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Calvin, Jean - Psalm 42.
Inhaltsangabe:Zuerst bezeugt David, ihm sei, als er flüchtig ging wegen der Wut Sauls, nichts bitterer gewesen, als dem Heiligtum fern bleiben zu müssen, weil er die Gottesverehrung allen irdischen Vorteilen vorzog. Dann erwähnt er, welch schweren Kampf er mit der Verzweiflung geführt habe. Auch eine Bitte und eine Betrachtung der Gnade Gottes fügt er bei, um seine Hoffnung zu stärken. Zum Schluss wiederholt er jenen inneren Kampf mit seinem Kummer.
V. 1. Für die Kinder Korah.Gewöhnlich wird übersetzt: „der Kinder Korah.“ Man betrachtet dieselben dann, weil Davids Name nicht genannt wird, als die Dichter des Psalms. Ich vermag dies nicht zu billigen. Denn die Person, deren Lage und Stimmung im Psalm zum Ausdruck kommt, ist David. Wer soll aber glauben, dass einem solchen Manne, der selbst mit dichterisch-prophetischem Geiste vor allen anderen begabt war, ein anderer gewissermaßen einen Psalm diktiert habe? David war der gemeinsame Lehrer der ganzen Gemeinde und ein ausgezeichnetes Werkzeug des Geistes; den Leviten, von denen die Söhne Korahs einen Teil bildeten, hatte er andere Psalmen zur Sangesaufführung übergeben. Wozu also hätte er gleichsam leihweise eine solche Arbeit von jenen zu entlehnen brauchen, die zu leisten er selbst weit überlegen war? Daher werden die Söhne Korahs wahrscheinlich deshalb genannt, weil der Psalm bei ihnen wie ein Schatz niedergelegt worden ist; so sind ja von den Sängern hin und wieder einige zu Hütern der Psalmen ausgewählt worden. Dass die Erwähnung Davids unterbleibt, schadet nichts, denn dieselbe Tatsache bemerken wir in anderen Psalmen, bei welchen man trotzdem auf dessen Urheberschaft nach sicheren Vermutungen schließen darf. – Als eine Unterweisung pflegt David – wenn auch nicht in jedem Falle – einen Psalm zu bezeichnen, wenn darin von göttlichen Züchtigungen die Rede ist, die recht eigentlich darauf abzielen, die Kinder Gottes zu „unterweisen“, wenn ihnen die bloße Lehre noch keinen hinreichenden Eindruck macht (Vgl. auch zu Ps. 32, 1) – Über die Zeitumstände des Psalms besteht keine völlige Übereinstimmung. Denn einige Ausleger beziehen Davids Klagen auf die Vertreibung durch seinen Sohn Absalom. Mir scheinen aber gute Gründe auf die Verfolgung durch Saul hinzuweisen. Denn die Verschwörung Absaloms wurde sogleich erstickt, so dass sie David am Zugang zum Heiligtum nicht lange gehindert haben kann. Aber er beklagt hier ausdrücklich eine langwierige Verbannung, unter welcher er fast verschmachtet sei. Denn nicht auf wenige Tage beschränkt sich die Traurigkeit, die er im 3. Verse schildert, vielmehr wird der ganze Zusammenhang deutlich zeigen, dass er lange in dem elenden Zustand, von dem er redet, darniedergelegen hat. Der Einwand, die Bundeslade sei unter Sauls Herrschaft vernachlässigt gewesen, also sei es unwahrscheinlich, dass David damals festliche Chöre geführt habe, ist unbegründet. Die Gottesverehrung Sauls war allerdings nur eine äußerliche, doch wollte er auch nicht gottlos erscheinen. Und David selbst zeigt anderswo, dass er fleißig, zumal an Festtagen, die heiligen Versammlungen besucht habe. Wenigstens geht das Wort, das wir Ps. 55, 15 lesen werden: „ins Gotteshaus gingen wir gleicherweise“ oder „einmütig“ auf die Zeit Sauls.
