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Calvin, Jean - Psalm 22.

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Calvin, Jean - Psalm 22.

Inhaltsangabe: David klagt in diesem Psalm über die große Not, in die er gekommen, und die seine Lage als ganz verzweifelt erscheinen ließ. Nachdem er jedoch die Übel, die ihn quälten und unglücklich machten, aufgezählt hat, erhebt er sich aus dem Abgrunde der Anfechtungen und fasst neuen Mut und neue Hoffnung. In seiner Person gibt er uns zugleich ein Bild Christi. Denn da er durch prophetischen Geist erleuchtet war, so wusste er, dass Christus erst in wunderbarer und schier unglaublicher Weise gedemütigt werden musste, bevor er durch den Vater erhöht werden konnte. Die beiden Teile des Psalms führen also den gleichen Gedanken aus, der uns auch in der Leidensweissagung bei Jesaja (53, 8) begegnet: „Er ist aus der Angst und dem Gericht genommen; wer will seines Lebens Länge ausreden?“

V. 1. Die Worte „Hindin der Morgenröte“ werden einfach eine bekannte Melodie angeben: so bedarf es keiner weiteren allegorischen Künsteleien. Was den Inhalt angeht, so bezieht sich der Psalm offensichtlich nicht bloß auf eine bestimmte Verfolgung, sondern auf alle Leiden, die David unter Saul zu erdulden hatte. Ob er ihn gedichtet hat, als er schon in glücklichen Verhältnissen lebte, ist ungewiss: jedenfalls ist anzunehmen, dass er hier die Gedanken beschreibt, die er mitten unter den Sorgen und Ängsten gehabt hat.

V. 2. Mein Gott, mein Gott usw. Der erste Vers enthält zwei beachtenswerte Gedanken, die sich zu widersprechen scheinen und die doch täglich zu gleicher Zeit die Herzen der Gläubigen bewegen. Es klingt wie die Klage eines Verzweifelten, wenn David ausruft, dass er von Gott verlassen und verworfen sei. Ist noch ein Funke von Glaube vorhanden, wenn man nichts von der göttlichen Hilfe fühlt? Anderseits legt David ein deutliches Bekenntnis seines Glaubens ab, wenn er den Herrn zweimal seinen Gott nennt und seine Seufzer vor ihm ausschüttet. Diesen inneren Streit finden wir immer bei den Gläubigen, wenn Gott ihnen die Zeichen seiner Gunst entzieht, so dass sie, wohin sie ihre Blicke auch wenden, nur Nacht und Finsternis sehen. Und ich sage, dass die Gläubigen solches durchmachen müssen, damit sie durch diesen Kampf mit sich selbst zugleich ihre fleischliche Schwäche offenbaren und ihren Glauben bezeugen. Die Verworfenen geben sich dem Zweifel hin; daher werden sie durch die Angst so außer Fassung gebracht, dass sie sich nicht im Glauben zu der göttlichen Gnade erheben können. Aus Davids Worten geht aber doch hervor, dass er standgehalten hat und der Anfechtung nicht erlegen ist. Wenn auch die Traurigkeit schwer auf ihm lastete, so setzte er doch dadurch seinen Klagen einen starken Damm entgegen, dass er ausruft: „Mein Gott, mein Gott!“ Diese Erfahrung machen alle Gläubigen täglich bei sich selbst. Nach dem Augenschein sehen sie sich von Gott verlassen und verworfen, aber im Glauben ergreifen sie die verhüllte Gnade. So sind in ihrem Gebete entgegengesetzte Regungen miteinander vermischt. Nach der äußeren Erfahrung muss Gott uns bald feindlich, bald freundlich erscheinen. Wenn er uns lange in Traurigkeit sitzen und dahinsiechen lässt, so muss unserem natürlichen Verstande das so erscheinen, als habe er uns vergessen. Wird das ganze Herz des Menschen von dieser Angst erfüllt, so versinkt er so tief in Unglauben, dass er keine Hilfe mehr zu finden weiß. Kommt der Glaube ihm jedoch von der anderen Seite zu Hilfe, so schaut derselbe Mensch, der bisher nach dem Augenschein Gott für feindlich und für fern halten musste, in dem Spiegel der Verheißung seine verborgene und tief verhüllte Gnade. Diese beiden Stimmungen wechseln bei den Gläubigen ab. Denn Satan hält ihnen die Zeichen des göttlichen Zorns vor, ums sie zur Verzweiflung zu bringen und ins Verderben zu stürzen. Dagegen weist der Glaube sie hin auf die Verheißungen und ermahnt sie, geduldig zu warten und auf Gott zu vertrauen, bis er aufs Neue sein väterliches Antlitz ihnen zuwende. Jetzt wissen wir, aus welcher Quelle sowohl der Ausruf: „Mein Gott, mein Gott“, als auch die nachfolgende Klage“: „Warum hast du mich verlassen“, hervorgegangen sind. Während die Heftigkeit seines Schmerzes und die Schwachheit des Fleisches dem David die Klage auspressten: Ich bin von Gott verlassen – gab der Glaube ihm ein, damit er dem Drucke nicht unterliege, den Gott, von dem er sich verlassen fühlte, getrost als seinen Gott anzurufen. Ja wir sehen, dass er dem Glauben den Vorzug gibt, denn bevor er seiner Klage freien Lauf lässt, bricht er ihr schon die Spitze ab, indem er sich trotzdem zu seinem Gott flüchtet. Es ist das Beste, was wir tun können, dass wir die Regungen unseres Fleisches zeitig, d. h. gleich im Anfange, wenn sie hervorbrechen, zügeln, da sie nicht leicht in Schranken gehalten werden können, und wir uns sonst durch sie fortreißen lassen. David hält also alles in bester Ordnung, da er mit dem Glauben seinem Schmerze zuvorkommt und die Klage über die Größe seiner Leiden durch die vorhergehende Anrufung Gottes mäßigt. Hätte er nämlich nur gesagt: Weshalb hast du mich verlassen, Gott? – so konnte es den Anschein haben, als mache er dem Herrn Vorwürfe und murre wider ihn. Ja, dann wäre zu fürchten gewesen, dass die unmäßige Bitterkeit seines Schmerzes sein Herz vergifte. Nun legt er sich aber durch den Glauben einen Zügel an und nimmt sich zusammen, damit er das rechte Maß nicht überschreite. Es ist keine überflüssige Wiederholung, wenn er Gott zweimal seinen Gott nennt und auch zum dritten Male (V. 3) diese Anrede wiederholt. Da es eine schwere und harte Anfechtung ist, wenn Gott sich stellt, als habe er unser vergessen, und zu unseren Klagen und Seufzern schweigt, so gibt David sich alle Mühe, sich zu stärken. Denn der Glaube gewinnt nicht gleich beim ersten Ansturm den Sieg, sondern er geht erst nach langen harten Ringen als Sieger aus diesem Kampfe hervor. Ich will jedoch nicht behaupten, dass David ein so mutiger und siegreicher Held gewesen sei, dass sein Glaube nie geschwankt habe. Denn wenn die Gläubigen auch so ernstlich sich bemühen, sich ganz Gott zu übergeben, so haben sie doch immer noch mit einiger Schwachheit zu kämpfen. Hieraus weist uns auch die Verrenkung Jakobs hin, von der Mose uns (1. Mo. 32, 26) erzählt. Denn wenn er auch im Kampfe die Oberhand behielt, so trug er doch ein Zeichen seines schlimmen Mangels davon. Durch solche Beispiele ermuntert Gott die Seinen zum Ausharren, damit sie nicht den Mut verlieren, wenn ihre Schwäche ihnen zum Bewusstsein kommt. Wir müssen daher die Regel befolgen, dass wir, wenn unser Fleisch ungestüm wird und uns mit heftigem Drange zur Ungeduld fortreißen will, dagegen ankämpfen, um es in Schranken zu halten. Das wird zur Folge haben, dass unser Glaube, wenn wir auch erschüttert werden, doch immer wieder aus dem Schiffbruch hervortaucht. Aus dem Wortlaut der Klage können wir abnehmen, dass David nicht ohne Grund immer wieder dasselbe Wort gebraucht, um seinen Glauben zu stärken. Denn er sagt nicht nur, dass er von Gott verlassen sei, sondern er fügt noch hinzu, dass seine Hilfe ferne sei, weil Gott ihm, obwohl er sah, dass er in Gefahr war, doch kein Zeichen guter Hoffnung gab. Denn wenn Gott doch helfen kann und dennoch gleichgültig zu ruhen scheint, wenn er unser Wohlergehen durch feindlichen Übermut bedroht sieht, - sollte man da nicht sagen, dass er seine Hand zurückgezogen habe und uns nicht helfen wolle? Auch dass David sagen muss: „Ich heule“, - zeigt uns, dass schwere Plagen ihn quälten. Sicherlich war er nicht so weichherzig, dass ein gewöhnliches Leid ihm Veranlassung zum Heulen gegeben hätte. Es muss also ein ungeheurer Kummer gewesen sein, der dem sonst so stillen Mann, der gewohnt war, die Leiden mit starkem Mut zu ertragen, solche Seufzer auspresste. – Als Christus am Kreuze hing, hat er, bevor er seinen Geist aufgab, den Anfang unseres Psalms wiederholt (Mt. 27, 46). Da fragt man, wie der Sohn Gottes so vom Schmerz überwältigt werden konnte, dass er klagend ausrufen musste, sein Vater habe ihn verlassen. Diesen scheinbaren Widersinn suchen viele Ausleger durch Ausflüchte zu beseitigen: Christus soll mehr aus dem Sinne des umstehenden Volkes als aus seiner eigenen Empfindung heraus gesprochen haben. Aber man tut gedankenlos der Wohltat der Erlösung großen Abbruch, wenn man den Herrn Christus so darstellt, als habe er nichts von den Schrecken empfunden, welche das Gericht Gottes den Sündern einflößt. Die Furcht, dass Christi Herrlichkeit Schaden leide, wenn man ihn so gewaltigem Schmerz unterworfen denkt, ist unbegründet. Petrus bezeugt deutlich (Apg. 2, 24), dass Christus unmöglich von den Schmerzen des Todes gehalten werden konnte; daraus folgt, dass er von ihnen nicht frei gewesen ist. Da er für uns eingetreten war und unsere Schuld auf sich genommen hatte, so musste er sich auch an Stelle des Sünders vor Gottes Richterstuhl stellen. Daher jene Angst und jener Schrecken, der ihn trieb, um Erlösung vom Tode zu bitten. Nicht als ob es für ihn bitter gewesen wäre, aus dem Leben zu scheiden: aber er hatte den Fluch vor Augen, den Gott auf die Sünder gelegt hatte. Wenn ihm schon zu Beginn des Ringens blutige Tränen ausgepresst wurden, so dass ein Engel ihn trösten musste (Lk. 22, 43), so brauchen wir uns fürwahr nicht zu wundern, dass er beim entscheidenden Ende des Kampfes einen solchen Schmerzensruf ausstieß. Übrigens ist zu beachten, dass Christus zwar menschlich fühlte wie wir, dass er aber nie in fleischlicher Schwachheit zu Fall kam: die Reinheit seiner Natur bewahrte ihn vor dem Übermaß. Er konnte also die Versuchungen, mit denen Satan ihn angriff, so besiegen, dass er keine Wunde davon trug, die ihn zum Krüppel gemacht hätte. Unzweifelhaft hat aber Christus durch diesen Ruf bewiesen, dass David in diesem Psalm in prophetischem Geiste auf ihn schaut, wenn er auch über sein eigenes Leid klagt.

