Calvin, Jean – Das Evangelium des Johannes - Kapitel 3.
V. 1. Es war aber ein Mensch. An Nikodemus lässt uns der Evangelist sehen, wie unsicher und hinfällig der Glaube derjenigen war, die durch die Wunder sich bewegen ließen, Christo den Messiasnamen zu geben. Da dieser seines Standes ein Pharisäer war und in seinem Volke eine hervorragende Stellung innehatte, so hätte er die anderen weit überragen müssen. In der Masse des Volkes herrscht ja meist ein oberflächlicher Sinn. Aber wer hätte nicht einem so gelehrten und erfahrenen Manne zugetraut, dass er den rechten Ernst mitbringe und das Herz auf dem rechten Fleck habe? Und nun geht aus der Antwort Christi hervor, dass der Mann noch nicht einmal fähig war, das ABC wahrer Frömmigkeit zu erlernen. Wenn einer, der unter den Männern in erster Reihe steht, noch weniger ist als ein Kind, was soll man dann von dem großen Haufen denken? Die Absicht des Evangelisten ist gewesen, uns im Spiegelbilde zu zeigen, wie wenige in Jerusalem imstande waren, das Evangelium recht aufzunehmen. Doch hat diese Geschichte noch in anderen Beziehungen ihre hohe Bedeutung. Hauptsächlich werden wir durch sie belehrt über die Verderbnis der Menschennatur, über den rechten Eingang in Christi Unterweisung und über die Anfangsgründe, welche wir lernen müssen, wenn wir in der himmlischen Lehre Fortschritte machen wollen.
Doch bevor wir weitergehen, müssen wir aus den vom Evangelisten angeführten Einzelheiten erschließen, welches die Hindernisse waren, welche es dem Nikodemus unmöglich machten, sich Christo ganz hinzugeben.
Unter den Pharisäern. Dass Nikodemus ein Pharisäer war, gereichte ihm bei seinesgleichen zwar zur Ehre. Der Evangelist aber legt ihm nicht ehrenhalber diesen Titel bei, sondern will vielmehr damit ein Hindernis bezeichnen, das ihn zurückhielt, mit ganzer Seele zu Christo zu kommen. Das erinnert uns daran, dass die, welche in der Welt eine hohe Stellung innehaben, nur zu oft in schmachvollen Ketten gebunden sind. Ja, wir sehen viele so gefesselt, dass sie ihr ganzes Leben lang nicht einmal mit einem Seufzerlein nach dem Himmel verlangen. Der Name Pharisäer stammt von einem hebräischen Worte: „Peruschim“; sie legten sich diesen Namen bei, weil sie sich rühmten, die einzigen wahren „Ausleger“ des Gesetzes zu sein, als wären sie in den innersten Kern der Schrift eingedrungen und hätten ihren geheimen Sinn erforscht. Die Essener standen infolge ihrer strengeren Lebensweise im Rufe besonderer Heiligkeit; aber da sie in einsiedlerischer Abgeschiedenheit fern von dem Treiben der Menschen lebten, stand die Sekte der Pharisäer in höherer Achtung. Übrigens erwähnt der Evangelist nicht nur, dass Nikodemus ein Pharisäer, sondern auch, dass er einer der Obersten seines Volkes war.
V. 2. Der kam zu Jesu bei der Nacht. Daraus, dass er bei Nacht kam, ersehen wir, dass er übertrieben furchtsam war. Es war, als hätte der Glanz seiner Würde ihm die Augen geblendet. Für einen Besuch bei Tage stand auch wohl eine falsche Scham im Wege; ehrgeizige Leute meinen ja, es sei um ihren Ruhm geschehen, wenn sie von der erhabenen Höhe ihres Lehrstuhles einmal in die Reihe der Lernenden heruntersteigen. Ohne Zweifel war er von törichtem Wissensdünkel aufgeblasen. Kurz, da er etwas Großes aus sich machte, wollte er kein Quentchen seiner Würde preisgeben. Und doch, es zeigt sich ein Körnchen wahrer Frömmigkeit darin, dass er bei der Kunde von dem Eintreffen eines Propheten Gottes die vom Himmel hergebrachte Lehre nicht verachtet und übersieht, sondern von Verlangen danach erfasst wird, ein Gefühl, geboren aus Furcht und Achtung vor Gott. Viele kitzelt eine rein weltliche Neugier, sodass sie nach Abwechslung begehren, - das Alte ist ihnen langweilig geworden; bei Nikodemus ist es jedoch unzweifelhaft das Gewissen und der religiöse Sinn, der ihn antreibt, die Lehre eingehender kennen zu lernen. Und obwohl jenes Körnlein lange verborgen blieb, als wäre es ganz erstorben, - nach Christi Tod brachte es doch noch Frucht, wie sie niemand je gehofft hätte.
Meister, wir wissen usw. Diese Worte bedeuten so viel als: Lehrer, wir wissen, dass du als Lehrer gekommen bist. Dennoch enthalten sie keine unnötige Wiederholung. „Rabbi “, d. h. Meister war vielmehr damals der geläufige Titel eines Gelehrten. Mit dieser üblichen Anrede begrüßt also Nikodemus den Herrn, um dann weiter zu betonen, dass Gott ihn gesandt habe, um des Lehramtes zu walten. Das ist die Grundbedingung, an welche alles Ansehen der Lehrer in der Gemeinde gebunden ist. Unsere Weisheit müssen wir allein aus der Schrift schöpfen, und als Lehrer dürfen sich nur die vernehmen lassen, aus deren Munde Gott redet. Es ist wohl zu beachten, dass die Juden, mochte auch die Religion noch so tief herabgewürdigt und fast vernichtet sein, unentwegt an dem Satze festhielten: nur der ist zur Lehre berechtigt, der von Gott ausgegangen ist. Doch ist, da niemand stolzer und sicherer einer göttlichen Sendung sich rühmt als falsche Propheten, hier die Gabe der Geisterunterscheidung vonnöten. Deswegen fügt Nikodemus hinzu, Christi göttliche Sendung sei unleugbar, weil Gott seine Kraft in ihm handgreiflich offenbare. Dieser Rede liegt die Voraussetzung zugrunde, dass Gott durch seine Diener Wunder wirkt, umso das ihnen übertragene Amt zu besiegeln. Diese Annahme trifft zu, denn der Herr hat stets beabsichtigt, seine Wunder sollten die Siegel seiner Lehre sein. Auch darin hat Nikodemus das Rechte getroffen, dass er Gott zum alleinigen Urheber der Wunder macht mit den Worten:
Niemand kann diese Zeichen tun, es sei denn Gott mit ihm. Er will damit bekräftigen: so etwas zu tun steht nicht im Vermögen eines Menschen; hier waltet sichtlich Gottes Kraft in königlicher Hoheit. Alles in allem, da die Wunder eine doppelte Bedeutung haben, nämlich, dass sie zum Glauben vorbereiten und dass sie den aus dem Worte entstandenen Glauben noch besser befestigen, so haben sie ihre erste Wirkung an Nikodemus gezeigt; er erkennt an den Wundern, dass Christus ein wirklicher Prophet Gottes ist. Indes scheint das ein recht unsicheres Erkennungszeichen zu sein. Denn wenn einst falsche Propheten mit ihren Lügenwundern die Unerfahrenen in die Irre geführt und sich scheinbar als rechte Diener Gottes legitimiert haben, wie kann dann ein Glaube, der sich auf Wunder stützen soll, Wahrheit und Lüge unterscheiden? Mit Recht sagt Moses (5. Mo. 13, 4), dass Gott uns mit der Zulassung solcher Lügenwunder prüfen will, ob wir ihn von ganzem Herzen lieb haben. Auch Christus und Paulus haben bekanntlich die Gläubigen vor solchen Zeiten des Widerchrists gewarnt, von denen sich viele würden irreführen lassen (Mt. 24, 24). Gott lässt es in seiner Gerechtigkeit zu, dass die, welche es verdient haben, durch satanisches Blendwerk betrogen werden. Den Auserwählten dagegen wird in göttlichen Wundern zu hochwillkommener Bestätigung rechter und heilsamer Lehre Gottes Macht vor die Augen geführt. So rühmt sich Paulus (2. Kor. 12, 12), dass sein Apostelamt durch Zeichen und Wunder als echt verbürgt worden ist. Da, wo Finsternis herrscht, mag immer Gott vom Satan nachgeäfft werden. Wo jedoch die Augen geöffnet sind, sodass das Licht des Geistes der Wahrheit ins Herz hineinscheinen kann, da geben die Wunder ein hinlängliches, unumstößliches Zeugnis für Gottes Gegenwart, wie es Nikodemus an den Wundern Jesu verspürt hat.
V. 3. Wahrlich, wahrlich, ich sage dir. Wenn Christus das Wort „wahrlich“ (im Griechischen „Amen“) noch einmal wiederholt, so tut er das, um die Aufmerksamkeit zu erregen. Er will ja über die ernste und wichtigste Angelegenheit reden, die es geben kann; deshalb sah er es für notwendig an, den Nikodemus noch aufmerksamer zu machen, - er hätte sonst vielleicht diese ganze Rede wenig beachtet oder wäre doch leicht darüber hinweggegangen. Und wie ist es nun mit dieser Rede? Sie scheint weit hergeholt und hier wenig am Platze zu sein. Aber der Schein trügt in diesem Falle. Christus hätte gar nichts Passenderes sagen können. Wollte man auf ein Feld, an dem der Landmann nichts getan, säen, so würde die Aussaat verloren sein. Ebenso wäre das Evangelium einfach weggeworfen, wenn nicht zuvor der, welcher es hören soll, in der geeigneten Weise bearbeitet und willig gemacht würde, Belehrung und Weisung anzunehmen. Christus sah in das Herz des Nikodemus hinein. Und was sah er? Ein Feld von Dornen, einen Acker, dich überwachsen von lauter Unkraut, - kaum irgendwo ein Plätzchen für seine Lehre und seinen Geist. Was Jesus ihm sagt, ist dem Werke einer Pflugschar zu vergleichen, die den Acker reinigt, damit er durch sein Unkraut eine glückliche Aussaat des Wortes nicht unmöglich mache. Wir wollen deshalb wohl bedenken: was der Sohn Gottes damals seinem Gaste gesagt hat, ganz dasselbe sollen wir uns täglich gesagt sein lassen. Wer von uns will dagegen behaupten: mein Herz ist doch frei von argen Gedanken und bedarf einer solchen Reinigung nicht? Wollen wir Christum zum Lehrmeister annehmen und auch wirklich etwas Rechtschaffenes bei ihm lernen, so müssen wir den Anfang mit der Lektion machen, die er hier dem Nikodemus gibt.
Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde. Jesus will damit sagen: solange dir das fehlt, was im Reiche Gottes die Hauptsache ist, schlage ich es nicht hoch an, dass du mich als Lehrer anerkennst. Der erste Schritt ins Gottesreich heißt: sei ein neuer Mensch! Dieser Satz ist von höchster Bedeutung. Wir haben ihn also ganz genau zu untersuchen. Das Reich Gottes „sehen“ heißt so viel als: in dasselbe eintreten. Der Zusammenhang wird das noch bestätigen. „Reich Gottes“ aber ist durchaus nicht gleichbedeutend mit „Himmel“. Es bezeichnet vielmehr das Leben im Geiste, wie es im Glauben hier auf Erden begonnen wird und je mehr und mehr von Tag zu Tag zunimmt, entsprechend den ununterbrochenen Fortschritten des Glaubens. So ist der Sinn der: Niemand kann sich in Wahrheit der Kirche zugesellen und den Kindern Gottes zugezählt werden, er sei denn zuvor erneuert worden. Unsere Stelle enthält die kurze Schilderung, wie man überhaupt ein Christ wird. Auch lernen wir aus ihr, dass die natürliche Geburt uns ganz und gar nicht ins Reich Gottes bringt. Wir sind ihm fern und bleiben für immer von ihm geschieden, bis eine zweite Geburt andere Menschen aus uns macht. Der hier ausgesprochene Satz ist allgemein gültig und umfasst die gesamte Menschheit, nicht etwa nur bestimmte Personen. „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde“, - das ist sinnentsprechend widerzugeben: „Ein jeglicher Mensch, der nicht wiedergeboren ist“ usw. Die Wendung „von neuem geboren werden“ bezeichnet nicht eine Verbesserung eines Teils nur, sondern die Erneuerung der ganzen Menschennatur. Wenn eine solche aber nötig ist, dann ist gewiss in uns nur Sünde. Ist eine Neugestaltung sowohl des Ganzen als auch der einzelnen Teile nötig, dann muss eben die Verderbnis allenthalben verbreitet sein. Darüber bald ausführlicher. Man hat anstatt „von neuem“ auch übersetzen wollen: „von oben“. Das entsprechende griechische Wort kann in der Tat diese doppelte Bedeutung haben. Aber einmal hat Christus überhaupt nicht Griechisch, sondern sicherlich Hebräisch mit Nikodemus geredet; und dann hätte, wenn Jesus von einer Geburt von oben gesprochen haben würde, Nikodemus nicht irrtümlich auf den kindischen Gedanken haben kommen können, es handle sich um eine zweite fleischliche Geburt. Von der Rede Christi hat er nur so viel verstanden, dass ein Mensch noch einmal geboren werden müsse, bevor man ihn als zum Reiche Gottes gehörig ansehen könne.
V. 4. Wie kann ein Mensch geboren werden usw. Wenn auch die Redeweise, welche Christus gebraucht, im Gesetz und bei den Propheten nicht buchstäblich so vorkommt, so wird doch überall in der Schrift die Erneuerung erwähnt, ja sie gehört zum ABC des Glaubens. Schon aus dieser einen Stichprobe lässt sich ersehen, wie unfruchtbar das Bibelstudium der Schriftgelehrten gewesen ist. Wir dürfen es gewiss nicht nur diesem einen Manne zur Last legen, dass er nichts von der Gnadengabe der Wiedergeburt wusste, - vielmehr fast alle haben sich mit geistlosen Spitzfindigkeiten abgegeben. Und so wurde das, was die Hauptsache in der Lehre von einem frommen Leben ist, einfach nicht beachtet. Eine solche Behandlung der Schrift kommt noch heutzutage vor. Man grübelt vielleicht sein Leben lang über hohe Geheimnisse nach, aber was die echte Gottes-Verehrung, den des Heils gewissen Glauben und die einzelnen Erweisungen der Frömmigkeit anlangt, davon weiß man so wenig und so viel wie ein Schuhmacher oder ein Kuhhirt von der Sternkunde. Ja, man ist so verliebt in seine Grübeleien, dass man die einfachsten Grundlehren der Bibel verachtet. Es wäre ja eine Erniedrigung so hochgelehrter Leute, wenn sie sich um dergleichen kümmern wollten! Wir brauchen uns also nicht zu wundern, wenn Nikodemus hier sozusagen über einen Grashalm stolpert. So straft Gott den Dünkel derer, die die ausgezeichnetsten und höchsten Meister sein wollten: kommt ihnen die Lehre, die für jedermann bestimmt ist, ihrer Einfachheit wegen gar zu gewöhnlich, ja schmutzig vor, so müssen sie bald vor kinderleichten Dingen rat- und hilflos dastehen.
V. 5. Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist usw. Es gibt hierzu verschiedene Auslegungen. Nach den einen soll hier die Wiedergeburt in zwei Teile zerlegt werden; die Geburt aus dem Wasser bedeutet dann die Verleugnung des alten Menschen, unter der Geburt aus dem Geiste verstehen sie das neue Leben.
Andere sind der Meinung, es liege hier ein unausgesprochener Gegensatz vor; Christus wolle der irdischen, schwerfälligen Menschennatur die reinen und hellen Elemente, Wasser und Wind, gegenüber stellen und uns auffordern, mit Darangabe unserer fleischlichen Schwerfälligkeit dem klaren Wasser und der leichten Luft ähnlich zu werden, nicht so träge an der Erde zu haften, sondern aufwärts, dem Himmel zuzustreben.
Die beiden angeführten Auslegungen treffen indes nicht, was Christus meint. Die Mehrheit der Ausleger setzt das Wort „Wasser“ gleich „Taufe“. So würde der Sinn unserer Stelle sein: durch die Taufe kommen wir in das Reich Gottes, denn ihr macht der Geist Gottes neue Menschen aus uns. Daraus hat man dann gemacht: die Taufe ist unerlässlich notwendig zum Seligwerden. Aber, wenn wir auch einräumen würden, dass Christus hier von der Taufe redete, so würden wir uns doch entschieden gegen eine solche Ausdeutung der Worte verwahren. An ein äußeres Zeichen ist die Seligkeit nicht gebunden. Wenn Christus nicht bloß den Geist nennt, sondern auch noch das Wasser hinzufügt, so tut er das (falls Wasser gleich Taufe wäre) nur deshalb, weil dies augenfällige Sinnbild das neue Leben, welches einzig und allein der Geist Gottes in uns zustande bringt, bezeugt und versiegelt. Es ist allerdings wahr, dass die Verachtung der Taufe ein Seligkeitshindernis ist. In diesem Sinne sage ich: sie ist notwendig; aber die Heilsgewissheit an sie zu binden, wäre verkehrt.
Doch wir haben uns jetzt nicht mit der Lehre von der Taufe, sondern mit unserer Stelle zu beschäftigen. Und da kann ich mir nicht einreden lassen, dass Christus hier von der Taufe geredet haben sollte. Das wäre nicht am Platze gewesen. Damit wird ein jeder einverstanden sein, der fest im Sinne behält, was eigentlich Christus beabsichtigte; wir haben es ja vorhin auseinandergesetzt: er wollte den Nikodemus ermahnen, ein ganz neues Leben anzufangen, da dieser keinen Raum für das Evangelium in seinem Herzen hatte, ehe er begann, ein anderer Mensch zu sein. Jesu Meinung ist einfach diese: wir müssen, um Kinder Gottes zu sein, von neuem geboren werden, und der Urheber dieser Neugeburt ist der heilige Geist. Das erste Wort Christi hatte Nikodemus so verstanden, als sei darin eine Art Seelenwanderung gelehrt, eine Schwärmerei. Christus will dies Missverständnis zerstören und fügt alsbald zur näheren Erklärung seiner wahren Meinung hinzu: nicht auf dem Naturwege erleben die Menschen eine zweite Geburt, auch brauchen sie nicht mit einem anderen Leibe bekleidet zu werden, sondern diese Geburt findet statt, wenn Herz und Gemüt erneuert wird durch Begnadigung mit dem Geiste Gottes. Wasser und Geist ist ein und dasselbe. Diese Auslegung ist nicht hart, auch nicht gezwungen. So und so oft kommt es in der Schrift vor, dass bei der Erwähnung des Geistes, um die Wirkung, die er hat, zu bezeichnen, noch Wasser oder Feuer genannt wird. Wenn wir z. B. hören (Mt. 3, 11), dass Christus mit heiligem Geist und mit Feuer tauft, so ist doch das Feuer nichts Besonderes für sich – etwa ein Sakrament – sondern soll nur zeigen, was Gottes Geist an uns wirkt. Nun sagt man: ja, aber „Wasser“ steht doch an erster Stelle. Das macht keinen großen Unterschied. Im Gegenteil, so fließt die Rede besser als umgekehrt: zuerst die bildliche Bezeichnung und dann die klare, nackte Meinung. Christus will sagen: niemand ist ein Kind Gottes, bis er durch Wasser erneuert ist; dies Wasser aber ist der Geist, welcher uns wieder rein macht, und der uns, indem er sich kräftig auf uns ergießt, himmlische Lebenskräfte einhaucht, während wir ohne ihn dürr und saftlos sind. Mit gutem Grunde gebraucht Christus hier, um dem Nikodemus seine Unwissenheit vorzurücken, den gewohnten Schriftausdruck. Endlich musste er doch merken, dass Christi Worte aus der gemeinsamen Lehre der Propheten entnommen waren. Das Wasser bedeutet nichts anderes, als die inwendige Reinigung und Belebung durch den heiligen Geist. Man nehme hinzu, dass derartige Wortverbindungen, wie die unsere, nicht selten vorkommen, bei denen das erste Glied durch das zweite seine Erklärung findet. Der durchschlagende Grund für die vorgetragene Auslegung ist nun aber der weitere Verlauf der Rede Christi selbst. In den nächsten Sätzen (V. 6 – 8) wird bei näherer Belehrung über die Wiedergeburt das Wasser völlig mit Stillschweigen übergangen; es ist nur vom Geiste die Rede. Daraus folgt, dass auch hier das Wasser nicht noch etwas anderes bedeuten kann als der Geist.
V. 6. Was vom Fleisch geboren wird usw. Hier geht Christus vom Gegenteil aus, um zu beweisen, dass das Reich Gottes uns allen verschlossen ist, bis wir durch die Wiedergeburt den Eingang gefunden haben. Er setzt das Zugeständnis voraus: nur als geistlich gesinnte Menschen kommen wir hinein in Gottes Reich. Aber wir haben von Mutterleibe nichts an uns als nur die fleischliche Natur. Daraus folgt, dass wir alle von Natur außerhalb des Reiches Gottes leben und, des himmlischen Reiches beraubt, unter der Knechtschaft des Todes bleiben. Wenn übrigens Christus hier die Schlussfolgerung macht: weil die Menschen nur Fleisch sind, müssen sie wiedergeboren werden, so denkt er bei dem Ausdrucke „Fleisch“ zweifelsohne an den ganzen Menschen. Fleisch bezeichnet an unserer Stelle also nicht den Leib allein, sondern zugleich auch die Seele mit allem, was zu ihr gehört. Es ist albern, wenn man auf römischer Seite das Wort „Fleisch“ nur auf die sinnliche Seite des menschlichen Wesens beziehen will; der Ausspruch Christi wird dann sinnlos. Wenn bloß ein Stück an uns schlecht wäre, brauchte es keiner zweiten Geburt. Fleisch und Geist sind einander aufs schärfste gegenüber gestellt. Es ist der Gegensatz von verderbt und unschuldig, von verkehrt und richtig, von befleckt und heilig, von schmutzig und rein. Darum muss man zugestehen: mit dem einen Wort „Fleisch“ wird die ganze Menschennatur verdammt. Christus erklärt, unser Sinn und Verstand sei sündlich, weil er fleischlich ist; alle Gedanken des Herzens seien arg und verwerflich, weil auch sie fleischlich sind. Aber man kann hier die Frage aufwerfen: wenn doch ohne Zweifel in unserer entarteten und sündlichen Natur wenigstens noch ein geringer Rest der ursprünglichen göttlichen Ausstattung vorhanden ist, wie kann man dann sagen, dass wir ganz und gar verderbt seien? Die Lösung ist leicht: die Gaben, welche Gott nach dem Sündenfall uns gelassen hat, sind freilich, wenn sie an sich betrachtet werden, des Lobes wert; aber da alles, was an uns ist, von der Ansteckung des Bösen verpestet ist, findet sich in uns dennoch nichts Reines und von aller Befleckung Unberührtes. Wenn uns eine gewisse Gotteserkenntnis angeboren ist, wenn der Unterschied von Gut und Böse in unser Gewissen eingegraben ist, wenn wir fähig sind, unser zeitliches Leben zu schützen, wenn wir endlich in so mannigfacher Weise vor den Tieren bevorzugt sind, so ist alles das an und für sich, insofern es von Gott stammt, herrlich und gut; aber diese Dinge sind in uns, und eben dadurch sind sie befleckt. Dem besten Weine geht es ebenso, wenn man ihn in ein übelriechendes Gefäß gießt. Der Wein an und für sich ist gut, aber er verliert in einem solchen Gefäß völlig seinen Wohlgeschmack, ja, er wird herbe und ungenießbar. Die den Menschen noch übrig gebliebene Gotteserkenntnis ist nichts anderes, als eine schaurige Finsternis von Götzendienst und allerlei Aberglauben. Unser Urteil über das, was wir wählen und über das, was wir verwerfen sollen, ist zum Teil blind und verkehrt, zum Teil veränderlich und unklar. Was wir an Fleiß und tätigem Sinne besitzen, beschäftigt sich nicht selten mit Eitelkeiten und Kindereien. Der Wille aber selbst wird vermöge seiner Unreife von leidenschaftlichen Trieben ganz zum Bösen fortgerissen. Und so ist in unserer ganzen Natur kein Tropfen mehr unverdorben, woraus zu entnehmen ist: ein zweite Geburt muss uns zum Reiche Gottes befähigen. Das ist auch die Absicht der Worte Christi: weil der Mensch aus dem Schoße der Mutter nur fleischlich geboren wird, muss er durch den Geist neu gebildet werden, um einen geistlichen Lebensanfang zu gewinnen. Das Wort „Geist“ steht hier zuerst für die Gnade und dann für die Wirkung der Gnade. Zuerst lehrt Christus, dass der Geist Gottes der einzige Urheber der reinen und rechten Natur ist; danach bezeichnet er uns als geistliche Menschen von da ab, wo wir durch seine Kraft neu gemacht sind.
