk, sein besonderes Erbe, durch Tyrannei zerrieben werde. So empfangen wir hier ein Gebet, dessen die Gläubigen sich gegen die Bedrängnis insbesondere durch inner Feinde bedienen mögen. Dürfen wir doch ganz nahe zu Gott fliehen, wenn wir ungerecht leiden: denn er sorgt für uns nicht nur, weil wir Menschen sind, sondern unser Heil ist ihm besonders kostbar, weil er uns zu seiner Herde gezählt hat. Das Unrecht steigert sich noch dadurch, dass die Frevler (V. 6) Witwen und Fremdlinge erwürgen und die Waisen töten. Gott will nicht nur, dass man im Allgemeinen Gerechtigkeit und Billigkeit pflege, sondern legt uns insbesondere Witwen, Fremdlinge und Waisen ans Herz. Je mehr sie dem Unrecht ausgesetzt sind, desto mehr verdienen sie menschliche Behandlung und Barmherzigkeit. Welche Verachtung Gottes, gegen sie zu wüten! Das ist ein Angriff nicht nur auf das allgemeine Recht, sondern auch auf den besonderen Vorzug, dessen Gott sie gewürdigt hat. Wer sich grausam wider sie erhebt, reizt umso mehr Gottes Zorn. Kinder, die sich nicht verteidigen können, sind durch ihr schwaches Alter gegen Hunde und wilde Tiere geschützt. So ist es vollends schändlich und abscheulich, wenn Menschen ihre Kraft an ihnen erproben. Wie in einem Spiegel wird uns hier die hässliche Verwüstung der Gottesgemeinde gezeigt. Es war das Gesetz vorhanden, es gab von Gott eingesetzte Richter, - dennoch ging jegliches Laster im Schwange. Darum sollen wir eifrig darauf bedacht sein, dass nicht bei uns derartiges einreiße. Geschieht es aber, dass man den Fremdlingen unrecht tut und Witwen und Waisen beraubt, so sollen wir Gott bitten, dass er ihren Schutz übernehme. Zugleich ermahnt uns der Prophet durch sein Beispiel, ihr Elend zu lindern.
7Und sagen: „Der Herr siehet´s nicht, und der Gott Jakobs achtet´s nicht.“ 8Merkt doch, ihr Narren unter dem Volk! und ihr Toren, wann wollt ihr klug werden? 9Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören? Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen? 10Der die Heiden züchtiget, sollte der nicht strafen? der die Menschen lehret, was sie wissen?
V. 7. Und sagen: „Der Herr siehet´s nicht“ usw. Wenn sie auch die grobe Lästerung nicht geradezu aussprechen, dass Gott unwissend sei wie ein Klotz, so macht ihnen der Prophet doch mit Recht zum Vorwurf, dass sie meinen, Gott regiere die Welt nicht mit seiner Vorsehung, ja dass sie ihm offenkundig das Richteramt und die Herrschergewalt absprechen. Denn wenn sie die gebührende Überzeugung von seiner Vorsehung hegten, würden sie ihm Ehre geben, und daraus müsste Ehrfurcht und heilige Scheu entstehen. Der Prophet will also die äußerste und verzweifelte Nichtswürdigkeit beschreiben, in welcher ein Sünder die Furcht Gottes wegwirft und sich alles gestattet. Wenn ein Mensch, der von Religion nichts weiß und niemals einen Eindruck von der himmlischen Lehre bekam, so frech sich gebärdet, so ist dies schon eine unerträgliche Raserei. Es muss also ein ganz abscheuliches Wunder sein, wenn Menschen, die von Jugend an in der Lehre des Gesetzes unterwiesen wurden, so wegwerfend Gottes spotten und ihm einen Dunst vormachen.