V. 2 u. 3. Wie der Hirsch schreit usw. Dieser Anfang des Psalms besagt, David habe allen Vorteilen, Schätzen, Annehmlichkeiten und Ehren den freien Zugang zum Heiligtum vorgezogen, um durch die im Gesetze vorgeschriebenen Übungen seinen Glauben und seine Frömmigkeit zu nähren und zu stärken. Denn wenn er sagt: meine Seele dürstet nach dem lebendigen Gott – so meint er nicht einfach, dass er vor Liebe und Sehnsucht nach Gott brenne; vielmehr muss man die Art und Weise bedenken, wie uns Gott zu sich einlädt und durch welche Hilfsmittel er unsere Gemüter nach oben zieht. Denn er befiehlt uns nicht, geradeswegs in den Himmel hinaufzusteigen, sondern er kommt unserer Schwäche entgegen und lässt sich näher zu uns herab. Daher schrie David zu Gott in der Erwägung, dass der Weg für ihn verschlossen sei, weil er vom äußeren Gottesdienst ausgeschlossen war; dieser ist das Band der heiligen Verbindung mit Gott, nicht als könnten die gottesdienstlichen Gebräuche an und für sich uns mit Gott vereinigen, sondern es sind Übungen der Frömmigkeit, deren unsere Schwachheit nicht zu entraten vermag. Daher ist David, wenn er vom Heiligtum verbannt ist, ebenso in Angst, als wäre er Gott dem Herrn selbst entfremdet. Zwar ließ er indes nicht ab, seine Bitten zum Himmel, ja zum Heiligtum gleichfalls, zu richten, aber im Bewusstsein seiner Schwachheit empfand er es schmerzlich, den Weg, auf welchem die Gläubigen zu Gott gelangen, sich verlegt zu sehen. Dies Beispiel widerlegt die Anmaßung der Leute, welche an diesen Vermittlungen in ihrer Sicherheit vorbeigehen, ja sie im Übermut verachten, wie wenn es in ihrer Macht stünde, stracks in den Himmel hineinzufliegen, gerade als überträfen sie David an Eifer und Schwungkraft der Seele. Doch blieb der Prophet auch nicht bei den irdischen Anfangsgründen stehen: aber weil er wusste, dass ihm die Flügel zum Fliegen fehlten, so bediente er sich der Leitersprossen, um auf ihnen zu Gott emporzueilen. – Das Gleichnis vom Hirsch drückt die allerbrennendste Sehnsucht aus. Dabei darf man nicht bloß daran denken, dass ein von Jäger und Hunden verfolgter Hirsch sehnsüchtig nach einem Fluss ausschaut, um die schwindende Kraft wieder aufzufrischen. Vielmehr ist vornehmlich daran zu erinnern, dass die Hirsche zu bestimmten Zeiten des Jahres mit unglaublicher Hitze, mehr als durstig, nach Wasser verlangen. Ein späterer Vers aber (V. 5) beweist deutlicher, was ich schon bemerkte, dass David nicht von der Gegenwart Gottes überhaupt, sondern von seiner Offenbarung im Heiligtum redet. Denn er stellt sich ja die Stiftshütte, den Altar, die Opfer und andere Bräuche vor Augen: mittels dieser wollte Gott seinem Volke seine Nähe bezeugen; von diesen mussten daher die Gläubigen ausgehen, wenn sie ihm sich zu nahen wünschten – nicht um an jenen Äußerlichkeiten haften zu bleiben, sondern um Gottes Herrlichkeit, die an sich eine verborgene ist, mit Hilfe der Zeichen zu suchen. Wo wir also die Merkmale der Gegenwart Gottes in Wort oder Zeichen ausgeprägt vor uns haben, da, so darf man mit David sagen, erscheint„Gottes Angesicht“, wenn wir nur reine Seelen mitbringen, um ihn geistlich zu suchen. Wo wir uns aber Gott anderswie gegenwärtig denken, als er sich in Wort und heiligen Zeichen offenbart hat, da machen wir uns irgendeine recht grobe und irdische Vorstellung von seiner himmlischen Erhabenheit; da erdichten wir bloße Gespenster, welche die Herrlichkeit Gottes verunstalten und seine Wahrheit in Lüge verkehren.