V. 3. Mein Gott, des Tages rufe ich usw. In diesem Verse gibt David zu erkennen, dass sein Unglück schon lange Zeit dauert, und dass es dadurch für ihn zu einer schweren und drückenden Last geworden ist. Hierzu kam noch eine schwere Versuchung, nämlich dass es schien, als ob all sein Beten umsonst sei. Wenn wir ihn Not sind, so ist es das Einzige, was uns Hilfe schafft, dass wir Gott anrufen. Was bleibt uns aber übrig, wenn das Gebet keinen Erfolg hat? David klagt also darüber, dass Gott sozusagen taub gegen seine Bitten sei. Im zweiten Teil des Verses sagt er, dass er des Nachts keine Ruhe habe. Der Sinn dieser Worte ist, dass er keinen Trost empfinde, durch den sein Herz beruhigt würde. Denn so lange die Qual ihn drückte, wurde er durch die Unruhe seines Geistes zum Schreien getrieben. Hierin zeigt sich die Standhaftigkeit seines Glaubens. Selbst lang dauernde Leiden konnten ihn nicht brechen. Und dieses ist die erste Regel für das Gebet, dass man, selbst wenn das Beten vergeblich scheint, doch davon nicht abstehe. Dabei gestattet Gott den Gläubigen, dass sie, wenn ihre Wünsche eine Zeitlang unerfüllt bleiben, auch ihre Angst vor ihm ausschütten.

V. 4. Aber Du bist heilig. Einige meinen, dass hier Gottes Ewigkeit und Unveränderlichkeit dem Elend, unter dem David zu leiden hatte, gegenübergestellt werde. Dem kann ich nicht zustimmen, da sich eine einfachere und natürlichere Erklärung bietet. Der Satz erinnert mit Blick auf die vorigen Zeiten, dass Gott sich dem erwählten Volke immer gnädig gezeigt habe. Denn es handelt sich hier nicht darum, wie Gott sich im Himmel, sondern wie er sich den Menschen offenbart. Nur dies lässt sich noch fragen: Soll dieser Hinweis Davids Klage noch steigern, dass gerade nur er bei Gott keine Erhörung finde? Oder hält er die Tatsache, dass Gott immer der Befreier der Seinen gewesen ist, sich als ein Schild vor, um damit die Versuchung abzuwehren? Ich entscheide mich für die letztere Erklärung, wenn ich auch zugebe, dass David mit diesen Worten seinen Schmerz noch mehr zum Ausdruck bringen will. Es war für ihn eine schwere Versuchung, sich von Gott verlassen zu sehen; und um diese nun nicht durch fortwährende Betrachtung seines Leidens zu vergrößern, wendet er seine Gedanken auf die unaufhörlichen Beweise der göttlichen Gnade, um dadurch etwas Hoffnung und Linderung zu bekommen. Er wollte also nicht nur fragen, wie es komme, dass Gott, der doch sein Volk immer mit Milde behandelt habe, jetzt gleichsam sein Wesen verleugne und einen unglücklichen Menschen ohne allen Trost und ohne alle Hilfe lasse, sondern er ergreift auch den Schild, um sich gegen die feurigen Pfeile Satans zu schützen. „Heilig“ heißt Gott, weil er sich immer gleich bleibt. Unter dem Lob Israels wohnt er, weil er sich immer als Wohltäter seines erwählten Volkes erwiesen hat, so dass es ihnen nie an Stoff fehlte, ihn zu loben und ihm fortwährend zu danken. Da David auch ein Glied dieses Volkes war, so stemmt er sich gegen alle Hindernisse, indem er die Hoffnung ausspricht, dass auch er einst in Gemeinschaft mit seinem Volke Gottes Lob singen werde.