V. 8. Merkt doch, ihr Narren usw. Da es eine fluchwürdige Lästerung ist, den Herrn seines Richteramts zu berauben, so fährt der Prophet jetzt noch heftiger gegen die Gedankenlosigkeit der Menschen los, die da wähnen, seinem Gericht entfliehen und seine Augen mit ihren Künsten täuschen zu können. Es ist nun viel härter, von Narren unter dem Volk als einfach von Narren zu reden. Denn ein derartiger Wahnsinn ist am wenigsten unter den Kindern Abrahams zu ertragen, von denen Mose gesagt hatte (5. Mos. 4, 6 f.): „Wo ist so ein herrlich Volk, zu dem Götter also nahe sich tun, als der Herr unser Gott? Das wird eure Weisheit und Klugheit sein vor allen Völkern, dass ihr Gottes Gebote höret.“
V. 9. Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören? Diese Verteidigung der Vorsehung Gottes gegen die Unfrommen scheint uns vielleicht überflüssig. Denn es wird nicht leicht jemand die barbarische Behauptung wagen, dass Gott überhaupt nichts merke. Aber die grobe Frechheit, in welcher fast alle Welt sich gehen lässt, ist, wie ich bereits sagte, ein Zeugnis davon, dass Menschen, die mit dieser Sicherheit gegen Gott anstürmen, einen toten Götzen an seine Stelle setzen. Denn wenn sie ernstlich überzeugt wären, dass er ihre Taten sieht und bucht, würden sie ihm wenigstens dieselbe Ehre geben wie sterblichen Menschen, aus Furcht vor denen sie sich von der Sünde abhalten lassen. Mit gutem Grunde baut also der Prophet seinen Schluss, mit welchem er diese Stumpfheit erschüttern möchte, auf die Ordnung der Natur, dass die Menschen mit Gesicht und Gehör begabt sind. Wenn ihnen diese Fähigkeit vom Schöpfer verliehen ward, so ist doch undenkbar, dass ihm, der Ohren und Augen geschaffen hat, etwas verborgen bleiben sollte.
V. 10. Der die Heiden züchtiget, sollte der nicht strafen? Dies ist ein Schluss vom Größeren auf etwas Kleineres: es ist undenkbar, dass Gott, der ganzer Völker nicht schont, sondern ob ihrer Sünden Rache nimmt, wenige Menschen straflos ausgehen lassen sollte. Doch könnte auch ein Vergleich zwischen heidnischen Völkern und den Juden vorliegen. Denn wenn Gott gegen Heiden, die das Gesetz nicht kennen, seine Strenge beweist, so verdienen die Juden, die er in vertrauter Gemeinschaft unterwiesen hat, noch schwerere Strafen. Ist er der Herr des erwählten Volkes, so muss dort seine Gerechtigkeit noch heller leuchten. Dass Gott Völker züchtigt, beschränkt man gern auf besonders denkwürdige Beispiele seiner Rache, von welchen die Bibel berichtet, wie auf die Zerstörung von Sodom durch das Feuer vom Himmel und auf die Vernichtung des ganzen Menschengeschlechts durch die Flut. Ich verstehe den Satz einfach so, dass es auf eine ganz verkehrte Verstocktheit deutet, wenn Menschen glauben sollten, ungestraft davon zu kommen, während doch ganze Völker zugrunde gehen.
Der die Menschen lehret, was sie wissen? Dies ist Spott über die falsche Zuversicht, mit welcher die Menschen Gott verachten, um sich ihres Scharfsinns und ihrer Schlauheit zu rühmen. So spricht auch Jesaja (29, 15) den Fluch über die pfiffigen Verächter aus, die sich Höhlen graben, in denen sie sich vor Gottes Augen verbergen wollen. So schamlos wagt man auch heute noch Gottes zu spotten. Aber der Prophet sagt: Ihr wollt im Vertrauen auf eure Schlauheit dem Herrn entschlüpfen; als ob ihr dem das Wissen und Merken absprechen dürftet, der aus seiner Fülle nur kleine Tröpfchen in die Welt fließen lässt!
11Aber der Herr weiß die Gedanken der Menschen, dass sie eitel sind. 12Wohl dem, den du, Herr, züchtigest, und lehrest ihn durch dein Gesetz, 13dass er Geduld habe, wenn´s übel gehet, bis dem Gottlosen die Grube bereitet werde!