V. 7. Lass dich es nicht wundern. Im Allgemeinen steht fest, dass der Herr hier den Geist Gottes mit dem Winde vergleicht, dessen Kraft man spürt, dessen Herkunft und Quell jedoch verborgen bleibt. Aber ich werde versuchen, die wahre Meinung Christi doch noch deutlicher und bestimmter darzulegen. Ich behalte den Gesichtspunkt bei, dass Christus dem Naturlauf ein Gleichnis entnimmt. Nikodemus hielt das, was er von der Wiedergeburt und dem neuen Leben gehört hatte, für unglaublich, weil diese Art von Wiedergeburt sein Verständnis überstieg. Um ein derartiges Bedenken ihm zu nehmen, belehrt Christus ihn, dass auch in dem Leben der uns umgebenden Naturwelt die wunderbare Kraft Gottes sich zeigt, deren Art und Weise uns verborgen bleibt. Alle Menschen schöpfen aus der Luft ihren Lebensodem. Die Bewegung der Luft ist mit den Sinnen wahrzunehmen: woher indessen der Wind kommt und wohin er geht, wissen wir nicht. Wenn Gott in der der Vergänglichkeit verfallenen Schöpfung so gewaltig wirkt, dass wir gezwungen sind, über seine Macht zu staunen, wie sinnlos ist es dann, in dem himmlischen und übernatürlichen Leben sein geheimnisvolles Tun mit dem kurzen Maßstabe unserer Menschengedanken messen zu wollen, ja, wie sinnlos, zu sagen: „Ich glaube nur, was ich sehe!“ Ähnlich macht es Paulus 1. Kor. 15, 36 f., wo er sich gegen die wendet, welche die Lehre von der Auferstehung aus dem Grunde ablehnen, weil es unmöglich scheint, dass ein Leib, der im Schoße der Erde verwest, wenn er einmal in Staub, ja in Nichts verwandelt ist, mit Seligkeit und Unsterblichkeit bekleidet werden könne. Da wirft er den Zweiflern vor, dass sie in ihrer Flatterhaftigkeit nicht beachten, wie Gott am Weizenkorn in ganz ähnlicher Weise seine Kraft erweist. Ist das Korn ausgesät, so keimt es doch erst, wenn es faul geworden ist. Das ist Gottes wunderbare Weisheit, die David preist (Ps. 104, 24). Sie stumpfsinnig sind doch nun die Menschen, die sich durch das, was immer wieder im Reiche der Natur vorkommt, nicht antreiben lassen, eine Stufe höher zu steigen und zu sagen: noch weit mächtiger muss dann die Hand Gottes in dem geistlichen Reiche Christi wirken. Wenn übrigens Christus dem Nikodemus verwehrt, sich zu wundern, so dürfen wir das nicht so nehmen, als wolle er, dass wir ein so herrliches Werk Gottes etwa für ein Nichts achten, während es doch in hervorragendem Maße Bewunderung verdient; nur einer solchen Verwunderung sollen wir uns nicht hingeben, die uns am Glauben hindert. Viele verweisen alles ins Reich der Fabeln, was ihnen zu hoch und schwierig vorkommt. Nun wohlan, lasst uns nicht daran zweifeln: Gottes Geist vermag uns umzugestalten und neue Menschen aus uns zu machen, mag uns auch die Art, wie er das anfängt, verborgen sein.
V. 8. Der Wind bläst, wo er will. Das soll nicht heißen, der Hauch des Windes habe einen eigenen Willen, sondern vielmehr: er hat freie Bewegung, weht ungehemmt und in mannigfacher Weise; einmal nimmt er diese, das andere Mal jene Richtung. Das findet aber seine Anwendung auf den vorliegenden Fall: wenn der Wind in ununterbrochenem Laufe daherkäme wie das Wasser, so schiene uns dies weniger wunderbar.
Also ist ein jeglicher usw. Damit sagt Christus, dass in nicht geringerem Maße bei der Erneuerung eines Menschen eine Bewegung und Wirkung des Geistes Gottes zu bemerken sei, als in dem äußerlichen irdischen Leben eine solche der Luft; aber beide Male sei die Art und Weise verborgen. Undankbar seien wir also und von arger Gesinnung beseelt, wenn wir die ungreifliche Kraft Gottes bei der Schaffung des neuen himmlischen Lebens nicht anbeten, da er uns doch ein so herrliches Beispiel dieser seiner Macht in dieser Welt zeigt, und wenn wir ihm weniger Macht zugestehen bei der Wiederherstellung des Heiles der Seele, als wie er sie uns unablässig bei der Erhaltung unseres Lebensweges zeigt. Übrigens wird dieser Satz, der die Anwendung des Gleichnisses bringen soll, etwas deutlicher, wenn man ihn so wiedergibt: ebenso zeigt sich die Kraft und Wirkung des heiligen Geistes bei einem wiedergeborenen Menschen.
V. 9. Wie mag solches zugehen? An diesem Einwurf des Nikodemus sehen wir, was ihm vor allem im Wege steht. Was er da zu hören bekommt, sieht er als etwas recht Ungeheuerliches an, weil er die Art und Weise nicht zu fassen vermag. So gibt es für uns Menschen kein schlimmeres Hindernis als unsere eigene Anmaßung, dass wir nämlich immer klüger sein wollen als uns zukommt, und dass wir mit geradezu teuflischer Missachtung weit wegwerfen, war wir nicht mit unserem Verstande durchschauen können. Als wäre es recht, die unermessliche Macht Gottes auf ein so enges Maß zu beschränken! So weit wir es vermögen, dürfen wir zwar der Art und Weise der Werke Gottes nachforschen, wenn wir es nur mit nüchternem, ehrfurchtsvollem Sinne tun. Nikodemus fragt aber so, weil er das als fabelhaft von sich weist, was er für undenkbar hält. Über denselben Gegenstand wird das 6. Kapitel eine ausführlichere Verhandlung bringen.
V. 10. Bist du ein Meister in Israel. Weil Christus sieht, dass er gegenüber einem so hochmütigen Menschen mit Belehrungen nicht weiterkommt, so wendet er sich zum Tadel. Und sicherlich werden solche Leute keinen Fortschritt im Unterricht machen, bis ihnen das falsche Selbstvertrauen, das sie aufbläht, ausgetrieben ist. Jesus wendet nur das denkbar passendste Mittel an, den Verstandeshochmut empfindlich zu demütigen. Denn in einem Stücke, in welchem Nikodemus besonders scharfsinnig und gut sein will, wirft er ihm grobe Unwissenheit vor. Nikodemus hielt es für einen Beweis seiner Bedachtsamkeit und seines Scharfblickes, dass er etwas so Unmögliches sich nicht bieten ließ, weil doch nur ein leichtgläubiger Mensch einem anderen aufs Wort glaubt, ohne genau zu untersuchen, wie sich die Sache verhält. Und dabei macht er sich mit seiner Gelehrtenhoffart nur lächerlich; es hapert bei ihm in den elementarsten Dingen schlimmer, als bei einem Kinde. Dass er gegenüber dem, was er gehört hat, so voller Bedenklichkeit ist, gereicht ihm zu Schmach und Unehre. Was bleibt denn noch übrig von Religion, von Gotteserkenntnis, ja, wie kann man ein frommes Leben führen, wenn man die Wahrheit preisgibt, dass der Mensch durch den Geist Gottes erneuert wird?
Es liegt starker Nachdruck auf dem Wörtchen „das“. Du weißt das nicht? Weil die Schrift gerade dieses Stück der Lehre immer und immer wieder treibt, sollte es doch auch den untersten ABC-Schützen nicht unbekannt sein. Deshalb ist es ganz unerträglich, dass einer hierin so unwissend und roh ist, der sich zugleich für einen Lehrer der Gemeinde Gottes ausgibt.
V. 11. Wir reden, das wir wissen. Einige beziehen das auf Christus und Johannes den Täufer; andere sagen: die Mehrzahl ist hier statt der Einzahl gesetzt. Ich aber zweifle nicht, dass Christus sich hier mit allen Propheten Gottes zusammenrechnet und sozusagen als der Mund von ihnen allen redet. Weltweise und andere aufgeblasene Lehrer mögen leeres Geschwätz eigener Erfindung vorbringen: Christus aber spricht sich und allen Dienern Gottes das als etwas Eigentümliches zu, dass sie nur sichere Lehre vortragen. Gott sendet nicht solche, die über unbekannte, zweifelhafte Sachen schwatzen sollen, sondern er bildet seine Boten in seiner Schule, damit sie das, was sie von Gott selbst gelernt haben, an andere weitergeben. Wie nun Christus mit diesem Spruche uns die Zuverlässigkeit seiner Lehre versichert, so schreibt er damit auch allen seinen Dienern das Gesetz der Bescheidenheit vor: sie dürfen der Gemeinde nicht eigene Träumereien oder Vermutungen aufnötigen, dürfen nicht menschliche Erdichtungen vortragen, denen die feste Grundlage fehlt, sondern sie haben im Blick auf Gott ein zuverlässiges und reines Zeugnis abzulegen. Sehe also jeder wohl zu, was ihm von dem Herrn offenbart ist. Hüte sich ein jeder, über die Schranken, die seinem Glauben gezogen sind, hinwegzuspringen und etwas anderes zu sagen, als was er vom Herrn gehört hat! Man beachte noch, dass Jesus hier einen feierlichen Schwur auf seine Lehre ablegt, der uns ihr Ansehen heilig verbürgt: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir!
Ihr nehmt das Zeugnis nicht an. Das wird hinzugefügt, damit dem Evangelium kein Abbruch geschehe. Die Wahrheit Gottes findet nur bei Wenigen Glauben; allenthalben wird sie von der Welt verschmäht. Eben deshalb muss sie vor Verachtung geschützt werden. Ihre Erhabenheit darf nicht um deswillen im Preise sinken, weil fast die ganze Welt hochmütig auf sie heruntersieht und sie durch ihre Gottlosigkeit in Schatten stellt. Einfach und unmissverständlich ist der Sinn der Worte, doch haben wir uns eine doppelte Lehre daraus zu nehmen.
Einmal, dass bei uns der Glaube an das Evangelium nicht ins Wanken kommen darf, wenn es auf Erden nur wenig Schüler hat. Christus will sagen: Sei es drum, dass ihr meine Lehre nicht annehmt, - sie bleibt nichts desto weniger fest und unerschütterlich, denn der Unglaube der Menschen wird niemals die Wirkung haben, dass Gott nicht immerdar wahrhaftig bleibt.
Zweitens, dass diejenigen nicht straflos ausgehen werden, welchen heutigen Tags dem Evangelium den Glauben versagen, da die Wahrheit Gottes heilig und unverletzlich ist.