V. 5. Unsere Väter hofften auf dich. Damit wird der Grund angegeben, weswegen Gott unter dem Lobe seines Volkes wohnt. Die Ursache ist, dass Gott immer seine Hand ausgestreckt hat, um die Gläubigen zu beschützen. Denn David ruft sich, wie wir sagten, die Zeugnisse aller Zeiten ins Gedächtnis zurück, um sich daran aufzurichten und zu stärken, und um sich in dem Bewusstsein zu befestigen, dass Gott auch ihn mit seiner Hand beschützen werde, da er ein Glied des auserwählten Volkes nicht verwerfen kann. Deshalb hebt er auch ausdrücklich hervor, dass er von denen abstamme, die erhört worden seien. Damit will er erinnern, dass auch er ein Erbe derselben Gnade sei, die sie erfahren haben. Er blickt nämlich auf den Bund, durch den Gott des Geschlechtes Abrahams sich angenommen hat. Es hat wenig Wert, dass wir die Beweise des Erbarmens, die Gott seinen Knechten erwiesen hat, im Gedächtnis haben, wenn wir uns nicht zu ihnen rechnen, wie David sich hier in die Gemeinde Gottes mit einschließt. Wenn er dreimal wiederholt, dass die Väter bei ihrem Hoffen Rettung erfuhren, so will er in aller Ehrfurcht dem Herrn zu verstehen geben, dass er dieselbe Hoffnung hege wie sie. Das ist aber wichtig, wenn wir die Wirkung der göttlichen Verheißungen erfahren wollen. Denn um die Wohltaten, die Gott einst seinen Knechten erwiesen hat, uns nutzbar zu machen, müssen wir unser Auge auf die Verheißungen der Gnade und den Glauben richten, der sich darauf stützt. Zum Beweise, dass dieser Glaube der Väter nicht kalt und tot war, dient der Ausdruck, dass sie „schrien“. Wenn jemand sagt, dass er auf Gott vertraue, und dabei in seinem Leiden gefühllos verharrt, ohne Gott anzuflehen, so ist er ein unverschämter Lügner. Die Wahrheit des Glaubens erkennt man am Beten, wie die Güte des Baumes an seiner Frucht. Hierbei ist aber zu beachten, dass nur solche Gebete vor Gott gelten, die aus dem Glauben hervorgehen und mit dem Glauben verbunden sind.

V. 7. Ich aber bin ein Wurm. David murrt nicht gegen Gott, als behandle er ihn unwürdig, sondern beklagt nur sein Los; und um den Herrn desto mehr zum Mitleid zu bewegen, sagt er, dass er in seinem Zustande gar kein Mensch mehr zu sein scheine. Das lautet schwermütig und ungläubig: aber der Zusammenhang lässt ersehen, dass David ganz im Gegenteil seine jämmerliche Lage schildert, um seine Zuversicht auf Erleichterung zu stärken. Denn es steht ihm fest, dass bei einem so elenden und verzweifelten Zustande der Herr seine Hand unmöglich länger zurückhalten könne. Denn wenn Gott sich über alle erbarmt hat, die nur überhaupt einigermaßen bedrückt waren, wie konnte er dann seinen Knecht verlassen, der in den tiefsten Abgrund aller Leiden gestürzt war? Wenn daher Leiden aller Art auf uns eindringen und uns zu überwältigen drohen, so muss dies für uns vielmehr ein Grund zur Hoffnung auf Erlösung sein als zur Verzweiflung. Da Gott diesen seinen vorzüglichen Knecht so hart geprüft und ihn so tief gebeugt hat, dass er selbst unter den verachtetsten Menschen keinen Platz mehr fand, so dürfen wir uns gegen ähnliche Demütigungen nicht sträuben. Vor allem müssen wir aber an den Sohn Gottes denken, an dem, wie wir wissen, dieses auch erfüllt worden ist, wie schon Jesaja (53, 3 f.) in seiner Weissagung bezeugt hat: „Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg.“ Der himmlische Ruhm des Sohnes Gottes wird aber dadurch nicht verdunkelt, dass er sich so tief hat erniedrigen lassen, sondern dieses ist vielmehr ein Zeichen seiner unvergleichlichen Gnade gegen uns.

V. 8 u. 9. Alle die mich sehen, spotten mein. Dies ist eine Ausführung des vorigen Satzes. David hatte gesagt, dass er den Geringsten, ja dem Auswurfe des Volkes, zum Spott sei. Nun erzählt er, welche Schmach alle ihm angetan haben, dass sie sich nicht damit begnügt hätten, ihn mit Worten zu schmähen, sondern dass sie das Maul aufgesperrt und den Kopf geschüttelt und so selbst durch ihre Gebärden ihren Mutwillen gezeigt hätten.

Aber was folgt, war noch viel bitterer für ihn (V. 9): sie hielten ihm vor, dass Gott, den er seinen Vater nenne, sich wider ihn gekehrt habe. Wir wissen ja, dass David, wenn er sich von der Welt ungerecht verdammt sah, sich mit dem Gedanken zu trösten pflegte, dass Gott im Himmel sein Beschützer sei. Nun beschuldigten ihn alle, dass er nur in eitler Prahlerei sich der Hilfe Gottes gerühmt habe. Sie sagten: Wo ist nun der Gott, auf den er vertraute? Wo ist die Liebe, auf die er sich verließ? Kein tödlicheres Geschoss besitzt Satan, um die Seelen zu verwunden, als wenn er Gottes Verheißungen zum Gespött macht, um dadurch unsere Hoffnungen zu zerstören. Ja die Leute sagten nicht nur, dass Davids Gebete vergeblich gewesen seien und dass er sich in der Liebe Gottes getäuscht habe, sondern sie brandmarkten ihn nebenbei auch als einen Heuchler, der sich ohne Grund auf Gott berufen habe, der nichts von ihm wissen wolle. Wie schwer diese Versuchung war, kann ein jeder selbst fühlen. Das Mittel, welches David gegen sie anwendet, bestätigt die Reinheit seines Glaubens. Denn wenn er nicht fest davon überzeugt gewesen wäre, dass Gott sein Zeuge sei, so würde er es nie gewagt haben, diese Klage vor ihn zu bringen. Deshalb müssen wir bemüht sein, dass die innere Reinheit unseres Herzens für uns vor Gott zeuge, wenn die Menschen uns Heuchelei vorwerfen. Und wenn Satan mit seinem beißenden Spott uns den Glauben nehmen will, so muss dieses unser heiliger Anker sein, dass wir den Herrn als Zeugen anrufen, damit er seine Gerechtigkeit dadurch kundtue, dass er uns beschützt. Denn eine schlimmere Entweihung des göttlichen Namens lässt sich nicht denken, als wenn man sagt, dass Menschen, die ihre Hoffnung auf ihn setzen, sich in einer eitlen Zuversicht blähen, oder dass der Glaube an Gottes Liebe ein Wahn sei. Da der Sohn Gottes mit denselben Waffen angegriffen wurde, so wird Satan die Gläubigen, die ja Christi Glieder sind, ebenso wenig verschonen. Daher müssen sie mit dem Schilde sich wappnen, dass wenn sie auch bei den Menschen verachtet sind, ihre Gebete trotzdem nicht umsonst sein werden, wenn sie ihre Sorgen auf Gott werfen. Das Wort „werfen“ kennzeichnet aufs Beste das Wesen und die Kraft des Glaubens, der dadurch, dass er sich auf Gottes Vorsehung stützt, unsere Herzen von allen Lasten der Sorge und Mühsal befreit.