V. 4. Meine Tränen sind meine Speise usw. Jetzt zeigt uns David einen weiteren Stachel des Schmerzes, mit dem verwerfliche und übelwollende Menschen seine Seele verwundeten. Und zweifellos hat sich der Satan solch anfachender Äußerungen bedient, um sein Inneres desto heftiger zu entzünden: „Was willst du eigentlich? Siehst du nicht, dass du von Gott verworfen bist? Denn gewiss will er in der Stiftshütte angebetet werden, deren Zugang dir die Verbannung verwehrt.“ Das waren heftige Angriffe, und sie hätten den Glauben des heiligen Mannes erschüttern müssen, wenn er nicht, durch die seltene Kraft des Geistes unterstützt, entschlossenen Widerstand geleistet hätte. Es leuchtet aber ein, wie ernst die Gemütsbewegung war, die ihn ergriff. Denn wir werden oft in Erregung geraten, ohne uns doch von Speise und Trank abziehen zu lassen; aber wo jemand die Speise freiwillig verschmäht, wo er den Tränen so nachhängt, dass er sich um den täglichen Lebensunterhalt betrügt, wo er im Kummer verharrt, - da muss er schwer gequält sein. David sagt aber, dass er nirgendwo so viel Trost gefunden als in den Tränen; daher habe er sich ihnen überlassen, gerade so wie die Menschen sich durch die Speise ergötzen und stärken, - und zwar„Tag und Nacht“, und nicht nur auf kurze Zeit. Man muss also festhalten: so oft uns die Gottlosen verspotten und mit gehässigen Reden darzutun suchen, Gott sei uns feindselig gesinnt, so arbeitet der Satan darauf hin, unseren Glauben zu Fall zu bringen; und daher ist kein Raum zu Ergötzlichkeiten, wo sich ein so gefährlicher Krieg wider uns erhebt. Dazu kommt noch der weitere Grund, dass den Gottlosen der Name Gottes zum Gespött dient, weil sie ihn mit beschimpfen müssen, wenn sie unseren Glauben verhöhnen. Wenn wir also nicht fühllos wie das Eisen sind, werden wir dabei billigerweise vom schwersten Schmerze verwundet.
V. 5. Wenn ich denn des innewerde usw. Die Zeitformen dieses Verses werden in verschiedener Weise übersetzt. Es wird aber nicht richtig sein, David einen Wunsch für die Zukunft aussprechen zu lassen: „ich wollte gerne hingehen“ usw. Vielmehr blickt er zurück: er wird „des“ inne, d. h. er erinnert sich des, dass es sonst seine Gewohnheit war, in der Zahl der Frommen einher zu ziehen und sie zum Hause Gottes zu geleiten. Wenn er diesen früheren Zustand mit dem gegenwärtigen vergleicht, so steigert sich sein Schmerz gewaltig. Denn er, der ein Führer und Vorgänger der übrigen beim Besuch der heiligen Versammlungen gewesen, entbehrt jetzt des Heiligtums! Bekanntlich werden Leute, die seit frühester Kindheit an eine üble Lage gewöhnt sind, dagegen unempfindlich, und gerade die Häufigkeit der Übel erzeugt in uns eine gewisse Härte: daher ist es begreiflich, wenn David, der nicht dem großen Haufen angehört, sondern noch vor kurzem den ersten Rang unter den Gläubigen eingenommen hatte, härtere Qual empfindet, wenn er sieht, wie er gänzlich zurückgestellt und nicht einmal der unterste Platz für ihn frei ist.