Mit diesem Schilde müssen wir uns decken, um gegenüber der Widerspenstigkeit der Menschen im Gehorsam gegen das Evangelium fortzufahren. Allerdings ist als Grundsatz unbedingt festzuhalten: unser Glaube muss in Gott selbst begründet sein. Sobald wir aber Gott zum Urheber unseres Glaubens haben, sind wir voll berechtigt, gleichsam über alle Himmel emporgetragen, in Sicherheit, der ganzen Welt Trotz zu bieten und von unserem hohen Standorte in ungestörter Seelenruhe herabzublicken auf den Unglauben etlicher Menschen. Wenn Christus sich beklagt, dass sein Zeugnis nicht angenommen wird, so ersehen wir daraus, dass in allen Jahrhunderten das Schicksal des Wortes Gottes das gleiche gewesen ist: nur bei wenigen hat des Glauben erlangt. Die Worte: „ihr nehmt es nicht an“ treffen die große Mehrzahl und fast das ganze Volk. Deshalb braucht die geringe Anzahl der Gläubigen heutigen Tages uns nicht zu ängstigen.
V. 12. Wenn ich euch von irdischen Dingen sage. Christus urteilt, es müsse dem Nikodemus und seinesgleichen als Schuld angerechnet werden, wenn sie in der Lehre des Evangeliums schlechte Fortschritte machen. Er selbst lässt nichts unversucht, um uns verständlich zu unterweisen. Auf die Erde steigt er herab, um uns in den Himmel empor zu heben. Es ist ein weit verbreiteter Fehler, dass die Menschen ein Verlangen nach besonders feiner, scharfsinniger Belehrung tragen. Daher haben viele eine ganz besondere Vorliebe für Gedankengebäude mit hohem und absonderlichem Inhalt. Davon kommt es auch, dass die meisten das Evangelium recht gering schätzen, weil sie darin keinen Schall von hohen Worten finden, der ihnen die Ohren füllt. Deshalb halten sie es nicht für der Mühe wert, sich mit der Erforschung dieser so gewöhnlichen und gemeinen Lehre zu beschäftigen. Dass wir nur aus dem Grunde Gott weniger Ehre geben, weil er sich zu unserer Einfalt herablässt, wenn er mit uns spricht, das ist ein Beweis von Gottlosigkeit, so groß, wie man ihn sich nur denken kann. Wir sollen wissen, dass der Herr, wenn er in der Schrift so recht handgreiflich und wie es das Volk versteht mit uns redet, das gerade aus liebevoller Rücksicht auf uns tut. Wer prahlerisch behauptet oder sich wenigstens damit entschuldigt, dass ihm diese Niedrigkeitsgestalt des göttlichen Wortes ein Glaubenshindernis sei, der ist ein Lügner. Wer es nicht fertig bringt, Gott zu umfassen, wenn er ihm so nahe kommt, der wird noch viel weniger auf Flügeln über die Wolken zu ihm emporzuschweben vermögen. Unter „irdischen Dingen“ wollen einige die elementarsten Wahrheiten der geistlichen Lehre verstehen, wie z. B. die Selbstverleugnung, welche gewissermaßen das erste Probestück der Frömmigkeit ist. Doch ich schließe mich lieber denen an, die diesen Ausdruck auf die Form der Rede beziehen. Denn wenn auch die Predigt Christi durch und durch himmlisch war, hat er doch in so schlichter Weise gesprochen, dass die Rede selbst in gewissem Sinne als irdisch angesehen werden könnte. Übrigens gelten diese Worte nicht bloß von der Rede, an der wir eben stehen. Die gewohnte Redeweise Christi, das heißt, seine volkstümliche Einfalt wird hier verglichen mit dem Redeprunk und Glanz, nach dem eitle Menschen ein so leidenschaftliches Verlangen tragen.
V. 13. Niemand fährt gen Himmel usw. Nochmals ermahnt der Herr den Nikodemus, nicht auf sich und seinen Scharfsinn zu vertrauen; denn kein sterblicher Mensch könne durch eigene Anstrengung in den Himmel eindringen, es sei denn, dass er unter Anleitung des Sohnes Gottes dorthin strebe. Die Auffahrt in den Himmel bedeutet die reine Erkenntnis der Geheimnisse Gottes und das Licht geistlicher Einsicht. Christus lehrt hier ganz das Gleiche wie Paulus 1. Kor. 2, 14, nämlich, dass der natürliche Mensch nichts vernimmt von dem, was Gottes ist. Christus erklärt den Menschengeist, und wäre er noch so scharfsinnig, für völlig unfähig zur Erkenntnis alles dessen, was Gott betrifft; das Gebiet des menschlichen Geistes liegt viel niedriger. Doch beachten wir genau: nur Christus, der ja himmlisch ist, steigt zum Himmel empor, allen anderen ist der Eingang versperrt. Paulus heißt uns in unseren eigenen Augen Toren werden, wenn wir vor Gott weise zu sein begehren (1. Kor. 3, 18). Dazu verspüren wir freilich durchaus keine Neigung. Deshalb gilt es, den Satz festzuhalten: alle unsere Gedanken sind schwach und unzureichend, wenn es sich um Gott handelt. Der Himmel ist für uns verschlossen. Aber Christus zeigt uns einen Ausweg. Wenn er allen anderen die Erkenntnis abspricht, so fügt er doch hinzu: außer des Menschen Sohn. Wenn Jesus in den Himmel emporgeht, tut er das nicht für sich und allein, sondern um unser Führer und Leiter zu werden. Aus diesem Grunde gerade hat er sich Menschensohn genannt, damit wir nicht zweifeln: wir dürfen mit ihm zum Himmel eingehen. Er hat unser Fleisch angezogen, um uns zu Genossen alles Guten, das er hat, zu machen. Da er ganz allein in den Rat des Vaters mit eingeweiht ist, lässt er auch uns hineinschauen in jene Geheimnisse, welche sonst verborgen bleiben würden. Was hat es denn aber für einen Sinn, wenn es von diesem Menschensohne heißt, dass er im Himmel ist zu eben der Zeit, in welcher er auf Erden wohnt? Die Antwort, dass dies nur für seine Gottheit, nicht für seine Menschheit gelte, ist unzutreffend; denn hier heißt es ausdrücklich, dass er als Menschensohn im Himmel ist. Man könnte sagen: hier ist ja nicht von einem örtlichen Himmel die Rede, sondern nur von der inneren Stellung Christi, die ihn als den Erben des Himmelreichs von allen anderen Menschen unterscheidet; sie sind draußen, er ist drinnen. Aber man braucht die Lösung der Schwierigkeit nicht so weitab zu suchen: Christus ist doch nur der eine Christus, und um dieser Personeinheit willen kommt es unzählig oft vor, dass, was der einen Natur eigen ist, auf die andere übertragen wird. Der Christus, welcher im Himmel wohnt, ist mit unserem Fleische bekleidet, um die Bruderhand nach uns auszustrecken und uns zu sich in den Himmel zu heben.
V. 14 u. 15. Und wie Moses usw. Nunmehr setzt Jesus näher auseinander, weshalb und wozu er sagte, dass nur für ihn der Himmel offen sei. Er tat es darum, damit er alle dorthin führe, welche ihm als ihrem Führer folgen wollen. Er bezeugt, dass er sichtbar vor aller Augen gestellt werden solle, um seine Kraft auf alle auszuströmen.
Erhöhet werden bedeutet: an einem hohen und erhabenen Platze aufgestellt werden, um für jedermann sichtbar zu sein. Das ist mit Christo durch die Predigt des Evangeliums geschehen. Andere lassen es durch das Kreuz geschehen sein; doch passt das nicht in den Zusammenhang und die Absicht der ganzen Rede hinein. Der einfache Sinn der Worte ist der: durch Verkündigung des Evangeliums soll Christus gleich einem Panier hoch aufgerichtet werden, um aller Augen auf sich zu ziehen, wie ja Jesaja (2, 2) geweissagt hatte. Als Vorbild dieser Erhöhung führt der Herr die eherne Schlange an, die Moses einst aufgerichtet hatte, und deren Anblick denen zum Heilmittel diente, welche durch den tödlichen Biss der Schlangen verwundet worden waren (4. Mo. 21, 9). Christus will damit sagen, er müsse durch die Lehre des Evangeliums vor aller Augen gebracht werden, damit ein jeder, der ihn im Glauben angeschaut habe, das Heil erlange. Daraus können wir die Folgerung ziehen: Christus wird uns im Evangelium hell und deutlich vor die Augen gebracht, und es braucht sich niemand über Undeutlichkeit zu beklagen; diese Offenbarung aber ist für jedermann da, und der sieht Jesum recht, der ihn im Glauben ansieht als wirklich gegenwärtig. So braucht auch Paulus (Gal. 3, 1) den Ausdruck, dass die Predigt des Evangeliums Christum samt seinem Kreuze den Hörern vor die Augen male. Der Vergleich mit der ehernen Schlange ist übrigens durchaus nicht gesucht oder weit hergeholt. Sie sah nur von außen wie eine Schlange aus, inwendig war kein todbringendes Gift. So hat Christus nur die Gestalt des Sündenfleisches angenommen und war doch vollkommen rein von Sünden, um so die tödliche Wunde an uns, die Sünde, zu heilen. Nicht unabsichtlich hat der Herr vor Zeiten, als die Juden von Schlangen verwundet worden waren, ein derartiges Gegenmittel gegen die Vergiftung angewendet. Das gab jetzt den Worten, welche Christus sprach, noch ein besonderes Gewicht. Denn als er merkte, dass er als ein unbekannter, hergelaufener Mensch gering geachtet wurde, konnte er gar nichts Passenderes vorbringen, als die Erhöhung der Schlange. Er will damit sagen: Ihr braucht es durchaus nicht für so undenkbar anzusehen, dass ich aus unansehnlicher Stellung wider Menschenerwarten emporkomme; das ist ja in dem Vorbild der Schlange schon im Gesetz angedeutet worden. Man fragt nun: Was für eine Bedeutung hat der Vergleich Christi mit der Schlange? Soll er bloß sagen, dass sich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen beiden befindet, oder will Christus zu verstehen geben, dass jenes eherne Bild, ebenso wie das Manna, ein Sakrament gewesen ist? Das Manna war ja zunächst eine zum täglichen Gebrauch bestimmte Speise; doch bezeugt Paulus, dass es gleichzeitig eine „geistliche Speise“ gewesen ist (1. Kor. 10, 3). Ich möchte bei der ehernen Schlange das Gleiche annehmen; die vorliegende Stelle legt es nahe, und die Tatsache, dass sie für später aufbewahrt worden ist, bis der Volksaberglaube sie zu einem Götzenbilde machte, spricht ebenfalls dafür. Ist jemand anderer Meinung, so will ich mit ihm nicht streiten.
V. 16. Also hat Gott die Welt geliebt usw. Dieses Wort erschließt uns den letzten Grund und den Urquell unseres Heils in einer solchen Weise, dass gar kein Zweifel mehr aufkommen kann. Nicht eher haben unsere Seelen einen festen Ruhepunkt gefunden, als bis sie zur Gnade und Liebe Gottes gelangt sind. Alles, was unser Heil anlangt, ist bei Christo und nirgend anders zu suchen. Aber nun sollen wir erfahren, wo dieser Strom des Heils entsprungen ist, warum uns der Heiland gegeben ward. Zweierlei wird hier gezeigt: einmal, dass der Glaube an Christus für jedermann Leben bringend ist, und dann, dass Christus aus dem einen Grunde sein Leben dargebracht hat, weil der himmlische Vater nicht haben will, dass das von ihm geliebte Menschengeschlecht zu Grunde geht. Wie steckt doch uns allen jener gottlose Ehrgeiz im Blute, dass alsbald, wenn es sich um den Grund für unsere Rettung handelt, teuflische Einbildungen eigener Verdienste sich einstellen. Wir tun so, als wäre Gott uns deshalb gütig, weil er uns seiner Berücksichtigung wert gefunden habe. Ganz anders die Schrift!