V. 10 u. 11. Denn du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen. David richtet hier eine neue Schanze auf, um den Angriffen Satans Widerstand zu leisten und sie abzuweisen. Er ruft sich die Wohltaten Gottes ins Gedächtnis zurück, die ihn gelehrt haben, dass Gott schon von seiner Geburt an sein Vater war. Schon aus diesen ersten Beweisen der Liebe Gottes entnimmt er zureichenden Grund zu der Hoffnung, dass sein Leben erhalten bleiben werde, wenn ihn jetzt auch das Dunkel des Todes umgibt. Hier ist Weisheit, welche der heilige Geist die Gläubigen lehren will: sie sollen sich, wenn sie vor Gefahren zittern, die Beweise der göttlichen Gnade vorhalten, die imstande sind, ihren Glauben zu stärken. Da Gott nie müde wird, uns Wohltaten zu erweisen, und sein göttlicher Schutz unerschöpflich ist, so dürfen wir fest überzeugt sein, dass er bis zum hohen Alter unser Vater bleiben wird, wie er von unserer ersten Kindheit an sich als solcher gezeigt hat. Unser Vers prägt ein, dass schon in der natürlichen Geburt der Kinder und in ihrer Ernährung an der Mutter Brust sich Gottes wunderbare Vorsehung offenbart. Dieses Wunder macht nur deshalb keinen Eindruck auf uns, weil wir an dasselbe gewöhnt sind. Würde jedoch der Undank uns nicht gefühllos machen und unsere Augen verdunkeln, so würde jede einzelne Geburt in der Welt uns zur Bewunderung fortreißen; denn wenn Gott nicht mit seiner geheimen unbegreiflichen Kraft das Leben im Grabe des Mutterleibes bewahrte, so würde die Frucht hundertmal zergehen, bevor die Zeit der Geburt gekommen ist. Ja auch nach der Geburt könnten die Kinder nicht einen Tag leben, wenn Gott sie nicht in seine besondere Fürsorge nehmen würde, da sie so vielen Leiden bloßgestellt sind und selbst nicht einmal einen Finger zu ihrer Verteidigung erheben können.

Mit Recht heißt es daher (V. 11.), dass die Kinder auf ihn geworfen sind; denn wenn er nicht für die zarten Kleinen sorgte und Ammenstelle bei ihnen verträte, würden sie schon gleich bei der Geburt sterben, da der Tod ihnen von hundert Seiten droht. Aus alledem zieht David den Schluss: Du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an. Denn wenn der Herr auch den unvernünftigen Tieren äußerlich angesehen eine ähnliche Gnade erweist, so zeigt er sich doch dem menschlichen Geschlecht in besonderer Weise als Vater. Gibt er sich auch unserem Bewusstsein nicht gleich von der Geburt an persönlich zu erkennen, so kann David doch sagen: Du warst meine Zuversicht, da ich noch an meiner Mutter Brüsten war. Denn Gott zeigt tatsächlich, dass er das Leben der jungen Kinder schützt, und lockt sie damit gleichsam zu sich, so wie es anderwärts (Ps. 147, 9) heißt, dass er den jungen Raben ihr Futter gibt, die ihn anrufen. Wenn Gott den Seinen schon in einer Zeit, da sie von ihm nichts wissen, mit seiner Gnade zuvorkommt, so wird er sie in ihrer Hoffnung gewiss nicht täuschen, wenn sie ihn suchen und zu ihm beten. Hierauf stützt David sich im Kampfe wider die Versuchungen, und mit diesem Glauben sucht er sie zu überwinden.

V. 12. Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe. Damit führt er noch einen anderen Grund an, um Gott zum Mitleid zu bewegen. Ich zweifle nicht, dass er sich das vorhält, was die Schrift uns an verschiedenen Stellen lehrt, nämlich dass Gott für die Elenden umso gewisser als Helfer bereit steht, je größer die Not ist. So ist also selbst die Verzweiflung für David eine Leiter, auf der sein Geist emporsteigt, um neue Gebetsfreudigkeit zu bekommen. So muss auch uns der Schmerz unserer Leiden unter die Flügel Gottes treiben, damit er mit seiner Hilfe uns nahe sei. Dann wird er es zeigen, dass er für unser Heil Sorge trägt.

V. 13 u. 14. Große Farren haben mich umgeben. Jetzt beklagt sich David über die Wildheit seiner Feinde und ihre grimmige Wut. Zuerst vergleicht er sie mit Stieren, dann mit Löwen und endlich mit Hunden. Wir wissen ja, wie schrecklich der Angriff der Stiere ist, wenn sie in Wut geraten sind. Auch der Löwe ist ein Tier, das dem Menschen feind und für ihn schrecklich ist; endlich ist bekannt, wie groß die Wildheit der Hunde ist, und welch großen Schaden sie anrichten können, wenn sie wütend auf die Menschen losstürzen. David will also sagen, dass seine Feinde so blutdürstig und grausam seien, dass sie mehr wilden Tieren als Menschen gleichen. Starke Basans nennt er sie, weil die Stiere Basans gut genährt und deswegen von hohem Wuchs und stark waren. Denn jenes Gebirge des Ostjordanlandes war durch seine fetten Weiden berühmt.

V. 15. Ich bin ausgeschüttet wie Wasser usw. Bisher hat David gesagt, dass er von wilden Tieren rings umgeben und dem Tode nahe sei, da sie ihn jeden Augenblick zu verschlingen drohten. Jetzt beklagt er auch sein inneres Leid. Daraus schließen wir, dass er gegen die Gefahren nicht abgestumpft war. Es ist das keine gewöhnliche Angst, wenn man fast vergeht, wenn alle Gebeine sich zertrennen und das Herz zerschmilzt. Wir sehen also, dass David nicht wie ein unbeweglicher Fels von den Fluten gepeitscht wurde; vielmehr waren seine innerlichen Kämpfe so heftig, dass er bei seiner Schwachheit sie nicht ausgehalten hätte, wenn ihn nicht die Kraft des heiligen Geistes gestützt hätte. Ich habe schon zuvor darauf hingewiesen, wie dieses in Christo erfüllt worden ist. Da er wahrer Mensch war, so war er auch der Schwachheit unseres Fleisches unterworfen, doch ohne Sünde. Die menschlichen Gefühle waren bei ihm durch die Sündlosigkeit seiner Natur nicht zerstört, sondern nur so gemäßigt, dass sie das richtige Maß nicht überschritten. Die Größe der Schmerzen konnte ihn wohl schwächen, aber nicht hindern, sich mit klarem Bewusstsein auch unter den größten Qualen seinem Vater zu unterwerfen. Uns ist dasselbe nicht gegeben: denn unsere Gefühle sind zu stürmisch, und wir können sie so wenig beherrschen, dass sie uns mit ihrem Ungestüm bald hierhin, bald dorthin reißen. Wir müssen aber nach Davids Beispiel uns zusammennehmen und, wenn wir vor Schwäche fast entseelt sind, zu Gott seufzen, dass er uns wiederherstelle.