So schütte ich mein Herz heraus. Das kann ein Mensch von sich sagen, wenn er seine Gefühle ausströmen lässt, sie seien nun freudiger oder trauriger Art. Denn die Seele hält den Menschen nur so lange aufrecht, wie sie ihre Kraft gesammelt hält; durch eine maßlose Gemütsbewegung aber wird sie aufgelöst und gleichsam zunichte. Jemand schüttet also seine Seele aus, wenn er seiner selbst nicht mehr mächtig ist, so dass seine Sinne sich zerstreuen. So will David etwa sagen, sein Geist schmelze und schwinde hin vor Traurigkeit, wenn er seinen Verlust erwäge. Meint man dagegen, dass David von freudigen Gefühlen rede, so würde er einen vergleichenden Rückblick tun: Mir war es einst so lieb, den Zug des Volkes zum Heiligtum zu führen, dass mein Geist vor Freude hinschmolz, und ich nicht mehr bei Sinnen war; und wenn dasselbe Glück mir wiedergeschenkt wird, wird dieselbe Freude meine Sinne fortreißen. Doch liegt es näher, an seine gegenwärtige Traurigkeit zu denken. Übrigens hat man keinen Grund zu der Meinung, David sei nach menschlicher Weise in Trauer versunken gewesen: sondern weil er aus dem gegenwärtigen Elend auf Gottes Zorn schloss, quälte er sich in seiner Frömmigkeit selbst mit dem Gedanken, durch eigene Schuld Gott gegen sich herausgefordert zu haben. Und auch davon abgesehen, erkennen wir den Ursprung seines Schmerzes. Denn obwohl er von so vielen besonderen Nachteilen sich beschwert sah, ist er doch nur wegen des Heiligtums in Angst, und er beweist damit, dass für ihn der Verlust des Lebens ein milderes Los bedeutet hätte, als die Verbannung vom Anblick Gottes. So sollte auch unser Gemüt gestimmt sein: unsere Freude sollte es sein, Gottes väterliche Gunst schmecken zu dürfen, dagegen unser Schmerz, ihn zum Feinde zu haben. Denn das ist die Gott gemäße Traurigkeit, deren Paulus 2. Kor. 7, 10 gedenkt. – Unter dem „Haufen“ hat David zweifellos Chöre verstanden; denn nicht in wirrem Durcheinander oder rottenweise, sondern in bestimmten Gliedern schritt man einher, wenn man an Festtagen zur Stiftshütte kam.
V. 6. Was betrübst du dich, meine Seele?Hieraus erhellt, dass David tapfer mit dem Schmerze gerungen hat, um der Versuchung nicht zu unterliegen. Unzweifelhaft aber hat er einen schweren und harten Kampf führen müssen, ehe er als Sieger daraus hervorging; ja er hat nicht nur einen Ansturm oder Kampf zu bestehen gehabt, sondern ist öfters in neue Schlachten verwickelt worden. Und seine schwere Niedergeschlagenheit kann nicht Wunder nehmen, da er keinem Anzeichen der Gunst Gottes begegnete. Ferner stellt sich uns David gleichsam in zwei Teile geteilt dar. Soweit er sich nämlich im Glauben auf Gottes Verheißungen stützt, erhebt er sich, mit dem Geist der unbesiegbaren Tapferkeit ausgerüstet, gegen die Regungen seines Fleisches, um sie zu bezähmen; zugleich aber muss er sich selbst wegen seiner Weichlichkeit strafen. Obwohl er nun mit Satan und Welt im Streite liegt, kämpft er doch nicht geradezu