Sie erhebt überall seine lautere, große Barmherzigkeit und lässt eben damit eigene Verdienste der Menschen nicht gelten. Das ist es auch ganz genau, was Christus meint, wenn er den Grund unseres Heils einzig in die Liebe Gottes setzt. Wollten wir noch weiter zurückgehen auf den Urgrund unseres Heils, so kämen wir vor eine verschlossene Tür. Paulus lehrt, dass diese Liebe Gottes ihren Grund in dem Wohlgefallen seines Willens (Eph. 1, 5) hat. Es liegt auf der Hand, dass Christus so geredet hat, um die Menschen von dem Rückblick auf das eigene Ich loszumachen und sie zu der Barmherzigkeit Gottes hinzuführen. Und er sagt nicht das Mindeste davon, dass Gott an uns irgendetwas bemerkt habe, womit wir die große Wohltat der Erlösung verdient hätten, - nein, den Ruhm unserer Befreiung schreibt er rundweg nur seiner Liebe zu. Der ganze Zusammenhang macht das deutlich. Jesus fügt ja hinzu, dass der Sohn für die Menschen dahingegeben ward, damit sie nicht verloren werden. Daraus folgt: bis Christi Hilfe sich zu den Verlorenen neigt, sind alle zum ewigen Verderben bestimmt. Dasselbe spricht Paulus aus, indem er auf den Zeitpunkt hinweist: da wir noch Feinde waren durch die Sünde, sind wir schon geliebt worden (Röm. 5, 10). Wo aber die Sünde noch herrscht, werden wir sicherlich nur den Zorn Gottes finden, welcher den Tod mit sich führt. Allein die Barmherzigkeit ist es also, die uns mit Gott versöhnt, um uns wieder ins Leben zu versetzen.
Übrigens scheint die Redeweise hier mit vielen anderen Aussagen der Schrift zu streiten, welche zeigen, wie die Liebe Gottes gegen uns erst in Christo begründet ward, wie wir aber außerhalb der Gemeinschaft mit Christus Gott verhasst sind. Man halte indessen im Sinne, was ich vorhin sagte, nämlich, dass jene verborgene Liebe, mit welcher der himmlische Vater uns umfing, weil sie in seinem ewigen Wohlgefallen ihren Ursprung hat, allen anderen Ursachen übergeordnet ist; die Gnade aber, die nach seinem Willen uns bezeugt werden soll, und durch welche wir zur Heilsgewissheit ermutigt werden, nimmt ihren Anfang bei der durch Christum erworbenen Versöhnung. Gott muss ja notwendig die Sünde hassen. Wie könnten wir glauben, dass er uns liebt, solange für die Sünden keine Sühne beschafft ist? Muss er uns doch in Ansehung unserer Sünden zürnen. Das Blut Christi muss vermitteln und Gott mit uns versöhnen; dann erst können wir fühlen, dass sein Vaterherz für uns voller Wohlwollen ist. Wie wir übrigens hier hören, dass Gott, weil er uns liebte, seinen Sohn für uns in den Tod gegeben hat, so werden wir bald weiter hören, dass es Christus ganz allein ist, auf den der Glaube zu sehen hat. Gott hat seinen eingeborenen Sohn dahingegeben, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht. Das ist wahrlich der liebste Anblick des Gläubigen: Christus, in dem das von Liebe überströmende Herz Gottes sichtbar wird! Der hat einen Halt, der nimmermehr ins Wanken kommt, der sich auf den Tod Christi verlässt als auf das einzige Unterpfand seines Heils.-
Heißt Christus der eingeborene Sohn, so soll uns dies einen besonders tiefen Eindruck von Gottes Liebe erwecken. Nicht leicht gewinnt ja ein Mensch eine vollkommene, zweifelsfreie Überzeugung davon, dass Gott ihn liebt. Darum sagt der Herr ausdrücklich, dass Gott uns zu liebe nicht einmal seinen eingeborenen Sohn verschont hat. So hoch und teuer hat er uns seine Liebe bezeugt. Wer, mit solchem Zeugnis nicht zufrieden, noch in Ungewissheit hin und her schwankt, der fügt Christo keine geringe Beleidigung zu; er tut nämlich so, als sei, da Christus gekreuzigt wurde, niemand Besonderes, sondern ein beliebiger Mensch, wie jeder andere auch, in den Tod gegangen. Wahrhaftig, nein! Im Gegenteil, wir müssen die Sache so ansehen: Gott schätzt den Wert seines einigen Sohnes unermesslich hoch ab; aber genau ebenso kostbar ist ihm unser Heil. Er selber wollte, dass der Preis dafür der Tod seines einigen Sohnes sein sollte. Übrigens steht Christo dieser Name von Rechts wegen zu, da er von Natur allein der Sohn ist. Diesen Ehrennamen teilt er mit uns erst dann, wenn wir, zu Kindern Gottes angenommen, seinem Leibe eingefügt werden.
Auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden. Das höchste Lob für den Glauben: er bewahrt uns vor dem ewigen Verderben! Obwohl wir von Geburt an dem Tode verfallen zu sein scheinen, bietet sich uns im Glauben an Christum unverhofft ein Ausweg dar, sodass der Tod alle Schrecken für uns verliert. „Die an ihn glauben“, heißt es für jedermann, - eine Einladung für alle, auch ihren Anteil am Leben sich zu sichern, sowie ein Abschneiden aller Entschuldigung für den, der nicht glaubt. Denselben Zweck hatte auch schon der Hinweis auf die „Welt“. Gott vermag zwar in der Welt nichts zu finden, was ihm seine Huld abnötigte; dennoch zeigt er sich gütig gegen die ganze Welt. Alle ohne Ausnahme beruft er zum Glauben an Christum und eben damit zum Eingang ins Leben. Doch mögen wir uns daran erinnern, dass, trotz der Verheißung des Lebens in Christo für alle Gläubigen, der Glaube durchaus nicht jedermanns Ding ist. Christus steht zwar offen und zugänglich vor jedermann, Gott öffnet jedoch nur den Auserwählten die Augen, dass sie ihn im Glauben suchen. Von einer wunderbaren Wirkung des Glaubens redet unsere Stelle. Durch ihn nehmen wir Christum so auf, wie ihn uns der Vater geben will, nämlich als den, der uns von der Verhaftung unter dem ewigen Tod befreit und durch das Opfer seines Todes unsere Sünden gesühnt hat, damit nichts im Wege sei, dass Gott uns als seine rechten Kinder anerkennt. Der Glaube umfasst Christum mitsamt der Wirkung seines Todes und der Frucht seiner Auferstehung. Nun versteht es sich von selbst, dass wir durch den Glauben das Leben erlangen. Das „dass“ ist also klar, aber noch nicht das „warum und wie“. Bringt uns der Glaube das Leben, weil Christus durch seinen Geist neue Menschen aus uns macht, in welcher die Gerechtigkeit Gottes zu Kraft und Leben gekommen ist, oder weil wir, durch sein Blut von Sünden gereinigt, aus freier Gnade von Gott für gerecht angesehen werden? Beides ist allerdings regelmäßig miteinander verbunden. Aber hier handelt es sich um die Heilsgewissheit. Und da ist vor allem dieser Gedanke festzuhalten: das Leben ist deshalb uns geschenkt, weil Gott uns in freier Vergebung der Sünden seine Liebe zuwendet. Deshalb wird hier das Opfer erwähnt, durch welches sowohl die Sünden als auch Schmach und Tod weggeschafft worden sind. In uns selber haben wir kein Leben; nur in Christo können wir wieder zum Leben kommen. Bei dem traurigen Zustande der Menschheit kommt zuerst die Erlösung und dann die Errettung, zuerst die Vergebung der Sünden und dann das neue Leben.
V. 17. Gott hat seinen Sohn nicht gesandt, dass er die Welt richte, d. h. verdamme. Dieser Hinweis auf den Zweck der Sendung Christi dient dem vorigen Satze zur Bestätigung. Jesus kam nicht, um zu verderben: vielmehr besteht das Amt des Sohnes Gottes darin, allen, die an ihn glauben, das Heil zu schenken. Es ist also kein Grund vorhanden, dass sich jemand mit Bedenken trage oder ängstlich sorge, wie er dem Tode entfliehen könne; wir werden ja versichert, dass Christus uns nach Gottes Ratschluss dem Tode entreißen soll. Wiederum ist von der ganzen „Welt“ die Rede, damit niemand sich für ausgeschlossen halte: nur den Weg des Glaubens muss er innehalten. Wenn Christus in Abrede stellt, dass er gekommen sei, um die Welt zu verdammen, so bezeichnet er damit den eigentlichen Zweck seines Kommens. Sein Kommen wäre unnötig gewesen, wenn er uns, die wir bereits drei oder vier Mal den Tod verdient hatten, hätte ins Verderben bringen wollen. An Christo ist also nichts anderes zu sehen, als dass uns Gott nach seiner unermesslichen Güte aus dem Verderben helfen wollte. So oft nun unsere Sünde uns beunruhigt, so oft Satan uns in Verzweiflung stürzen will, müssen wir als Schild vor uns halten die von Christo verkündigte frohe Botschaft, dass Gott nicht will, dass wir ins ewige Verderben fallen, da er ja seinen Sohn zum Retter der Welt bestimmt hat. Wenn Christus anderwärts lehrt, er sei zum Gericht gekommen, wenn er der Stein des Anstoßes genannt wird, wenn es heißt, er sei zum Fall vieler gesetzt (Joh. 9, 39; 1. Petr. 2, 8; Lk. 2, 34), so wird damit nicht der Herzpunkt seines Amtes betroffen. Wer die in ihm dargebotene Gnade verächtlich abweist, der ist es wert, den Richter und Rächer so gräulicher Verachtung zu fühlen. Gottes Macht will nur jedem Glaubenden Rettung schaffen; infolge der Undankbarkeit vieler, die nicht glauben mögen, gereicht sie jedoch diesen letzteren zum Tode. Für beides hat Paulus den besten Ausdruck, wenn er (2. Kor. 10, 6) sagt, die Waffen, welche er führe, seien bereit, allen Ungehorsam der Widersacher seiner Lehre zu rächen, nachdem der Gehorsam der Frommen erfüllt worden. Das ist genau so, als wenn er sagte: hauptsächlich und an erster Stelle ist das Evangelium für die Gläubigen bestimmt, ihnen Rettung zu bringen; dann aber werden die Ungläubigen, welche die Gnade Christi verachten und sich lieber den Tod als das Leben bei ihm holen wollen, nicht ungestraft ausgehen.
V. 18. Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet. Wenn Jesus diesen Satz so oft und so eingehend behandelt, dass alle Gläubigen sich außer Todesgefahr befinden, so darf man daraus schließen, wie notwendig ein gewisser und fester Glaube ist, damit die Gewissen nicht in fortwährender Angst und Unruhe sind. Er spricht es deshalb wiederholt hier aus, dass, sobald wir Glauben haben, für uns keine Verdammnis mehr besteht, was er dann im 5. Kapitel noch ausführlicher darlegen wird. Die grammatische Form der Gegenwart ist hier, wie es in der hebräischen Sprache so oft vorkommt, für gleichbedeutend mit der Zeitform der Zukunft zu nehmen. Sie drückt aus, dass die Gläubigen ganz sicher nicht werden gerichtet werden.
Der zweite Satz unseres Verses „wer aber nicht glaubt usw.“ will besagen, dass es keinen anderen Ausweg gibt, auf dem ein Mensch dem Tode entfliehen kann. Es soll uns eingeprägt werden: Allen, die das in Christo gegebene Leben verwerfen, bleibt nichts anderes übrig, als der Tod, da ausschließlich im Glauben Leben zu haben ist. „Der ist schon gerichtet“ heißt es mit Nachdruck, um besser auszudrücken, dass es um alle Ungläubigen geschehen ist. Christus spricht hier insbesondere von denen, deren Gottlosigkeit sich in offenbarer Verachtung des Evangeliums verrät. Sicherlich hat es ja niemals ein Mittel gegen den Tod gegeben außer der Zuflucht zu Christo. Da wir aber soeben einen Hinweis auf die Predigt des Evangeliums in der ganzen Welt empfingen (V. 14), so werden sich unsere Worte insbesondere gegen die Leute richten, welche absichtlich und böswillig das von Gottes Hand angezündete Licht auslöschen.