V. 16. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe. David meint die Kraft, die der innere Lebenssaft verleiht. Hieraus bezieht sich auch das Folgende: meine Zunge klebt an meinem Gaumen. Wir wissen ja, dass ein unmäßiger Schmerz nicht nur den Lebensgeist erschöpft, sondern auch fast allen Saft vertrocknet. Dass jemand schon in des Todes Staub liegt, will besagen, dass ihm alle Lebenshoffnung geschwunden ist. In diesem Sinne sagt Paulus (2. Kor. 1, 9): „Wir hatten bei uns beschlossen, wir müssten sterben.“ David drückt sich aber etwas stark aus, um unsere Gedanken auf ein tieferes Geheimnis zu führen: denn er schildert hier Christi schrecklichen Kampf mit dem Tode, bei dem sein Schweiß wie Blutstropfen wurde, seinen Abstieg zur Hölle, wo er den Zorn Gottes, den die Sünder verdient, kosten musste, überhaupt seine ganze Erniedrigung. Für das alles reichen aber gewöhnliche Worte nicht hin. David redet hier vom Tode, wie hoffnungslose Leute zu tun pflegen, die in ihrer Angst und Bestürzung nur Staub und das Nichts vor sich sehen. Wenn eine solche Dunkelheit die Herzen der Heiligen überfällt, so ist darin immer etwas vom Unglauben, der sie daran hindert, sich gleich zum Licht des neuen Lebens zu erheben. In Christo war dagegen beides in wunderbarer Weise vereinigt: die Furcht, die Gottes Fluch ihm einflößte, und die Geduld, die eine Frucht seines Glaubens war und alle seine Erregungen so besänftigte, dass er sich ruhig der Regierung Gottes übergab. Wir haben nicht die gleiche Kraft. Doch wenn wir auch dann, wenn wir nur den Untergang vor Augen haben, für kurze Zeit bestürzt daliegen, so müssen wir uns doch allmählich zu der Hoffnung erheben, welche die Toten lebendig macht.

V. 17. Sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Wie die Worte im hebräischen Text lauten, müssten sie übersetzt werden: „Löwen gleich meine Hände und Füße.“ Das gibt entweder überhaupt keinen Sinn, oder man kann durch Ergänzungen den noch immer sehr unbefriedigenden Sinn gewinnen: Löwen gleich umgeben die Feinde meine Hände und Füße. Aber warum gerade nur diese Glieder? Dagegen lässt sich durch eine sehr glaubhafte Vermutung leicht1) der Sinn gewinnen, den unsere Übersetzung ausdrückt. Heutzutage schlagen fast alle Ausleger diesen Weg ein, und die Juden haben gar keinen Anlass zu der Klage, dass die Christen geflissentlich den Text in diese Richtung biegen wollten. Viel eher fällt der Verdacht auf sie, dass sie dem gekreuzigten Jesus die Kennzeichen haben nehmen wollen, die ihn als Messias und Erlöser erscheinen lassen. Wenn man sagt, dass David nicht ans Kreuz geschlagen wurde, so löst sich dieser Einwurf leicht: er klagt mit bildlichem Ausdruck, wie er uns ähnlich öfter begegnet, dass seine Feinde ihn so quälten, als hefteten sie ihn mit durchbohrten Händen und Füßen an ein Holz.

V. 18 u. 19. Ich kann alle meine Gebeine zählen. David klagt, dass sein Körper so abgemagert sei, dass die Knochen hervortreten. Dann setzt er noch hinzu, dass seine Feinde an diesem Anblick ihre Freude hätten. Denn ihre Wildheit ist so unersättlich, dass sie, obgleich sie sehen, wie ermattet und aufgerieben er ist, doch ihre Augen an diesem traurigen Schauspiel weiden. Was im Folgenden über die Kleider gesagt wird, ist bildlich zu verstehen. Es bedeutet, dass alle seine Güter ein Raub der Feinde geworden sind, - wie Sieger die Beute unter sich verteilen und zu verlosen pflegen, damit ein jeder sein Teil erhalte. Er vergleicht seinen Schmuck und sein Vermögen, kurz alles, was er besitzt, mit Kleidern und beklagt sich darüber, dass die Feinde seine Habe sich angeeignet haben und nun mit Hohn unter sich verteilen, als handelte es sich um eine Siegesbeute. Und sein Schmerz wird noch dadurch vergrößert, dass sie über ihn triumphieren, als wenn er bereits tot wäre. Die Evangelisten (Mt. 27, 35; Joh. 19, 24) beziehen diese Stelle wörtlich auf Christum. Darin liegt nichts Widersinniges. Denn der himmlische Vater wollte, dass das, was sich bei David nur schattenhaft zeigte, in seinem Sohne sichtbar erfüllt werde: so können wir nicht zweifeln, dass unser Psalm in prophetischem Geiste uns Christum vor die Augen malt. Ähnlich bezieht Matthäus (8, 17) die Weissagung des Jesaja, dass Christus unsere Schwachheiten auf sich nehmen werde, auf seine Heilungen von Gichtbrüchigen, Lahmen und Blinden, - obgleich die Worte des Propheten vielmehr von dem Arzt der Seele reden. Da wir jedoch zu träge sind, zu glauben, so ist es nicht zu verwundern, dass uns ein so handgreiflicher Beweis gegeben wird, um uns aus dem Stumpfsinn aufzuwecken.

V. 20 u. 21. Aber du, Herr, sei nicht ferne. Wir müssen uns anschaulich vorstellen, was David soeben aussprach: sein Elend war aufs Höchste gestiegen, und trotzdem zeigte sich kein Funke von Erlösung. Da ist es ein wunderbares Zeugnis seines Glaubens, dass er nicht nur geduldig aushielt, sondern sich aus dem Abgrunde der Verzweiflung zur Anrufung Gottes erhob. Lasst uns daher wohl beachten, dass David nicht unnütze Klagen ausstieß, wie ängstliche Leute oft zwecklos jammern. Die seinen Klagen angehängten Bitten zeigen uns zur Genüge, dass er auf die Errettung, die er sich wünschte, auch gehofft hat. Ja, dass er den Herrn seine Stärke nennt, gibt noch ein besonders deutliches Zeugnis seines Glaubens. Er betet nämlich nicht zweifelnd, sondern verspricht sich die Hilfe, die er noch nicht sieht. Mit dem Schwert, den Hunden, dem Rachen des Löwen und den Einhörnern meint er die mannigfachen Todesgefahren, in denen er sich zurzeit befindet. Daraus schließen wir, dass er, wenn er auch, vom Tode umgeben, an sich selbst verzweifelte, trotzdem stark war im Herrn, und dass der Geist des Lebens in seinem Herzen noch immer mächtig war. Seine Seele bezeichnet David als seine „einsame“. Da es buchstäblich heißt, „meine einzige“, so findet mancher Erklärer damit die einzige Kostbarkeit der Seele bezeichnet. Das passt aber nicht, Er will vielmehr sagen, dass der Tod ihm von allen Seiten drohe, und dass sich für ihn in der ganzen Welt keine Hilfe zeige. In demselben Sinne heißt die Seele (Ps. 35, 17) einsam, weil sie von allen Hilfsmitteln entblößt ist. Noch deutlicher zeigt sich dies Ps. 25, 16. Dort sagt David, dass er einsam und elend sei. Ohne Zweifel ist dies eine Klage darüber, dass er aller Freunde beraubt und von der ganzen Welt verlassen war.

V. 22. Erhöre mich von den Einhörnern. Ist der Ausdruck auch etwas ungewöhnlich, so doch nicht unverständlich: es wird eben zur Beschreibung der Wirkung an die Ursache erinnert. Wenn Gott uns erhört, werden wir von drohenden Gefahren errettet. – Nun ließe sich fragen, wieso alle diese Aussagen auf Christus bezogen werden können, den doch tatsächlich der Vater nicht vom Tode errettete. Zur Antwort genügt der eine Hinweis, dass er mächtiger dem Tode entrissen wurde, als wenn er ihm überhaupt nicht überlassen worden wäre. Denn es ist etwas Größeres, vom Tode wieder aufzuerstehen, als von schwerer Krankheit geheilt zu werden. Christi Auferstehung war das endliche Zeugnis dafür, dass er erlöst ward: daran konnte der Tod nichts hindern.