V. 11. Aber der Herr weiß usw. Ein neuer Angriff auf die Trügereien der Menschen, die einen Nebel um sich verbreiten und nun hoffen, den Augen Gottes entfliehen zu können. Um sie aus diesem hohlen Selbstbetrug zu reißen, erinnert der Prophet, dass solcher Dampf sofort verfliegen muss, wenn man dem Herrn unter die Augen kommt. Indem er sie vor Gottes Gericht ruft, stellt er sie auch unter das Urteil ihres eigenen Gewissens. Kommt doch ihre Sicherheit nur daher, weil sie dem Herrn den Rücken kehren, weil sie allen Unterschied von Gut und Böse begraben und, soviel an ihnen ist, alles sittliche Gefühl ertöten. Während sie in solch hohlem Selbstbetrug sich ergehen, verkündigt der Prophet, dass Gott ihrer kindischen Torheiten spottet. Mit ihren Schlupfwinkeln täuschen sie nur sich selbst: den Herrn können sie durch ihre Verschmitztheit nicht betrügen. Dass „sie“ eitel sind, beziehen manche Ausleger auf die Menschen selbst, nicht auf ihre Gedanken. Doch scheint mir dies gezwungen.
V. 12. Wohl dem, den du, Herr, züchtigest. Nach diesen drohenden Reden geht der Prophet dazu über, sich und alle Frommen zu trösten, dass Gott für ihre Rettung sorgen werde, wenn er auch eine Zeitlang sie betrübt werden lässt. Er gibt eine überaus nützliche Belehrung für unsern ganzen Lebenslauf, der ja ein ununterbrochener Kriegsdienst ist. Mag Gott aus Schonung für unsere Schwachheit uns etwas Erleichterung gewähren, so bleiben wir doch nach seinem Willen fortwährend vielen Angriffen ausgesetzt; wir sehen auch, wie groß die Frechheit der Gottlosen ist. Darum wäre unsere Lage eine jämmerliche ohne den Trost, dass Menschen, die Gott unter dem Kreuze übt, glücklich sein müssen. Wenn nun Gott uns als sein Volk sammelt, scheint er uns gegen die übrige Welt abgegrenzt zu haben, so dass wir alle unter gegenseitiger Pflege von Gerechtigkeit und Billigkeit glücklichen Frieden genießen. Und doch wird es oft geschehen, dass unter dem Deckmantel hoher Ehrenstellung Tyrannen die Gemeinde schmählich drücken: dieser Art war die Versuchung, über welche unser Psalm klagt. Er beschwert sich über innere Feinde, welche doch die Stellung von Richtern im Volk hatten. Hier sagt nun der fleischliche Sinn: Wenn Gott sich unserer annähme, könnte er niemals der schändlichen Laune jener Leute solchen Spielraum gewähren. Aber der Prophet sagt dagegen, dass wir unsere Weisheit anderswoher nehmen müssen, als aus dem eigenen Kopf, dass wir himmlischer Klugheit bedürfen. Darum ruft er aus: Glücklich die Leute, die Gott durch die Lehre seines Gesetzes erzieht, geduldig das Kreuz zu tragen, die er auch durch den verborgenen Trost seines Geistes stützt, dass sie den Widrigkeiten nicht unterliegen. Denn was zuerst von der Züchtigung gesagt wird, begreift, wie ich glaube, auch die Gabe der inneren Erleuchtung in sich. Sofort aber fügt der Prophet hinzu, dass uns diese Weisheit, die Gott uns eingibt, zugleich im Gesetz vorgestellt und geoffenbart werde. Dieser rühmende Hinweis empfiehlt uns also den Gebrauch der äußeren Lehre, wie auch Paulus sagt (Röm. 15, 4): „Was geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, auf dass wir durch Geduld und Trost der Schrift Hoffnung haben.