V. 19. Das ist aber das Gericht. Dies Wort begegnet dem bei ungeheiligten Menschen gar sehr verbreiteten Klagen und Murren über vermeintliche Härte seitens Gottes, der strenger, als sie es wünschten, mit ihnen verfährt. Es scheint hart, dass alle, die nicht an Christum glauben, dem Verderben geweiht sein sollen. Damit nun niemand seine Verdammnis Christo Schuld gebe, lehrt er hier, dass jedem selbst die Schuld dafür zugerechnet werden muss. Aber weshalb? Weil Unglaube der Zeuge für ein böses Gewissen ist. Daraus ergibt sich, dass die eigene arge Gesinnung den Ungläubigen den Weg zu Christo versperrt. Christus beabsichtigt, den Menschen zu wehren, dass sie, wie sie es so gerne tun, Ausflüchte suchen oder mit Gott hadern, als ob er sie ungerecht behandle, wenn er den Unglauben mit ewigem Tode straft. Er zeigt also, dass ein solches Gericht Gottes recht und billig und über jeden Tadel erhaben ist, nicht nur deshalb, weil diejenigen, welche die Finsternis dem Lichte vorziehen und das ihnen angebotene Licht fliehen, eine Torheit begehen, sondern weil ihr lichtscheues Gebaren aus einem Herzen hervorgeht, das sich der Bosheit bewusst und von Frevel befleckt ist. Es lässt sich freilich nicht leugnen: bei vielen, die sich gegen das Evangelium feindlich stellen, bietet sich unserem Auge ein schönes Lichtbild von Heiligkeit dar. Aber mögen sie heiliger aussehen als Engel, es kann nicht der mindeste Zweifel darüber bestehen: es sind Heuchler, die aus keinem anderen Grunde die christliche Lehre abweisen, als weil sie ihr Versteck lieben und darin ihre Hässlichkeit verbergen wollen. Nur Heuchelei macht Menschen zu Widersachern Gottes. So erklingt denn das „Schuldig!“ über sie alle, weil sie, wenn sie nicht in der Verblendung ihres Hochmuts sich in ihrem sündigen Wesen selber gefielen, von Herzen bereit sein würden, das Evangelium anzunehmen.
V. 20. Wer Arges tut, der hasst das Licht. Das Licht ist solchen Leuten aus dem Grunde verhasst, weil sie böse sind und so viel als möglich ihre Sünden zu bedecken wünschen. Daraus folgt, dass sie auf der einen Seite das einzige Mittel gegen das Verderben von sich stoßen und auf der anderen Seite die Sünde, um derentwillen ihnen die Verdammnis droht, wie ihr Schoßkind hätscheln. Wir täuschen uns also gründlich, wenn wir der Meinung sind, diejenigen, welche gegen das Evangelium wüten, seien dazu von frommem Eifer getrieben, Weit gefehlt! Sie haben Angst vor dem Licht, weil sie in der Finsternis viel besser ihren Selbstbetrug aufrechterhalten können.
V. 21. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt an das Licht. Anscheinend enthalten diese Worte etwas Widersinniges, Unrichtiges. Oder dürfte man wirklich zugeben, dass einige Menschen recht und wahrhaftig sind, ehe sie durch den Geist Gottes wiedergeboren sind? Das stimmt doch durchaus nicht mit der durchgängigen Schriftlehre! Wissen wir doch: der Glaube ist die Wurzel, aus welcher die guten Werke erst als Früchte hervorkommen. Ein rechter Knoten! Man hat ihn dadurch aufzulösen versucht, dass man „die Wahrheit“ auslegte: anerkennen, wie elend und unfähig wir sind, Gutes zu tun. Sicherlich ist das die rechte Vorbereitung auf den Glauben, wenn wir im Gefühle unserer Bedürftigkeit unsere Zuflucht zur Gnade Gottes nehmen. Aber das hat Christus hier gewiss nicht gemeint. Er wollte einfach sagen: wenn jemandes Handlungsweise lauter ist, so sucht er nichts mehr als gerade das Licht; das soll die Probe sein auf sein Tun; denn solche Prüfung lässt am besten erkennen, dass er in Gottes Augen wahrhaftig und ohne Trug gewesen ist. Eine recht verkehrte Eintragung in unsere Stelle wäre es, wollte man sagen: also haben die Menschen schon, ehe sie glauben, ein gutes Gewissen. Denn auf der einen Seite sagt Jesus ja nicht, dass die Auserwählten zum Glauben kommen, um für ihre guten Taten Lob zu ernten, - und auf der anderen sagt er lediglich, wie es die Ungläubigen machen würden, gesetzt den (unmöglichen) Fall, dass sie kein schlechtes Gewissen hätten. Übrigens hat Christus das Wort „Wahrheit“ angewendet, weil wir uns so leicht von dem äußeren Glanze der Werke täuschen lassen, ohne dass wir bedenken, wie es inwendig in dem Menschen aussehen mag, der sie tut. Deshalb sagt er, dass unschuldige Menschen, die sich nicht für besser ausgeben als sie sind, mit Freudigkeit Gott unter die Augen treten können, welcher allein der zuständige Richter über unser Tun ist. Die Werke heißen hier „in Gott getan“, sofern sie ihm gefallen und nach seinem Maßstabe gut sind. Lasst uns daraus lernen: über menschliches Tun kann man nur im Licht des Evangeliums recht urteilen; unsere Vernunft ist dazu völlig außerstande.
V. 22 bis 24. Darnach kam Jesus usw. Wahrscheinlich ist Christus nach Ablauf des Festes in denjenigen Bezirk von Judäa gekommen, der in der Nähe der zum Stammesgebiet von Manasse gehörigen Stadt Enon lag. Der Evangelist berichtet, dass viel Wasser dort gewesen ist, woran Judäa keinen großen Überfluss hatte. Auf unseren Landkarten werden die beiden Städte Enon und Salim nicht fern von der Mündung des Jabok in den Jordan angegeben, in der Nähe von Skythopolis. Übrigens darf man diesen Worten entnehmen, dass Johannes und Christus die Taufe mit völligem Untertauchen des Körpers des zu Taufenden vollzogen haben. Indes braucht man auf ängstliche Nachahmung des äußerlichen Herganges keinen übertriebenen Wert zu legen. Die Taufe wird richtig vollzogen, wenn nur alles mit der geistlichen Wahrheit und der Einsetzung und Vorschrift des Herrn übereinstimmt. So viel wir vermuten müssen, hat der Umstand, dass die beiden Männer sich in so kurzer Entfernung voneinander aufhielten, es dazu gebracht, dass allerlei Gerüchte in Umlauf kamen, dass viel in Gesprächen verhandelt wurde über alles Mögliche: über das Gesetz, über die Gottesverehrung, über den Zustand der Gemeinde, - alles veranlasst durch die beiden zuvor unbekannten Spender der Taufe, die gleichzeitig hervortraten. Denn wenn der Evangelist sagt, dass Christus getauft habe, so beziehe ich das auf diese allerersten Anfänge seines Auftretens, von denen das Evangelium Johannes bisher berichtete; damals erst hat er ja das vom Vater ihm aufgetragene Amt angetreten. Obgleich Christus aber durch seine Jünger taufen ließ, wird doch er als der Spender der Taufe genannt, und seine Werkzeuge mit Schweigen übergangen, da sie ja nur in seinem Namen und Auftrage handelten. Zu Anfang des nächsten Kapitels ist dieser Punkt noch einmal zu berühren (4, 2).
V. 25. Da erhob sich eine Frage usw. Nicht ohne Grund macht der Evangelist hier darauf aufmerksam, dass die Frage zuerst von den Jüngern des Johannes aufgeworfen wurde. Je weniger sie nämlich Unterweisung genossen hatten, desto größer ist das Selbstvertrauen, mit dem sie sich in einen Wortstreit einlassen, - wie ja Unwissenheit immer verwegen ist. Wären sie von anderen angegriffen worden, so könnte man sie entschuldigen. Aber sie fangen mit den Juden aus eigenem Antrieb einen Streit an, dem sie nicht gewachsen sind, - ein kühnes und verkehrtes Unterfangen. Der Wortlaut bezeichnet ausdrücklich sie selbst als die Urheber. Nicht recht war es, dass sie über eine ihnen nicht klare Sache, die über das Maß ihres Wissens hinausging, verhandelten. Nicht minder groß war der weitere Fehler, dass sie nicht sowohl beabsichtigten, den richten Gebrauch der Taufe zu verteidigen, als vielmehr einseitig für die Sache ihres Meisters einzutreten, damit nur sein Ansehen ungeschmälert bleibe. Beides verdient Tadel: dass sie durch Unbekanntschaft mit der wahren Bedeutung der Taufe die heilige Anordnung Gottes der Spöttelei aussetzen und dass sie in verkehrter Ehrsucht Partei für ihren Meister gegen Christus nehmen. Ein Wort hätte genügt, sie aufs tiefste zu beschämen: Es ist ja der wahre Messias, dessen Taufe ihr verwerft! Von der Verteidigung der Person ihres Meisters völlig in Anspruch genommen, hatten sie völlig außeracht gelassen, was Johannes jüngst noch über Christus gelehrt hatte. Ihr Beispiel kann uns darüber belehren, zu was für Fehlgriffen derjenige kommen kann, der sich mehr durch unlautere Parteinahme für Menschen leiten lässt als durch Eifer um Gott. Das soll uns dringend die Pflicht ans Herz legen, darauf unser Augenmerk zu richten und darauf mit allen Kräften hinzuwirken, dass Christus und nur er hoch dastehe.
Über die Reinigung. Die Frage betraf die Reinigung, da ja den Juden mancherlei Waschungen vom Gesetz vorgeschrieben waren, und sie, nicht zufrieden mit diesen gesetzlichen, noch obendrein viele von den Vorfahren aufgebrachte Waschungen eifrig pflegten. Wenn da noch ein neuer Brauch der Reinigung von Christus und Johannes eingeführt wird, wo doch eine solche Menge und Mannigfaltigkeit schon vorhanden ist, sind sie der Meinung: das hat keinen Sinn.
V. 26. Von dem du zeugtest. Mit der Anführung des Zeugnisses, das ihr Meister für Christus abgab, wollen die Johannesjünger entweder Christum unter Johannes heruntersetzen oder doch sagen: er wäre dir doch wohl zu Dank verpflichtet, da du ihm so hohe Ehre angetan hast. Dass Johannes ihn mit so ehrenvollen Aussprüchen begrüßt hat, sehen sie als eine Christo erwiesene Wohltat an, für die er wiederum sich dankbar zu erweisen hat. Als ob mit solchem Heroldsrufe Johannes nicht einfach seine Pflicht getan hätte, und als ob es nicht eben seine höchste Würde wäre, dass er der Herold sein darf, der dem Sohn Gottes den Weg bahnt! Schier unbegreiflich aber ist es, dass seine Jünger um deswillen dem Johannes die erste und Christo eine tiefere Stelle einräumen, weil Johannes ihm durch sein Zeugnis eine Empfehlung gegeben hatte. Wissen wir doch, wie das Zeugnis des Johannes lautete! Wenn sie sagen: „Sie kommen alle zu Christo“, so ist das die Stimme verkehrter Eifersucht; sie fürchten, dass die Volksmenge sich in kurzer Frist ganz von ihrem Meister weg verläuft.