V. 23. Ich will deinen Namen predigen meinen Brüdern. David verspricht, dass er sich nicht undankbar erweisen werde, wenn der Herr ihn befreit. Dieses bestätigt, was ich schon früher sagte, dass er durch die Versuchung niemals so entmutigt worden ist, dass er den Widerstand aufgegeben hätte. Denn wie könnte er sich anschicken, Gott das Opfer des Dankes darzubringen, wenn er nicht im Voraus von seiner Rettung überzeugt gewesen wäre? Denn gesetzt auch, der Psalm wäre erst später gedichtet worden, nachdem David längst empfangen hatte, um was er hier fleht, - so spricht er doch ohne Zweifel die Gedanken aus, die er schon in der Zeit der Not fasste. Weiter ist zu beachten, dass David keine gewöhnliche Danksagung verspricht, sondern eine solche, wie Gott sie für seltene Wohltaten fordert: er will mit den Gläubigen im Heiligtum zusammenkommen, damit sie dort im feierlichen Gottesdienst Zeugnis ablegen von der Gnade, die sie erfahren haben. Denn die öffentliche Danksagung hat zunächst den Zweck, dass die Gläubigen sich in jeglicher Weise üben, Gott zu dienen; zweitens, dass sie sich hierzu gegenseitig ermuntern. Wir wissen ja, dass Gott seine unglaubliche Macht durch Wunder aller Art bei der Rettung Davids offenbart hat. Daher ist es nicht zu verwundern, dass er sich durch ein feierliches Gelübde verpflichtet, seine Frömmigkeit zu bekennen. Mit den Brüdern meint er die Israeliten. Er nennt sie nicht nur deswegen so, weil sie seine Stammesgenossen sind, sondern vor allem, weil die gemeinsame Religion sie wie ein heiliges Band zu einer geistlichen Verwandtschaft untereinander verband. Diesen Vers bezieht der Apostel (Hebr. 2, 12) auf Christum. Aus dem Umstand, dass Christus uns als seine Brüder anerkennt und uns eines so ehrenden Namens würdigt, schließt er, dass er dieselbe Natur wie wir besitzt und durch die wahre Gemeinschaft des Fleisches mit uns verbunden ist. Ich habe schon einige Male gesagt (was aus dem Schlusse des Psalms leicht erwiesen werden kann), dass David hier als ein Schattenbild Christi dasteht. Es ist daher eine treffende und weise Bemerkung des Apostels, dass durch diese Benennung das Recht unserer brüderlichen Gemeinschaft mit Christo bezeugt wird. In gewisser Beziehung betrifft dies für das ganze menschliche Geschlecht zu. Doch haben die Gläubigen hiervon allein den wahren Genuss. Deshalb gebraucht Christus diese Anrede auch nur in Bezug auf seine Jünger, wenn er der Maria Magdalena sagt (Joh. 20, 17): „Gehe hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ Denn die Gottlosen haben durch ihren Unglauben diese verwandtschaftliche Verbindung, durch die er sich mit uns verbunden hat, aufgelöst, so dass sie ihm durch eigene Schuld ganz entfremdet worden sind. Denn so wie David, obgleich er sich mit diesen Worten an das ganze Geschlecht Abrahams wendet, doch bald nachher nur besonders zu den wahren Verehrern Gottes spricht, so sieht auch Christus, obwohl er nach Niederreißung der Scheidewand allen Völkern die Annahme zur Kindschaft verkündigt und sich dadurch allen als Bruder angeboten hat, doch in Wahrheit nur die Gläubigen als seine Brüder an.

V. 24. Rühmt den Herrn, die ihr ihn fürchtet. Hier behandelt David die zweite Frucht der öffentlichen Danksagung, von der ich schon gesprochen habe, noch eingehender, nämlich, dass jeder einzelne durch sein Beispiel die ganze Gemeinde zum Lobe Gottes anfeuert. Er sagt nämlich, dass er zu dem Zweck Gottes Namen in der Versammlung verherrlichen werde, um dadurch seine Brüder zu veranlassen, dasselbe zu tun. Da aber in die Kirche sich meistens auch Heuchler einschleichen und auf der Tenne Gottes der Weizen mit Spreu vermischt ist, so redet er die Frommen und Gottesfürchtigen besonders an. Und gewiss, wenn unreine Menschen auch aus voller Kehle Gottes Lob ertönen lassen, so entheiligen sie doch nur seinen heiligen Namen. Es wäre ja zu wünschen, dass alle Klassen der Menschen in den Lobgesang einstimmten. Da aber das erste Erfordernis harmonischen Zusammenklangs dies ist, dass der Gesang aus aufrichtig bewegten Herzen komme, so wird nur der ein rechter Herold der Herrlichkeit des Herrn sein, der ihn mit wahrer Ehrfurcht preist. Alsbald redet David allerdings von dem Samen Jakobs und Israels im Hinblick auf die gemeinsame Berufung des Volkes. Und sicherlich lag es nicht an ihm, wenn nicht alle Kinder Abrahams den Herrn mit einem Munde lobten. Da er aber sah, dass viele Israeliten entartet waren, so hob er die wahren und echten Glieder zuvor besonders heraus als solche, die den Herrn in Wahrheit fürchten. Damit zeigt er auch zugleich, dass Gottes Name nur da recht gepriesen wird, wo die innere Frömmigkeit lebendig ist. Daher verbindet er auch die Ehrfurcht aufs Neue mit dem Lobe Gottes, indem er ermahnt: vor ihm scheue sich aller Same Israels. Denn alles, was die Heuchler in dieser Beziehung zur Schau tragen, ist eitel. Die Ermahnung zur Furcht will uns aber nicht abschrecken und den Zugang zu Gott verschließen, sondern nur als recht demütige Leute in sein Heiligtum einführen (vgl. Ps. 5, 8). Sollte sich jemand darüber wundern, dass David hier Menschen zur Gottesfurcht ermahnt, die er kurz vorher deswegen gelobt hat, so ist die Antwort zur Hand, dass auch die Heiligsten nie in der Weise von Gottesfurcht erfüllt sind, dass sie keiner fortwährenden Anregung mehr bedürften. Daher ist es nicht überflüssig, dass er hier denen, die Gott fürchten, befiehlt, sich vor ihm zu scheuen, damit sie in Einfalt des Herzens vor ihm niederfallen.

V. 25. Denn er hat nicht verachtet usw. Diese gegenseitige Gemeinschaft muss unter den Gläubigen bestehen, dass sie sich untereinander Glück wünschen und gemeinsam für die Rettung jedes einzelnen danken. So lehrt auch Paulus (2. Kor. 1, 11): „Auf dass über uns für die Gabe, die uns gegeben ist, durch viele Personen viel Danks geschehe.“ Ferner will David durch dieses Bekenntnis den Gläubigen Hoffnung machen, dass Gott einem jeden einzelnen von ihnen dieselbe Barmherzigkeit erweisen werde. Dabei lernen wir auch aus diesen Worten, dass, wenn es dem Herrn gut scheint, uns Mangel leiden zu lassen, wir diese Heimsuchung so lange geduldig ertragen müssen, bis er uns in unserer Not zu Hilfe kommt.