“ Wir sehen also, aus welcher Quelle wir Geduld schöpfen müssen, nämlich aus Gottes Worten, die unsre Schmerzen lindern und uns Grund zu guter Hoffnung geben. Alles in allem: der Prophet will die Gläubigen zur Geduld ermahnen, dass sie nicht unter dem Kreuze den Mut verlieren, sondern in Ruhe und Schweigen auf Gott als den Retter warten lernen. Weiter will er erinnern, wo man diese Weisheit finden kann. Denn weil das Fleisch uns fortwährend zur Verzweiflung reizt, würde unsre Hoffnung hundertmal zusammenbrechen, wenn wir nicht durch göttliche Belehrung wüssten, dass uns alles Übel zu Heil dienen muss. Dabei bezeugt der Prophet, dass der rechte Stoff zum Trost in Gottes Gesetz reichlich vorhanden ist, so dass ein Mensch, der ernstlich in demselben fortschreitet, niemals verzweifeln, gebrochen werden oder sich für unglücklich halten müsste. Dies nämlich ist das Merkmal, durch welches Gott seine wahren Jünger von den Heuchlern unterscheidet: sie sind bereit und gewillt, das Kreuz zu tragen, widerstreben und lärmen nicht, sondern harren in Ruhe der Befreiung. Und dies ist die rechte Weise der Geduld, dass man nicht hochfahrend sich gegen das Unglück stemmt – wie denn die Stoiker solche Selbstverhärtung als Tugend gepriesen haben -, sondern dass wir uns willig dem Herrn unterwerfen, weil wir in seiner Gnade ausruhen dürfen. Mag jemand im Unglück auch Tränen und Seufzer unterdrücken, - wenn er ohne jede Hoffnung in den Zügel beißt und sich nur an Grundsätze hält, wie die: Wir sind alle sterblich; es lässt sich nichts ändern; gegen das Schicksal kann man nicht aufkommen; das Glück ist blind, - so verrät er mehr Hartnäckigkeit als Geduld. Denn ein solcher Mensch, der unter dem Schein der Tapferkeit verächtlich auf seine Leiden herabsieht, würde nur zu gern wider Gott ausschlagen.
V. 13. Dass er Geduld habe usw. Zu diesem Ziel wird allein die Überzeugung uns führen, dass Gott die Seinen eben zu innerer Stille erziehen will, wenn er sie den Anfechtungen aussetzt. Wo man aber dessen gewiss ist, dass den Gläubigen Ruhe und Erquickung zubereitet ist, damit sie nicht mit der Welt zugrunde gehen, ob sie auch in Trübsalshitze wandern, da können sie gewisslich die Bitterkeit ihres Schmerzes hinreichend lindern. Zum Trost wird endlich darauf hingewiesen, dass dem Gottlosen die Grube bereitet ist. Dies war nötig. Denn wo gottlose Leute triumphieren, ohne dass Gott sie zu Boden schlägt, wird gewiss eine Glut heftigen Schmerzes in unserm Herzen aufsteigen. Dem tritt der Prophet zur rechten Zeit entgegen, indem er erinnert, dass die Gottlosen nur solange noch auf der Erde bleiben dürfen, bis ihnen die Grube bereitet werde, wie man einen Leichnam im Gemach verwahrt, bis das Grab gegraben ist. So lernen wir, dass die Gläubigen nur dann feststehen können, wenn sie, mit Habakuk (2, 1) zu reden, eine hohe Warte besteigen, von wo aus sie Gottes Gerichte in der Ferne kommen sehen. Sie werden sehen, dass die Gottlosen in irdischen Genüssen schwelgen, und wenn ihre Gedanken nicht weiter reichen, werden sie vor Entrüstung vergehen. Wenn sie aber bedenken, dass die Häuser, die für die Lebenden bestimmt sind, für kurze Zeit den Toten eingeräumt werden, bis ihr Grab gegraben ist, dass jetzt noch Menschen aufbehalten bleiben, die doch dem Untergang geweiht sind, - so wird dieser Trost ausreichen, ihre Traurigkeit zu stillen.
14Denn der Herr wird sein Volk nicht verstoßen, noch sein Erbe verlassen. 15Denn das Recht wird zurückkehren zur Gerechtigkeit, und ihm werden alle fromme Herzen zufallen.