V. 27. Ein Mensch kann nichts nehmen usw. Das beziehen einige Ausleger auf Christum, als wollte Johannes seine Jünger anklagen: euren gottlose Verwegenheit richtet sich gegen den Vater, der Christo gegeben hat, was ihr ihm nehmen wollt. Sie halten also das für den rechten Sinn: Wenn Christus so rasch zu dieser hohen Ehrenstellung emporgekommen ist, so ist dies von Gott geschehen; es ist verlorene Mühe, wenn ihr ihn herunterdrücken wollte, nachdem ihn Gott mit seiner mächtigen Hand so hoch gestellt hat. Ich ziehe jedoch folgendes Verständnis vor: Johannes bestreitet es sowohl für sich selbst als seinen Jüngern, dass sie imstande seien, mit schöpferischer Kraft aus sich selber etwas Großes zu machen. Es gibt ein festes Maß für einen jeden von uns: wie Gott uns haben will, so sind wir. Nicht einmal er selbst, der Sohn Gottes, hat die Ehre an sich gerissen. Wer aus der Schar der Menschen wird es wagen, mehr zu verlangen, als der Herr gegeben hat? Dieser eine Gedanke, säße er nur fest in jedermanns Seele, würde vollkommen hinreichen, den Ehrgeiz zu bändigen. Wäre in diesem Stück erst einmal Besserung und Abhilfe geschaffen, so würde gleichzeitig allen Zänkereien der Todesstoß versetzt sein. Woher kommt es denn, dass jeder sich ungebührlich brüstet? Einfach davon, dass wir uns dem Herrn nicht fügen wollen, dass wir nicht zufrieden sind mit der Stellung, die er uns bestimmt.
V. 28. Ihr selbst seid meine Zeugen. Johannes macht seinen Jüngern zum Vorwurf, dass sie dem, was er gesagt hat, keinen Glauben schenken. Mehr als einmal hatte er daran erinnert: Ich bin doch nicht Christus! Was sollte er dann aber anders sein, als ein Diener, dem Sohne Gottes ebenso gut untergeordnet wie die übrigen? Eine merkwürdige Aussage! Indem er bestreitet, Christus zu sein, weist er sich selber den Platz an, der ihm gebührt: er hat als einer von vielen in Untertänigkeit gegen das Haupt der Gemeinde dieser zu dienen und darf nicht dermaßen erhoben werden, dass unter der Ehre, die dem Gliede widerfährt, die Ehre des Hauptes leidet. Er nennt sich „vor ihm her gesandt“, weil er Christo den Weg bereiten soll, wie die Vorläufer zu tun pflegen, wenn sie dem Volk das Nahen der Könige melden.
V. 29. Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam. Mit diesem Gleichnis macht Johannes noch klarer, dass Christus der eine ist, welcher eine Ausnahme bildet in der großen Zahl der anderen. Wer ein Weib heimführt, lädt seine Freunde doch wahrhaftig nicht deshalb auf die Hochzeit, um ihnen die Braut zu überlassen. Nein, er tut es, damit durch ehrenvolle Feier des Hochzeitstages die künftige Ehe eine höhere Weihe bekomme. Ebenso macht es Christus. Er beruft seine Diener nicht deswegen zum Lehramte, damit sie sich die Gemeinde zu Füßen werfen und selber die Herren spielen sollen, sondern weil er ihre treuen Dienste gebrauchen will, damit die Gemeinde mit ihm selbst vereinigt werde. Es ist etwas Großes und Herrliches, wenn Menschen an die Spitze der Gemeinde gestellt werden, die dem Sohne Gottes solche Dienste leisten sollen. Sie sind den Freunden zu vergleichen, welche ein Bräutigam heranzieht, damit sie ihm seine Hochzeit feiern helfen. Doch ist der Unterschied genau zu beachten: sie sind nur die Freunde und dürfen nicht an sich ziehen, was dem Bräutigam allein gehört. Mögen Lehrer der christlichen Kirche noch so hervorragend sein, so dürfen sie doch nicht Christo hinderlich sein am alleinigen Regiment in der Kirche; er ganz allein soll sie durch sein Wort regieren. Das Gleichnis von Bräutigam und Braut findet sich wiederholt in der Schrift, wenn der Herr das heilige Band bezeichnen will, wodurch er uns annimmt und mit sich vereinigt. Ihm ist es Ernst, wenn er sich uns anbietet: da habt ihr mich; ich will euch gehören! So kann er sich denn auch mit Fug und Recht Glauben und Gegenliebe ausbedingen, wie sie das Weib dem Gatten schuldet. Das Ehebündnis zwischen dem Herrn und der Gemeinde ist in Christo in jeder Beziehung zu seiner Erfüllung gekommen; wie Paulus (Eph. 5, 30) darlegt, sind wir sein Fleisch und Bein. Die Keuschheit, welche Christus bei seinem Weibe sucht, besteht vor allem in dem Gehorsam gegen das Evangelium, von dessen Reinheit und Einfachheit wir uns um keinen Preis abbringen lassen dürfen. Wir haben einzig und allein Christo untertänig zu sein; er nur ist unser Haupt. Nicht ein Haar breit dürfen wir von der einfachen Lehre des Evangeliums abweichen. Ihm allein gebührt der Ruhm unseres Oberherrn, wenn er in der christlichen Gemeinde Recht und Platz des Bräutigams behalten soll. Und seine Diener? Sie hat der Sohn Gottes hinzugezogen, weil er darauf rechnet, dass sie ihm behilflich sind, die heilige Vermählungsfeier auszuführen. Ihre Sache ist, alles daran zu setzen, damit sie die Braut, die ihrer Obhut anvertraut ward, als eine reine Jungfrau dem Manne zuführen. Paulus rühmt sich, dass er diese Pflicht erfülle (2. Kor. 11, 2). Diejenigen hingegen, welche die Kirche statt an Christum vielmehr an ihre eigene Person ketten, verletzen treulos den Ehebund, zu dessen schönster Ausführung sie behilflich zu sein verpflichtet wären. Eine hohe Ehre ist es, deren uns Christus würdigt, wenn er uns zu Hütern seiner Braut macht; deshalb ist die Untreue doppelt groß und frevelhaft, wenn wir uns nicht bemühen, ihm sein Anrecht unverkürzt zu erhalten.
Dieselbige meine Freude ist nun erfüllt. Johannes spricht damit aus, dass er jetzt am Ziele aller seiner Wünsche steht; nun bleibt ihm nichts mehr zu wünschen übrig. Er sieht ja, wie Christus das Regiment in der Hand hat. Er sieht, dass er das verdiente Gehör findet. Der ist ein rechter Lehrer und Leiter der Kirche, der diese Johannes-Gesinnung im Herzen trägt: was kommt auf mich an? Wenn nur Christus hoch dasteht! Ehrt ihn, so bin ich zufrieden! Wer aber auch nur im Mindesten anders gesinnt ist, der verdient den Namen eines unreinen Ehebrechers. Er wird gar nicht anders können, als die Braut Christi verführen.
V. 30. Er muss wachsen. Der Täufer geht noch weiter. Früher hatte der Herr ihn zu hoher Würde erhoben. Das sollte aber nur für eine kurze Zeit vorhalten: jetzt ist die Sonne der Gerechtigkeit aufgegangen; vor ihr verbleicht der Morgenstern. Nicht bloß die ehrende Beweihräucherung, welche ihm die Leute irrtümlich widmeten, weist er mit Entschiedenheit von sich ab, - nein, es ist ihm sogar eine ernstliche Sorge, dass die mit gutem Rechte ihm vom Herrn selber übertragene Ehre nur ja nicht den Lichtglanz Christi verdunkle. Aus diesem Grund sagt er, wenn man ihn bis dahin als den höchsten Propheten angesehen habe, so sei das jetzt aus. Er sei nur vorübergehend auf einen so erhabenen Platz gestellt worden. Nun sei Christus da. Die leuchtende Fackel müsse nun aus seiner in Christi Hand hinübergehen. Damit bezeugt er: es liegt mir nichts daran, wenn ich wieder nichts werde. Nur daran liegt mir etwas, dass Christus mit seinen Strahlen die ganze Welt erfüllt und sich zu eigen macht. In diesem einzigen Verlangen müssen ihm alle Hirten der Kirche gleich werden. Sie haben sich zu bücken, damit über ihre Schultern und Häupter hinweg Christus hoch empor steigen kann.
V. 31. Der von oben her kommt usw. Mit einem neuen Bilde zeigt Johannes, wie sehr sich Christus von allen anderen unterscheidet, und in wie hohem Maße er ihnen überlegen ist. Er vergleicht ihn mit einem Könige oder Oberbefehlshaber, welcher von erhöhtem Thronsitze aus redet und seiner erhabenen Herrscherstellung entsprechend Gehör finden muss. Ihm selbst dagegen, das gibt er zu verstehen, sei es genug, wenn er von der untersten Bank aus den Mund auftun dürfe. Von Christus sagt er, dass er von oben her komme, nicht nur insofern er Gott ist, sondern weil an ihm nichts anderes als nur die Fülle himmlischer Hoheit wahrzunehmen ist.
Die Wiederholung: wer von der Erde ist, der ist von der Erde, ist nicht überflüssig. Der Sinn ist: wer von der Erde ist, dem merkt man seinen Ursprung an; der Beschränktheit seiner Art gemäß haftet er am Irdischen. Das ist nur bei Christo zu finden, dass er von oben her redet; kommt er doch vom Himmel herab. Nun fragt es sich: kommt denn nicht auch Johannes, was Beruf und Amt anlangt, von oben her? Musste man nicht auch ihm Gehör geben, zumal der Herr durch seinen Mund redet? Anscheinend lässt der Täufer hier der himmlischen Lehre, die er vorträgt, nicht volle Gerechtigkeit widerfahren. Wir werden das so verstehen müssen: dies Wort ist nicht geradehin von der Sache an sich geredet, sondern nur vergleichsweise. Wenn die Diener Gottes jeder für sich besonders betrachtet werden, dann reden sie vom Himmel her, mit höchster Vollmacht angetan, was Gott ihnen aufgetragen hat; sobald man sie aber Christo gegenüber stellt, dürfen sie nichts mehr sein. So wird Eph. 12, 25 Gesetz und Evangelium miteinander verglichen und gesagt, wenn jene nicht straflos ausgingen, die den verachteten, welcher auf Erden redete, sollten sich die Christen hüten, den zu verachten, der vom Himmel her redet. Christus will in seinen Dienern anerkannt werden, aber nur so, dass er allein der Herr bleibt, sie dagegen mit ihrer Stellung als seine Knechte zufrieden sind. Zumal, wenn es zu einer Gegenüberstellung zwischen Herr und Diener kommt, will er den Unterschied klar gewahrt wissen; er allein überragt alle anderen.
V. 32. Er zeugt, was er gesehen und gehört hat. Johannes fährt fort, seines Amtes zu walten. Er will Christo Jünger zuführen. Deshalb empfiehlt er Jesu Lehre hinsichtlich ihrer Gewissheit: Er bringe nichts vor, als was er von seinem Vater empfangen habe. Sehen und hören steht im Gegensatz zu zweifelhafter Meinung, zu leeren Gerüchten und allerlei Erdichtungen. Er spricht damit aus: Christus lehrt nur, was er aufs bestimmteste weiß. Er ist vom Vater selbst belehrt worden. Deshalb ist alles, was er beibringt, göttlich, weil von Gott ihm geoffenbart. Das trifft zu für die ganze Person Christi, insofern er vom Vater als sein Bote und Vermittler in die Welt gesandt worden ist. – Danach klagt Johannes die Welt um ihrer Undankbarkeit willen an; einen so sicheren und zuverlässigen Gotteszeugen verschmäht sie gottloser, ja verbrecherischer Weise: sein Zeugnis nimmt niemand an. Damit tritt er dem Ärgernis entgegen, das viele vom Glauben abwendig machen und viele ganz abhalten oder doch aufhalten konnte, zu Christo hinzueilen. In der Regel hängen wir ja allzu sehr vom Urteil der Menschen ab. Nicht wenige richten sich, wenn es das Evangelium gilt, nach der Verachtung, die die Welt demselben erweist. Sie sehen, dass es allenthalben weggeworfen wird, lassen sich davon beeinflussen und werden immer unlustiger und träger zu seiner Annahme. So oft wir solche Halsstarrigkeit der Welt zu sehen bekommen, soll uns dies Mahnwort des Johannes helfen, in treuem Gehorsam daran festzuhalten: das Evangelium ist die von Gott stammende Wahrheit. Wenn er sagt: niemand nimmt es an, so soll das bedeuten: es sind nur wenige, ja, es ist fast niemand, der daran glaubt, wenn man die Gläubigen mit der ungeheuren Schar der Ungläubigen vergleicht.