oder offen mit jenen, sondern wählt sich vielmehr sein eigenes Ich als Gegner. Und sicherlich ist das die beste Art und Weise über den Satan zu siegen, wenn wir den Gegner nicht außer uns suchen, sondern mit den Regungen des eigenen Gemüts den inwendigen Kampf aufnehmen. Bemerkenswert ist auch das Geständnis Davids, seine Seele sei niedergeschlagen gewesen. Denn wenn unsere Schwachheiten wie Fluten auf uns einstürmen, so meinen wir, es sei bereits um unseren Glauben geschehen; wir lassen uns durch den bloßen Schrecken besiegen und wagen keinen Widerstand. So oft uns also diese Feigheit beschleichen will, gilt es zu beherzigen, dass es der gewöhnliche Kampf der Frommen ist, die eigenen Gemütsbewegungen zu zügeln und besonders das Misstrauen gegen Gott zu bekriegen. – Ferner werden zwei Fehler hier dargestellt, welche, obwohl anscheinend verschieden, doch unsere Seele zugleich befallen: sie „betrübt sich“ d. h. sie wird verzagt, und zugleich wird sie unruhig durch innere Auflehnung gegen Gott. Denn mitten in unserer tiefen Niedergeschlagenheit treibt uns doch zugleich die Unruhe zum Murren an. Für beide Fehler gibt David dann das Heilmittel an: Harre auf Gott!Nur solche Hoffnung vermag zu bewirken, vorerst, dass unsere Herzen unter den schwersten Stürmen einen Halt finden, und dann, dass sie in Geduld und Ruhe verharren. Nachher bringt David die Kraft und das Wesen der Hoffnung auf Gott sehr gut mit den Worten zum Ausdruck: ich werde ihm noch danken.Liegt es doch im Wesen der Hoffnung, unserer Seele einen weiten Ausblick in die Ferne auf die verborgene Gnade hin zu eröffnen. Denn durch dies Wort „noch“ bekennt David, ihm sei der Mund zum Lobe Gottes für die Gegenwart verschlossen, weil er so gut wie ringsum von Not bedrängt werde: seine Hoffnung streckt er trotzdem in ferne Zukunft aus. Und um sich der gegenwärtigen Traurigkeit zu entheben, verheißt er sich, was noch nicht erscheint. Doch macht er sich davon keine kühne Einbildung nach seinem eigenen Sinne, sondern vertraut auf Gottes Verheißungen, und so erhebt er sich nicht nur zu froher Hoffnung, sondern wird sich selbst ein Bürge für das gewisse Heil. Denn nur dann werden wir vor unseren Brüdern als geeignete Zeugen für die Gnade Gottes auftreten können, wenn wir dieselbe zuerst unserem eigenen Herzen gegenüber bezeugt haben. –
Die folgende Wendung kann verschieden erklärt werden. Die Mehrzahl der Ausleger findet hier den Grund, wofür David danken will: dass er mir hilft mit seinem Angesicht.Ich nehme das gerne an. Doch wird sich auch kein übler Sinn ergeben, wenn wir, was nach dem hebräischen Text nahe liegt, die Worte abtrennen: „Ich werde ihm noch danken, - Hilfe ist sein Angesicht.“ Denn dadurch dass Gott die Seinen seines Anblicks würdigt, schafft er ihnen ohne weiteres Heil. Wem Gott sein freundlich strahlendes Angesicht zukehrt, dem wendet er seine Gunst zu. Umgekehrt scheint uns im Unglück Gottes Angesicht bewölkt oder verfinstert.