V. 26. Dich will ich preisen in der großen Gemeine. David will damit bezeugen, dass er seine Errettung allein Gott verdankt. Wir wissen ja, dass viele unter dem Vorwande, dem Herrn zu danken, nur ihr eigenes und der Ihrigen Lob ausposaunen und mit Hintansetzung Gottes die Gelegenheit benutzen, um ihre Erfolge zu besingen. Zugleich wiederholt David, was er schon früher aussprach, dass er öffentlich seinen Dank bezeugen wolle, um dadurch andere zu erbauen. Er will dies aber nicht tun, ohne eine feierliche Übung der Frömmigkeit, die das Gesetz vorschreibt. Denn bei schwierigen Unternehmungen, und wenn eine Gefahr drohte, pflegten die Juden ein Dankopfer zu geloben, und dieses Gelübde wurde bezahlt und ausgeführt, wenn sie ihren Wunsch erfüllt bekommen hatten. Da David auch zu der Zahl der Heiligen gehörte, richtete er sich wie billig nach dieser allgemeinen Regel der Gemeinde. Er berichtet also von Gelübden, die er in der größten Not ausgesprochen hat und zu deren Erfüllung er sich jetzt mutig, freudig und zuversichtlich anschickt. Wenn er nun diese heiligen Handlungen auch vor allen Anwesenden ohne Unterschied ausüben musste, so spricht er doch aufs Neue den Wunsch aus, dass alle, die dabei zugegen sein würden, lautere Verehrer Gottes sein möchten. Haben wir es auch nicht in der Hand, die Gemeinde zu reinigen, so ist es doch unsere Pflicht, die Reinheit zu wünschen.

V. 27. Die Elenden sollen essen. Dies bezieht sich auf eine damals übliche Sitte. Mit den Opfern pflegte nämlich ein Gastmahl verbunden zu sein. David verspricht nun ein solches Mahl, das zugleich eine Übung der Liebe und ein Zeugnis derselben sein soll. Und schließlich sind ja auch nur solche Opfer, die mit Güte und Mitleid verbunden sind, Gott lieb und angenehm. Sonst sind alle heiligen Handlungen, mit denen die Menschen Gott zu dienen vorgeben, mit allem ihrem Glanz und Aufwand nur Dunst. Indessen wird David nicht bloß versprechen wollen, dass er etwas ausgeben werde, um die Armen und Hungrigen zu speisen. Dass sie essen und satt werden sollen, sagt er auch noch aus einem anderen Grunde: es wird ihnen dies zum Trost dienen, und ein freudiger Sinn wird wieder bei ihnen einziehen. Denn bei solchem Mahle schauten sie wie in einem Spiegel die Güte Gottes, die sich allen Unglücklichen darbietet; das war ein unglaublicher Trost, der den Schmerz über alle Leiden linderte. Deshalb heißt es weiter: und die nach dem Herrn fragen, werden ihn loben. Ist auch schon die bloße Sättigung ein Grund zur Dankbarkeit, so wird doch hier ohne Zweifel der eigentliche Zweck des Opfers angegeben, wie der Schluss des Verses noch deutlicher ersehen lässt: euer Herz soll ewiglich leben. Eine Mahlzeit allein würde doch nicht genügen, um die Herzen für ewig zu beleben. Das vermag allein die Hoffnung, die wir daraus schöpfen, dass Gott unser Helfer ist. Denn mit Recht bezogen alle Frommen die Erlösung dieses einen Menschen auch auf sich. Daraus folgt, dass diese Lobpreisungen bei den Dankopfern auch zur Belebung der Hoffnung dienten. Da aber die Heuchler sich mit toten äußerlichen Handlungen begnügten, so beschränkt David diese rechte Ausübung auf die wahren und heiligen Israeliten, die nach dem Herrn fragen und ihn suchen. Denn eben dies ist das sichere Kennzeichen der Frömmigkeit. Die Väter unter dem Gesetz wurden also durch diese heiligen Mahlzeiten für das geistliche Leben gestärkt. Diese Wirkung zeigt sich aber in noch stärkerem Maße beim heiligen Abendmahle, wenn nur die, die daran teilnehmen, den Herrn aufrichtig und von Herzen suchen.

V. 28 u. 29. Es werden gedenken usw. Diese Stelle beweist unwiderleglich, dass David nicht bei sich stehen bleibt, sondern dass er unter seinem Bilde den verheißenen Heiland beschreibt. Der damals allgemein anerkannte Glaubenssatz, dass Gott einen König eingesetzt habe, um das Volk unter diesem einen Haupte zu einem glücklichen Leben zusammenzufassen, fand doch erst in Christo seine ganze Erfüllung. Gewiss war Davids Name unter den benachbarten Völkern groß und herrlich. Aber dabei kamen doch längst nicht aller Welt Enden in Betracht. Hierzu kommt noch, dass er die fremden Völker, denen er das Joch seiner Herrschaft auferlegte, niemals zum reinen Gottesdienst brachte. Jene erzwungene Knechtschaft, durch die er die heidnischen Völker seiner irdischen Herrschaft unterwarf, war daher weit entfernt von dem freiwilligen Gehorsam der Frömmigkeit, mit dem in der ganzen Welt zerstreute Menschen sich zu Gott sammeln sollen. Mit diesen Worten wird uns eine außergewöhnliche Veränderung verkündigt: die Menschen werden zu Gott zurückkehren, wenn sie seine Gnade recht erkannt haben. Ja, da er sie zur Gemeinschaft seines heiligen Mahls einlädt, so macht er sie auch augenscheinlich zu Gliedern der Gemeinde. Einige erklären das Wort „gedenken“ so, dass das Licht des Glaubens bei den Heiden neu entzündet werden solle, als wenn das Gedenken an Gott, das für eine Zeitlang geschwunden war, bei ihnen neu erwachen werde. Das scheint mir aber zu gekünstelt und zu gesucht. Ich meine, dass die Bekehrung oder Rückkehr, von der hier die Rede ist, darauf hinweist, dass die Menschen früher durch gottlosen Abfall dem Herrn entfremdet worden waren, und dass das Wort „Gedenken“ nur deshalb gebraucht ist, weil die Heiden, durch die herrlichen Wunder Gottes erweckt, aufs Neue der wahren Religion, von der sie abgefallen waren, sich zuwenden. Zu beachten ist, dass die Verehrung Gottes hier aus seiner Erkenntnis abgleitet wird: es kommen solche demütig bittend, um Gott anzubeten, die durch die Betrachtung der göttlichen Werke soweit gefördert sind, dass sie sich dem Einfluss derselben nicht mehr mit stolzer Verachtung entziehen können.

Diese Auffassung wird ausdrücklich bestätigt durch den bald nachfolgenden Grund (V. 29): Denn des Herrn ist das Reich, und er herrscht unter den Heiden. Diese Worte verstehen manche Ausleger dahin, dass Gott alle Menschen geschaffen hat und regiert; so sei es leicht begreiflich, dass er auch die Heiden zwingen könne, ihm die Ehre zu geben, obgleich er mit ihnen keinen Bund des Lebens geschlossen habe. Dies scheint mir indessen zu flach. Denn ohne Zweifel stimmt die vorliegende Aussage mit vielen ähnlichen Weissagungen zusammen, die uns den Thron Gottes vor Augen stellen, von welchem aus Christus die Welt regiert. Erstreckt sich Gottes Vorsehung auch unterschiedslos über den ganzen Weltkreis, so wissen wir doch, dass der Herr sein eigentliches Regiment erst antritt, wenn er die Finsternis zerstreut und im Lichte seines Wortes sich persönlich zu erkennen gibt. Eine Beschreibung dieser Gottesherrschaft gibt das Wort des Jesaja (2, 4): „Er wird richten unter den Heiden und überzeugen viel Völker.“ In Wahrheit unterwirft sich Gott den Weltkreis erst, wenn unter der Verkündigung des Evangeliums sich die Menschen, die bis dahin rebellierten, freiwillig beugen: also was hier geweissagt ist, dass aller Welt Ende sich „bekehren“ sollen, hat sich unter Christi Führung und Herrschaft erfüllt. Sollte jemand hiergegen einwenden, dass der ganze Erdkreis niemals bekehrt worden sei, so ist die Lösung leicht. Es wird hier nämlich die Zeit, in der Gott durch das Evangelium weit und breit bekannt wurde, mit jenem alten Zustande verglichen, als die Erkenntnis Gottes nur auf das Land Israel beschränkt war. Wir wissen ja, dass Christus wie ein Blitz rasch vom Aufgange der Sonne bis zu ihrem Niedergange bekannt wurde, und dass er die Heiden von allen Seiten zu der Gemeinde herbeiholte.