V. 14. Der Herr wird sein Volk nicht verlassen. Damit wird der vorige Satz in voller Klarheit bekräftigt: Gott kann das Volk nicht verwerfen, das er sich zum Erbe erwählt hat. Das soll uns eine heilige Zuflucht sein, so oft auch das Unglück uns anficht, dass wir dennoch Gottes Volk sind, weil er uns aus freier Gnade zu Kindern angenommen. So muss unser Wohlergehen vor ihm teuer und wertvoll sein; denn nicht vergeblich hat er versprochen, der treue Hüter seiner Gemeinde, als seines eigenen Erbes sein zu wollen. Umgekehrt ziehen wir den Schluss, dass die Geduld zusammenbrechen und verfliegen muss, wenn uns nicht das Licht der Erkenntnis göttlicher Gnade leuchtet, um alle Unruhe des Fleisches zu stillen.
V. 15. Denn das Recht kehrt zurück zur Gerechtigkeit. Weil man in der Finsternis der Trübsale die Liebe nicht leicht sehen kann, mit welcher Gott die Seinen geleitet, bedient sich der Prophet noch eines anderen Beweises, nämlich dass der Herr die Verwirrung überwinden und alles in rechte Ordnung bringen wird. Das Recht, deutlicher die Rechtspflege und die öffentlichen Zustände, werden wieder zur Gerechtigkeit zurückgebracht werden. Es heißt nun nicht bloß, dass die Menschen, die früher ein verkehrtes Regiment führten, zu einem billigen Verfahren zurückkehren werden. Der Gedanke greift tiefer: Gott wird die Gerechtigkeit, die er verborgen hatte, durch Wiederherstellung seiner Gemeinde offenbaren. Nicht als wiche seine Vorsehung jemals auch nur im Geringsten von der rechten Ordnung ab, - aber für menschliche Augen erscheint nicht immer alles so geleitet und gezügelt, dass seine Gerechtigkeit offenkundig wäre. Wie in der Nacht oder an einem nebligen Tage das Licht der Sonne sich verbirgt, so legt sich gleichsam zwischen uns und Gottes Vorsehung ein Nebel, der das Licht der Gerechtigkeit verdunkelt, wenn gottlose Menschen die Guten tyrannisieren und ihre Launen und Verbrechen frei walten dürfen; so entfernt sich gewissermaßen das Recht von der Gerechtigkeit. Sind aber die Dinge wieder in Ordnung gebracht, so lässt sich in einer wohl geregelten Billigkeit die trefflichste Harmonie zwischen dem Regiment des Staates und der Gerechtigkeit erkennen. Im Glauben sollen wir freilich auch bei verwirrten Zuständen Gottes, ob auch verborgene, Gerechtigkeit ergreifen: der vorliegende Satz aber bezieht sich auf die spürbare Erfahrung, dass Gottes Gerechtigkeit gleichsam aus heiterem Himmel leuchten soll.
Ihm werden alle fromme Herzen zufallen. Das „ihm“ beziehen viele Ausleger auf das Recht oder die wiederhergestellte Gerechtigkeit. Ich möchte es lieber auf Gott selbst beziehen, der freilich zuvor nicht ausdrücklich genannt ist. Aber der Gebrauch des Fürworts an Stelle des Namens Gottes ist im Hebräischen nicht selten. Der Sinn ist: wenn Gott in der Welt wieder Ordnung schafft, werden alle Gerechten neuen Mut schöpfen, sich desto eifriger ihm anzuschließen. Denn wenn sie auch an ihn sich halten, indem sie unter Trübsal und Beschwerden ihr Kreuz tragen, so fallen sie ihm doch noch viel völliger zu, wenn sie seine helfende Hand spüren dürfen.
16Wer stehet bei mir wider die Boshaftigen? Wer tritt zu mir wider die Übeltäter? 17Wo der Herr mir nicht hülfe, so läge meine Seele schier in der Stille. 18Ich sprach: Mein Fuß hat gestrauchelt; aber deine Gnade, Herr, hielt mich. 19Ich hatte viel Bekümmernisse in meinem Herzen; aber deine Tröstungen ergötzeten meine Seele.