V. 7. Betrübt ist meine Seele, wenn ich an dich gedenke. In noch buchstäblicherer Wiedergabe des hebräischen Textes übersetzen andere: „Betrübt ist meine Seele, darum gedenke ich an dich.“ Dann würde David sagen, dass er zur Linderung seines Schmerzes in der Verbannung seines Gottes gedenke. Denn er macht es nicht wie diejenigen, die nur im Vergessen Gottes Trost finden: sondern obwohl durch seine Hand verwundet, erkennt er doch in ihm den Arzt. Also würde die Rede ebenso viel bedeuten, wie wenn er spräche: Obwohl ich jetzt vom Tempel verbannt bin und den Hausgenossen Gottes entfremdet scheine, kann das mich doch nicht hindern, auf ihn zurückzublicken; denn mag ich auch der Opfer beraubt sein, die mir nützlich wären, so hat er mir doch sein Wort nicht entzogen. Obgleich ich nun diese Erklärung nicht ganz verwerfen möchte, scheint mir die andere doch noch sinnentsprechender: David ist betrübt, „darum dass“ d. h. wenn er Gottes gedenkt. So oft er aus dem Jordanlande, in welchem er während der Verbannung sich verborgen hielt, seine Erinnerung der Stiftshütte zuwandte, mehrte sich seine Trauer. David klagt also, seine Seele sei von Kummer bedrückt, weil er sich aus der Gemeinde Gottes ausgestoßen sieht. Darin liegt aber stillschweigend ein versteckter Gegensatz, als wenn er sagte: nicht die Sehnsucht nach der Gattin, noch das Heimweh, noch irgendein anderes Verlangen bereite ihm ähnliche Qual, wie die einzige Sorge, sich von der Gottesverehrung abgehalten zu sehen. Hieraus aber ist zu lernen: wenn uns auch die Stützen entzogen sind, die Gott zum Aufbau unseres Glaubens und unserer Frömmigkeit anbrachte, müssen wir umso fleißiger unser Gedächtnis schärfen, dass sich nimmer die Gottvergessenheit einschleiche. Aber besonders ist zu bemerken: wie wir im vorigen Verse sahen, dass David nach Art eines tapferen Kämpfers mit seinen eigenen Gemütsregungen stritt, so wird jetzt gezeigt, wie er standhaft ausharrte, dadurch nämlich, dass er zu Gottes Hilfe seine Zuflucht nahm wie zu einer heiligen Freistadt. Und allerdings wird die Betrachtung der göttlichen Verheißungen nicht imstande sein, uns aufrecht zu erhalten, wenn sie uns nicht zum Beten antreibt. Denn wenn uns Gott nicht die Kraft darreicht, wie vermöchten wir so viele böse Gedanken zu unterdrücken, die sich in jedem Augenblicke in uns erheben? Dient doch die Menschenseele gleichsam dem Satan als Werkstatt, um tausenderlei Hilfsmittel zur Verzweiflung darin zu erzeugen. Deshalb wendet sich David mit Recht, sobald er mit sich gerungen hatte, in Bälde zum Gebet und ruft Gott zum Zeugen seines Schmerzes an. – Mit dem „Lande am Jordan“ ist eine Gegend gemeint, welche von Judäa aus betrachtet, jenseits des Flusses lag: das ergibt sich noch deutlicher aus dem Namen„die Hermonim“. So nämlich, mit der Mehrzahl, wird der zusammenhängende Gebirgszug des Hermon, wegen seiner verschiedenen Gipfel, benannt; und vielleicht setzte der Dichter die Mehrzahl mit Absicht, weil ihn die Furcht bald hierhin, bald dorthin zu eilen und zu schweifen zwang. –
Der Berg Misar wird sonst nirgends genannt. Darum finden viele Ausleger hier keinen Eigennamen, sondern übersetzen: „der kleine Berg“. Die Meinung wäre, dass David einen vielleicht als klein bezeichnete, - im Vergleich zu dem äußerlich sehr viel niedrigeren Berg Zion. Doch das ist gezwungen.
V. 8. Ein Abgrund ruft dem anderen zu. Durch diese Worte wird ebenso sehr die Wucht der Übel, als ihre Häufung und Langwierigkeit zum Ausdruck gebracht. David will sagen, er werde nicht nur durch Übel einer Art bedrängt, sondern verschiedenartige kehrten unmittelbar darauf wieder, ohne Maß und Ziel. Zuerst zeigt er durch die Benennung „Abgrund“, dass die Versuchungen, von denen er angelaufen wurde, mit Recht den Wasserstrudeln verglichen werden könnten; dann klagt er über ihre lange Dauer, und zwar unter Anwendung des sehr passenden Bildes, dass die Versuchungen sich gegenseitig von ferne anrufen und einander herbeiholen. Im zweiten Teile des Verses setzt er den Vergleich fort mit der Angabe, dass alle Fluten und Überschwemmungen Gottes über sein Haupt gegangen sind. Damit sagt er: er sei unter der erdrückenden Last der Kümmernisse verschüttet und gleichsam verschlungen worden. Aber bemerkenswert ist, dass er Sauls und seiner Feinde Wut „Überflutungen Gottes“ nennt, damit wir im Unglück immer daran denken, uns unter die gewaltige Hand Gottes zu demütigen, welche uns zu Boden schlägt. Sodann lohnt es sich der Mühe, weiter zu der Erklärung fortzuschreiten: Wenn Gott einen heftigen Regen seines Zorns auf uns hierniedersenden will, und er hat seine Wasserstürze oder Schleusen einmal geöffnet, so werden unsere Übel kein Ende nehmen, bis er versöhnt ist. Denn er hat wundersame und ungeahnte Weisen, um uns zu verfolgen. Sobald daher sein Zorn gegen uns aufbraust, wird sich nicht nur ein Abgrund öffnen, ums uns zu verschlingen, sondern ein Abgrund wird den anderen rufen. Da nun die Sorglosigkeit der Menschen so groß ist, dass sie Gottes Drohungen nicht genug fürchten, so wollen wir dieses Verses nicht vergessen, wenn wir über Gottes Strafen uns unsere Gedanken machen.