V. 30. Alle Fetten auf Erden werden essen. Es könnte widersinnig erscheinen, dass jetzt auch die Fetten zu einem Mahle zugelassen werden, das nach dem Vorhergehenden nur für die Armen bestimmt schien. Man muss jedoch bedenken, dass den Armen deswegen der Vorrang eingeräumt wird, weil Davids Beispiel ihnen vor allem zum Troste dienen sollte. Doch war es nötig, die Reichen und Glücklichen ihnen an zweiter Stelle zuzugesellen, denn sonst könnten sie meinen, dass sie von der Teilnahme an diesem Mahle ausgeschlossen seien. Wenn solche Leute auch nicht der Druck gegenwärtiger Leiden treibt, Trost zur Linderung eines Schmerzes zu suchen, so haben doch auch sie dieses Heilmittel nötig, damit sie sich nicht an irdischer Lust berauschen, sondern vielmehr ihre Freude im Himmel suchen. Ferner, da auch sie verschiedenen Widerwärtigkeiten ausgesetzt sind, so wird der Reichtum auch für sie ein Fluch sein, wenn er ihren Sinn an diese Welt gefesselt hält. Kurz, es ist an ein gemeinsames Opfer sowohl für die Rüstigen und Fetten als auch für die Mageren und Halbtoten zu denken, damit die Ersteren ihren Übermut ablegen und vor Gott sich demütigen, die Letzteren dagegen trotz ihrer Niedergeschlagenheit ihre Herzen in geistlicher Freude zu Gott, dem Geber aller guten Gaben, erheben. So wie auch Jakobus (1, 9 f.) seine Ermahnungen an beide Gruppen richtet: „Ein Bruder, der niedrig ist, rühme sich seiner Höhe, und der da reich ist, rühme sich seiner Niedrigkeit.“ Hat Gott unter dem Gesetze so die Satten mit den Hungrigen, die Angesehenen mit den Niedrigen, die Glücklichen mit den Unglücklichen verbunden, so muss dies jetzt unter dem Evangelium noch viel mehr als Regel gelten. Wenn also die Reichen hören, dass ihnen noch eine andere Speise angeboten wird als der irdische Überfluss, so sollen sie lernen, was Gott ihnen zum zeitlichen Gebrauch spendet, so mäßig zu genießen, dass die geistlichen Mahlzeiten ihnen nicht unschmackhaft oder gar widrig werden. Denn so lange sie bei ihren Trebern bleiben, werden sie nach geistlicher Speise nie mit heiliger Begierde trachten, noch irgendwelche Freude aus ihrem Genuss schöpfen. Wie die Fetten mager werden müssen, um sich von Gott sättigen zu lassen, so ermuntert David die Hungrigen zu fester und getroster Zuversicht, damit ihr Mangel sie nicht abhalte, hinzuzukommen. Ja, er lädt selbst die Toten zum Essen ein, die im Staube liegen: danach dürfen selbst Leute, die von der Welt verachtet und stinkend sind, es wagen, zu Gottes heiligem Tisch zu nahen.

V. 31. Die Größe der erhofften Wohltat wird dadurch noch mehr erhoben, dass ihr Gedächtnis bis in die späteste Zukunft nicht erlöschen solle. Es wird deswegen beständig sein, weil die Bekehrung der Welt, von der die Rede war, keine zeitweilige sein, sondern sich durch alle Zeiten fortpflanzen wird. Hieraus schließen wir wiederum, dass hier nicht bloß die eine Ruhmestat des Herrn gepriesen wird, die durch ein vergängliches und bald verschwindendes Gerücht zu den Heiden dringt, sondern eine Herrlichkeit, die durch die Strahlen ihres Glanzes die Welt bis ans Ende erleuchtet. Durch die Lobpreisung wird also der dauernde Bestand der Gemeinde bezeugt. Nicht als ob sie immer blühen und immer in gleicher Weise fortschreiten würde. Aber weil Gott nicht will, dass sein Name in der Welt ausgerottet werde, so erweckt er immer einige, die ihn in wahrer Frömmigkeit verehren werden. Es ist aber wohl zu beachten, dass dieser Same, der die wahre Gottesverehrung bewahrt, eine Frucht des unvergänglichen Samens, d. h. des göttlichen Wortes ist, durch welches allein der Herr seine Gemeinde zeugt und ausbreitet. Von diesem Samen heißt es, dass er dem Herrn zugezählt wird zum Geschlecht, d. h. zum Volk des Eigentums, das ein Erbteil Gottes sein soll. Übrigens ließe sich auch übersetzen, dass ihm der Same „für Geschlechter“, d. h. für alle Zukunft zugezählt werden soll. Da hier statt Gott „Herr“ steht, so meinen einige, dass dies auf Christum zu beziehen sei: er werde so ausdrücklich als Haupt der Gemeinde genannt, zu deren Gliedern er diejenigen zählt, die sich dem Vater ergeben. Und in der Tat erkennt der Vater keinen als sein Eigentum an, der nicht zu Christi Herde gehört: denn er hat seine Auserwählten der Obhut des Sohnes anvertraut.

V. 32. Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit predigen. Dass des Herrn Name für alle Zukunft herrlich sein soll, wird darauf ruhen, dass die Väter ihren Söhnen die Kunde von seiner Wohltat überliefern werden. Daraus sehen wir, dass es nur der Verkündigung der Gnade Gottes zuzuschreiben ist, wenn die Kirche niemals untergeht. Zugleich wird uns dadurch die eifrige Sorge für die Verbreitung der wahren Lehre ans Herz gelegt, damit auch nach unserem Tode wahre Verehrer Gottes vorhanden seien. Da der heilige Geist es allen Frommen als gemeinsame Pflicht auferlegt, für den Unterricht ihrer Kinder Sorge zu tragen, damit diese ihre Nachfolger in der Verehrung Gottes werden, so wird es dadurch zugleich als die größte Schande verdammt, wenn viele in dieser Beziehung träge sind und sich kein Gewissen daraus machen, das Gedächtnis Gottes in ewigem Stillschweigen zu begraben. Denn wenn es auf sie ankäme, so würde dieses Gedächtnis untergehen. Als „Gerechtigkeit“ wird hier die Treue bezeichnet, die Gott in der Beschützung der Seinen offenbart. Davids Erlösung war hierfür ein bemerkenswertes Beispiel, denn dadurch, dass der Herr seinen Knecht aus der Gewalt der Ungerechten erlöste, hat er sich als der Gerechte bewährt. Hier sehen wir, dass unser Heil Gott so teuer ist, dass er es mit dem Ruhm seiner Gerechtigkeit verbindet. Wenn nun Gottes Gerechtigkeit darin hervorleuchtet, dass er uns in unseren Hoffnungen nicht betrügt und uns in Gefahren nicht verlässt, sondern uns durch seinen Schutz wohl und unversehrt erhält, so ist ebenso wenig zu befürchten, dass er uns in der Not verlassen, als dass er sich selbst vergessen werde. Übrigens müssen wir daran denken, dass wir Lobpreis nicht nur für irgendeine besondere Hilfe, sondern für die Versöhnung des menschlichen Geschlechts darbringen sollen. Kurz, der heilige Geist trägt uns hier durch den Mund Davids die Verkündigung der Auferstehung Christi auf: denn sie ist die große Tatsache, die uns verbürgt, dass der Herr die Seinen treulich schützt.

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Nämlich durch bloße Verlängerung eines Striches
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