V. 16. Wer steht bei mir? usw. Hier führt uns der Prophet sehr anschaulich vor Augen, in welchem Maße er sich von Menschenhilfe verlassen sah. Wie in der äußersten Gefahr ruft er aus: Wer wird sich meinen Feinden entgegenstellen? Und sofort antwortet er sich selbst (V. 17), dass es um ihn geschehen sein würde, häte Gott ihm nicht Hilfe gebracht. Zu ganz besonderem Lobe der Gnade Gottes muss es dienen, dass er rühmen kann, durch ein Wunder dem Tode entrissen zu sein: denn von der ganzen Welt war er verlassen. Allerdings sind auch Menschen, die uns die Hand reichen, Werkzeuge der göttlichen Gnade: aber wir werden doch nicht leicht Gottes Hand erkennen, wenn uns nur eine solche weniger wunderbare Hilfe begegnet. Dass die Seele in der Stille liegt, dient sonst etwa zur Beschreibung eines Toten, der empfindungslos im Grabe liegt. Darum bekennt der Prophet mit diesen Worten, dass sein Leben überhaupt nicht mehr zu retten gewesen wäre, hätte nicht Gott seine Hand geradeswegs vom Himmel her ausgestreckt.
V. 18. Ich sprach: Mein Fuß hat gestrauchelt. Dies dient zur Bekräftigung des vorigen Satzes. Um Gottes Güte und Macht in desto helleres Licht zu setzen, erinnert der Dichter daran, dass er nicht aus einer alltäglichen Gefahr, sondern gleichsam aus dem schon gegenwärtigen Tode gerissen wurde. Der Tod stand ihm bereits vor Augen, so dass er sich selbst hoffnungslos verloren gab und mit dem Leben abschloss, wie Paulus einmal sagt (2. Kor. 1, 9): „Wir hatten bei uns beschlossen, dass wir sterben müssten.“ Wurde er in solcher Lage wider Erwarten gerettet, so rückt Gottes Hilfe in das hellste Licht. Dies bestätigt der Prophet auch im nächsten Verse, indem er auf viel Bekümmernisse hinweist, von denen er begraben worden wäre, hätten Gottes Tröstungen ihn nicht erquickt. Es lehrt uns also diese Stelle, dass Gott in der größten Trübsal und Traurigkeit seinen Knechten im rechten Augenblick beispringt und ihnen, wie es anderwärts heißt (Ps. 4, 2; 118, 5), in ihrer Enge Raum schafft. So schwer also unsre Leiden drücken, so dürfen wir doch hoffen, dass Gottes Gnade noch mächtiger sein wird, unsre Schmerzen zu lindern. Denn die Gläubigen tragen eine doppelte Stimmung im Herzen: auf der einen Seite fühlen sie sich geängstigt und in vielerlei Furcht und Sorge umgetrieben, - aber Gott haucht ihnen eine verborgene Freude ein, und zwar je nach dem Maß ihres Bedürfnisses, damit selbst der tiefste Strudel der Leiden sie nicht verschlingen könne.
20Wird mit dir Gemeinschaft haben der Stuhl der Ungerechtigkeiten, der Bedrückung schafft statt Recht? 21Sie scharen sich wider die Seele des Gerechten, und verdammen unschuldig Blut. 22Aber der Herr ist mein Schutz; mein Gott ist der Hort meiner Zuversicht. 23Und er wird ihnen ihr Unrecht vergelten, und wird sie um ihre Bosheit vertilgen; der Herr, unser Gott, wird sie vertilgen.