V. 9. Des Tages wird Gott seine Güte entbieten.Andere übersetzen, was sprachlich nicht unmöglich wäre: „der Herr hat seine Güte entboten“. Dann würde David die früheren Wohltaten Gottes zusammenfassen, um sich über den traurigen und elenden Zustand, in dem er sich jetzt ängstigen muss, umso nachdrücklicher zu beschweren; als wenn er sagte: Wie kommt es, dass Gott, der sich mir früher so freundlich erwies, jetzt gleichsam seine Gesinnung wechselt und die höchste Strenge gegen mich herauskehrt? Immerhin verdient die Zukunftsform sprachlich und sachlich den Vorzug. Ich widerstreite dem zwar nicht, dass David Wohltaten Gottes, die er bereits erfahren hatte, zur Unterstützung seines Glaubens heranziehe: ich meine jedoch, er verspricht sich für die Zukunft eine Befreiung, die jetzt noch verborgen war. Er tröstet sich wider die soeben geschilderten schrecklichen Zeichen des göttlichen Zorns mit der Hoffnung: warum sollte Gott sich mir nicht doch noch gütig zeigen, sodass mir des Tages seine Güte begegnet, und des Nachts ein Freudenlied mich zur Ruhe begleitet? Das Gebet, dessen er sodann gedenkt, ist also nicht das eines Bekümmerten oder Geängsteten, sondern deutet auf die Danksagung, welche stattfinden muss, wenn Gott durch seine Gunst uns wieder fröhlich macht und den freien Zugang zu sich uns eröffnet. Darum nennt David den Herrn den Gott seines Lebens, weil aus dieser Erkenntnis die Freudigkeit des Herzens entspringt.
V. 10. Ich werde sagen zu Gott, meinem Fels usw. Wenn wir den vorigen Vers auf die Vergangenheit beziehen, wird der Sinn des jetzigen sein: da sich Gott mir vorher so gütig erwiesen hat, werde ich umso vertrauensvoller beten, denn die Erfahrung wird mir Kühnheit verleihen. Wenn man aber schon den vorigen Vers in der Zukunftsform übersetzt, so wird David nun an die aus seinem Glauben entsprungenen hoffnungsvollen Gedanken ein Gebet schließen. Und sicherlich wird ein jeder, der solche Zuversicht zu Gottes väterlicher Güte hegt, wie David sie soeben äußerte, nach seinem Beispiel mit besonderer Inbrunst beten. Jetzt also wird der Sinn etwa der sein: Weil ich mir einen gnädigen Gott versprechen darf, der bei Tage sein Erbarmen mir entgegensendet und es mir fortgesetzt erweist, so dass ich auch nachts Stoff habe, ihn zu besingen, so werde ich umso freimütiger ihm mein Leid klagen: „Herr, mein Fels, warum hast du mein vergessen?“ Übrigens wollen die Gläubigen mit solcher Klage nicht sagen, dass sie völlig von Gott verstoßen seien; denn wenn sie nicht des Vertrauens lebten, unter seiner Sorge und Obhut zu stehen, würden sie ihn ja vergeblich anrufen; sondern nur nach ihrer natürlich menschlichen Empfindung reden sie so. Darum bezieht sich dieses „Vergessensein“ ebenso wohl auf den äußeren Anschein, als auf die Unruhe, in welcher sich die Gläubigen dem Fleische nach befinden, wenn schon sie unterdessen im Glauben den Gedanken fassen, dass Gott auf sie achte und nicht taub gegen ihre Bitten sein werde.