V. 20. Wird mit dir Gemeinschaft haben usw. Der Prophet stärkt noch einmal seine Zuversicht durch einen Blick auf Gottes Wesen: der Herr kann unmöglich die Gottlosen begünstigen oder mit ihren frevelhaften Unternehmungen zusammenhalten. Wenn aber Gott wider sie steht, wie sollten sie dem Untergang entfliehen? Durch die Frageform wird es besonders eindrücklich, dass alle Ungerechtigkeit dem Wesen Gottes widerstreitet. Von dem Stuhl der Ungerechtigkeiten ist die Rede, weil die Anklage nicht gegen gemeine Räuber und Diebe ergeht, deren Schande vor jedermann offenbar ist, sondern gegen Gewaltherrscher, welche unter dem trügerischen Vorwande des Rechts die Gemeinde unterdrückten. Mögen sie auf gottgeweihtem Stuhl sitzen, sie haben doch mit Gott nichts gemein, sofern sie diesen Stuhl mit ihren Verbrechen beschmutzen und entweihen. Dies wird im zweiten Satzglied noch deutlicher ausgedrückt, indem es heißt, dass ihr Stuhl Bedrückung schafft statt Recht. Solche Leute stehen freilich dem Herrn ganz fern. Gegen diese ungerechten Richter ergeht das Wort des Propheten, bei denen jegliche Unterdrückung im Schwange ging und die doch heuchlerisch die Formen des Rechts einhielten. Ein ehrenvoller und glänzender Titel muss zur Deckung schändlicher Gewaltherrschaft dienen. Jetzt verstehen wir, was der Prophet sagen will: mag der Richterstuhl einen noch so ehrenvollen Namen tragen, - wenn er durch menschliche Bosheit verderbt wird, verliert er Ansehen und Ehre bei dem Gott, welcher die Ungerechtigkeit nicht billigen kann.
V. 21. Sie scharen sich wider die Seele des Gerechten. Der Ausdruck lässt ersehen, dass der Prophet nicht von gewöhnlichen Leuten, sondern von den Führern des Volks belästigt wird, welche die Gewalt in Händen hatten. Er und die übrigen Gläubigen erfahren ungerechte Behandlung nicht von dem einen oder andern Privatmann, sondern von der öffentlichen Versammlung. Das ist freilich ein trauriger und schändlicher Fall, wenn in der rechtmäßigen Obrigkeit gottlose Leute derartig die Oberhand gewinnen, dass das Kollegium der Richter zu einer Räuberbande wird. Denn es ist doppelt unwürdig, wenn unschuldige Menschen nicht bloß unterdrückt, sondern auch noch mit Schande gebrandmarkt werden. Es ist doch die umgekehrte Welt, wenn die ganze Rechtspflege nichts anderes mehr ist, als ein verbrecherischer Apparat zur Verdammung der Unschuldigen. Doch soll dies Beispiel uns zur Stärkung dienen, damit wir lernen, wenn Gott etwa auch heute seine Knechte durch solche Versuchung übt, nicht bloß rechtswidrige Vergewaltigung, sondern auch unverdiente Schmach mit Gleichmut zu tragen.
V. 22. Aber der Herr ist mein Schutz. Welch leuchtendes Beispiel der Kraft Gottes, der allein der stärksten Anschläge, der größten Macht und der gewaltigsten Wut Herr wird! Der Prophet sagt aber nicht bloß, dass der Herr ihm wie eine Burg ist, aus welcher er auf alle Angriffe verächtlich herabschaut und in welcher er sicher geborgen ist. Nachdem er sich vielmehr zum Schutze Gottes beglückwünscht, kündigt er auch den Feinden den Untergang an (V. 23): Er wird ihnen ihr Unrecht vergelten. Das ist Gottes eigentliches Amt, das er wider alle Belästigung der Guten ausübt. Etwas vom Geschmack der Gerechtigkeit Gottes würde es uns schon gewähren, wenn die bösen Anschläge nur vereitelt würden. Wenn aber die Frevler in die Grube fallen, die sie selbst gegraben, wenn sie, die auf jeden Weg einen Hinterhalt legen, die Guten zu verderben, in ihrer eigenen Schlauheit umkommen; wenn sie ihre ganze Kraft aufbringen, um sich mit ihren eigenen Schwertern zugrunde zu richten, - dann rückt Gottes wunderbares Gericht in das hellste Licht. Weil dies aber schwer zu glauben ist, wiederholt der Dichter zweimal: Er wird sie vertilgen; der Herr wird sie vertilgen. Einen bemerkenswerten Grund zur Hoffnung gibt es den Gläubigen auch, dass er sagen kann: unser Gott. Er erinnert damit an das, was er schon sagte, dass Gott sein Erbe nicht versäumen kann, welches er in seine Obhut genommen.
Quelle: Müller, Karl / Menges I. - Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift - Psalter