V. 11. Es ist ein Mord in meinen Gebeinen usw. Über den hebräischen Wortlaut und seine genaue Übersetzung können Zweifel obwalten. Der Sinn aber ist in der Hauptsache klar: David versichert, er sei durch die Beschimpfungen der Feinde ebenso schmerzlich verwundet gewesen, als wenn sie seine Gebeine durchbohrt hätten. Und gerade diese werden wohl genannt, weil die Herbigkeit des Schmerzes bei einer Durchbohrung der Knochen stärker empfunden wird, als wenn ein Schwertstich durch die Eingeweide oder andere biegsame Teile des Körpers geht. Doch darf den Kindern Gottes dieses Gleichnis nicht übertrieben erscheinen; und wenn jemand darüber erstaunt, dass David den Hohn der Feinde so drückend empfand, so verrät er nur seine eigene Gefühllosigkeit. Denn unter all den grausamen Widerwärtigkeiten, die uns treffen können, ist doch nichts furchtbarer, als wenn Gottes Erhabenheit in den Staub gezogen und dabei auch unser Glaube tödlich verletzt wird. Bekannt ist, wie Paulus (Gal. 4, 29) den Bericht über Ismael, welcher den Isaak verspottete (1. Mo. 21, 9), auf eine wirkliche Verfolgung deutet: was ein bloßes Kinderspiel scheint, kann furchtbar schwer empfunden werden, wenn es zur Verhöhnung des Bundes Gottes dient. Daher vergleicht David nicht mit Unrecht die Beschimpfungen seiner Feinde, mit denen sie das Wort Gottes samt seinem Glauben zu Boden traten, mit einem Mordschwert, welches durch Mark und Bein dringt. O wenn doch alle, die sich als Kinder Gottes brüsten, persönliche Beleidigungen gleichmütiger hinnehmen lernten; wo aber ihr Glaube durch Schmähungen gegen Gott bekämpft wird, und sogar das Wort, welches sie lebendig macht, mit ins Gespött gezogen wird, diesen Eifer Davids sich aneigneten!
V. 12. Was betrübst du dich, meine Seele? Diese Wiederholung (vgl. V. 6) will uns erinnern, dass David seine Versuchungen nicht auf den ersten Angriff überwunden hat, sondern sich genötigt sah, denselben Kampf von neuem aufzunehmen. Sein Beispiel soll uns eine Mahnung sein, dass wir uns nicht durch Überdruss mürbe machen lassen dürfen, wenn uns der Satan in ähnlich beschwerliche Kämpfe verwickelt. – Bis auf ein einziges Wort im letzten Teile stimmt der Vers mit dem sechsten überein. Hier nämlich wird das entsprechende Fürwort der ersten Person gesetzt: „meines“ Angesichts Hilfe.Vielleicht aber fehlt hier nur der Buchstabe, der im Grundtext die dritte Person1) bildet. Weil jedoch in der vorgetragenen Leseart alle Handschriften einig sind, so behalten wir dieselbe bei und sagen: ganz passend konnte David Gott seines „Angesichts Hilfe“ nennen, denn er hoffte auf eine deutliche und gewisse Befreiung, bei der Gott, gleichsam auf sichtbare Weise, als Helfer und rächender Anwalt sich ihm darbieten sollte. Sicher ist wenigstens, dass an dieser Stelle vermittelst des Beisatzes Gott selbst „die Hilfe“ genannt wird, weil sogleich darauf folgt: „und mein Gott“.