V. 33. Wer es aber annimmt usw. Hiermit ermahnt und ermutigt der Täufer alle Frommen, doch ohne Zagen die Lehre des Evangeliums gläubig hinzunehmen. Er will sagen: Ihr braucht euch nicht zu schämen, dass ihr so gering seid, wenn nur Gott in euch den Glauben geweckt hat. Hat er das getan, so mag kommen, wer und was da will, wir haben volles Genüge an ihm. Mag dann die ganze Welt dem Evangelium den Glauben verweigern, - es darf wahren Christen kein Hindernis sein, sich trotzdem zu Gott zu halten. Sie können dabei vollkommen ruhig sein, wissen sie doch, dass dem Evangelium glauben, nichts anderes heißt, als den heiligen Aussprüchen des göttlichen Mundes seine Zustimmung zu geben. Dabei bemerken wir: das ist gerade die Eigentümlichkeit des Glaubens: er ruht auf Gott und hat seinen unerschütterlichen Stand in Gottes Wort. Seine Zustimmung kann man erst dann geben, wenn Gott seinerseits den Anfang gemacht und zuvor geredet hat. Durch diese Lehre wird es klar, dass der Glaube etwas weit anderes ist als alles, was sich Menschen selber ausdenken können, etwas weit anderes als eine unsichere, dem Zweifel zugängliche Meinung. Wie die Wahrheit Gottes selbst allem Zweifel entnommen ist, dem entsprechend ist auch der Glaube beschaffen. Es ist unmöglich, dass Gott lüge, - damit ist auch rechter Glaube keinem Schwanken und Wanken ausgesetzt. Das ist die feste Burg, in der wir uns verschanzen. Mag nun Satan all seine List brauchen, um uns in Verwirrung oder zu Falle zu bringen, - der Sieg ist unser für und für! –
Die vorliegende Stelle erinnert uns auch daran, was für ein angenehmes, köstliches Opfer der Glaube in Gottes Augen ist. Ihm selber geht gewiss nichts über seine Wahrheit. So ist es ihm denn auch die liebste Verehrung, die wir ihm darzubringen imstande sind, wenn wir durch die Tatsache, dass wir ihm glauben, das Bekenntnis ablegen: Du bist wahrhaftig! Damit wird ihm erst die Ehre zuteil, die ihm gebührt. Hingegen kann ihm keine ärgere Beleidigung zugefügt werden, als die, dass man dem Evangelium den Glauben versagt. Wer Gott die Wahrhaftigkeit abspricht, der untergräbt damit seine ganze Ehre und Majestät. Im Evangelium ist nun Gottes Wahrheit sozusagen auf dem engsten Raum zusammengedrängt. Dort soll sie nach seinem Willen anerkannt werden. Die Ungläubigen lassen also, soweit das in ihrer Macht steht, Gott gar nichts mehr übrig. Gottes Treue steht zwar ohne Wanken fest auch trotz ihrer Gottlosigkeit. Aber wenn man sie anhören wollte, so wäre sie längst hingefallen; mit ihrem Unglauben sagen sie ja: Gott kann man nicht glauben. Sind wir nicht härter noch als Felsgestein, so muss dieser herrliche Ausspruch, durch den der Glaube so hoch erhoben wird, den Eifer wahren Glaubens in uns zu hellster Glut anfachen. Welch eine hohe Ehre wird uns zuteil, uns armseligen Menschlein, die wir von Natur lauter Lüge und Eitelkeit sind, wenn Gott uns dennoch für fähig erklärt, seine heilige Wahrheit durch unsere Zustimmung zu besiegeln!
V. 34. Denn welchen Gott gesandt hat, der redet Gottes Worte. Dadurch wird der vorhergehende Vers noch einmal bestätigt: wir haben es tatsächlich mit Gott selbst zu tun, wenn wir Christi Lehre annehmen. Christus kommt ja nirgend anderswoher als vom himmlischen Vater. Gott allein ist es also, der durch ihn redet. Wenn wir also Christi Lehre nicht rund und klar als göttlich anerkennen, versagen wir ihm die schuldige Ehrerbietung.
Gott gibt den Geist nicht nach dem Maß. Zwei Auslegungen gibt es zu diesen Worten. Einige beziehen sie auf die Spendung des Geistes an alle, die ihn bekommen. Sie finden hier gesagt: Gott, der unerforschliche Quell aller Güter, schenkt sich niemals arm, mag er gleich noch so reichlich seine Gaben den Menschen austeilen. Du magst lange aus einem Gefäß herausschöpfen, - endlich kommst du doch auf den Grund. Es ist keine Gefahr vorhanden, dass es Gott ähnlich ergehen könne. Mögen jetzt in breitem Strome seine Gaben daher fluten, im nächsten Augenblick kann er, wenn es ihm gefällt, das frühere durch eine noch größere Gabenfülle überbieten. Man muss zugeben: diese Auslegung hat etwas Bestechendes, zumal die Rede so allgemein gehalten ist.
Dennoch pflichte ich der zweiten Auslegung bei, die diese Worte ausschließlich auf Christum bezieht. Nicht stichhaltig ist der Einwand: aber Christus wird doch hier nicht ausdrücklich erwähnt! denn diese Erwähnung folgt unmittelbar, so dass man nicht mehr im Unklaren darüber sein kann: nicht von vielen, wie es zunächst den Anschein haben könnte, sondern nur von Christo ist hier die Rede.
Das nächstfolgende muss zur Auslegung herangezogen werden. Und da lesen wir, dass der Vater alles in des Sohnes Hand gegeben hat, weil er den Sohn lieb hat. Unsern Vers dürfen wir nicht aus dem Zusammenhang reißen. Heißt es nun, dass Gott den Geist „gibt“, so ist damit ein fortwährendes Tun Gottes bezeichnet. Jesus ist allerdings einmal bis zur höchsten Vollkommenheit mit dem Geiste beschenkt worden. Aber doch strömt er anhaltend wie aus einem stark sprudelnden Quell auf ihn über, weshalb es keinerlei Widersinn in sich schließt, wenn wir hier lesen: er empfängt ihn auch jetzt noch vom Vater. Christo ist jedenfalls der Geist nicht nach dem Maße gegeben worden, als wäre seine Gnadengabe irgendwie beschränkt, wie das Paulus von den einzelnen Christen lehrt (1. Kor. 12, 7; Eph. 4, 7). Diese haben ihre Gnadengabe nur entsprechend dem Maße, mit dem Gott sie beschenkt hat; keiner hat die ganze Fülle. Das bindet ja die Gemeinschaft der Brüder untereinander so fest, dsas keiner für sich allein genug hat: sie bedürfen einander zur wechselseitigen Ergänzung. Christus unterscheidet sich in diesem Punkte von uns. Auf ihn hat der Vater die ganze unermessliche Fülle seines Geistes ausgegossen. Notwendiger Weise muss das auch so sein. Sollen wir doch alle aus seinem Reichtum schöpfen (vgl. 1, 16). Eben darauf bezieht sich auch, was im Folgenden gesagt wird, nämlich, dass der Vater alles in seine Hand gegeben hat.
Johannes will mit diesen Worten nicht nur die Erhabenheit Christi hervorheben, sondern es kommt ihm darauf an, zu zeigen, was für einen Zweck und Nutzen eigentlich seine reiche Begabung haben soll. Sie ist da für uns. Und der Vater hat es ganz ihm anheimgegeben, den einzelnen davon auszuteilen, wie es ihm gefällt und uns heilsam ist. Das Nähere darüber vgl. zu Eph. 4, 7 ff.
V. 35. Der Vater hat den Sohn lieb. Gewiss; aber wozu wird das ausgesprochen? Hasst er denn die anderen alle? Die Antwort darauf liegt nahe. Es handelt sich hier nicht um die allgemeine Liebe, mit der Gott alle von ihm geschaffenen Menschen und seine anderen Werke umfasst, sondern um die einzigartige Liebe, welche bei dem Sohne anhebt und von ihm aus dann auf alle Geschöpfe überfließt. Diese Liebe, mit der er den Sohn umfasst und uns in dem Sohne, bewirkt es, dass er uns durch seine Hand alle seine Güter mitteilt.
V. 36. Wer an den Sohn glaubt. Das wird hinzugefügt, damit wir nicht nur wissen, dass wir alle Güter von Christo erbitten müssen, sondern auch fest im Auge behalten, wie wir allein in ihren Besitz und Genuss gelangen können. Nur wer glaubt, genießt sie. Und das mit gutem Grunde! Denn nur im Glauben ist Christus unser. Und er bringt die Gerechtigkeit mit sich und als Frucht der Gerechtigkeit das ewige Leben. Der Glaube an Christum wird hier als Ursache des Lebens angegeben. Daraus ersehen wir: allein in Christo ist das Leben vorhanden. Und wir werden seiner nicht anders teilhaftig, als wiederum durch die Gnade Christi. Übrigens gibt es Meinungsverschiedenheiten darüber, wie das Leben Christi uns zugeeignet wird. Die einen nehmen an: im Glauben empfangen wir den heiligen Geist und dadurch die Wiedergeburt zur Gerechtigkeit; durch diese Wiedergeburt kommen wir in den Heilsbesitz. Wir werden ja allerdings durch den Glauben erneuert, sodass nun der Geist Christi uns beherrscht. Aber ich weiche doch insofern von der eben angeführten Ansicht ab, als ich betone: man muss an allererster Stelle die Vergebung der Sünden aus Gnaden ins Auge fassen, durch die es dahin kommt, dass wir Gott angenehm, annehmbar sind. Ich betone ferner: in ihr allein hat die ganze Heilsgewissheit ihre Grundlage und ihren Bestand, weil nämlich Gerechtigkeit vor Gott uns nicht auf anderem Wege zugerechnet werden kann als dadurch, dass er uns die Sünden nicht zurechnet.
Wer nicht glaubt usw. Wie Johannes uns das Leben in Christo vor die Augen geführt hat, um uns durch seine Süßigkeit anzulocken, so spricht er jetzt alle die dem ewigen Tode zu, die Christo nicht glauben. Er stellt dadurch Gottes Güte ins rechte Licht, indem er uns darauf hinweist, dass es, falls Christus uns nicht erlöst, kein Mittel gibt, dem Tode zu entfliehen. Der Satz, dass wir in Adam alle verloren sind, steht hiermit im engsten Zusammenhange. Ist es Christi Amt, das Verlorene zu retten, so geschieht es denen, die das von ihm angebotene Heil verächtlich abweisen, nur recht, wenn sie im Tode bleiben. Wie schon gesagt, gilt das nur denen, welche das ihnen nahegebrachte Evangelium verwerfen. Denn obgleich die gesamte Menschheit in das gleiche Verderben verwickelt ist, wartet doch derer, die den Sohn Gottes als Erlöser verschmähen, eine schwerere, ja die doppelte Strafe. Ohne Zweifel will der Täufer dadurch, dass er den Ungläubigen den Tod ankündigt, uns antreiben, aus Furcht davor lieber an Christum zu glauben. Offenbar wird mit diesen Worten über alle Gerechtigkeit, welche die Welt außer Christo zu haben wähnt, der Stab gebrochen, ja, sie wird für null und nichtig erklärt. Der Einwand zerfällt somit in sich selbst, es sei ungerecht, wenn die, welche im Übrigen heilig und fromm seien, lediglich um des Unglaubens willen verloren gehen sollten. Hat Christus nicht dem Menschen Heiligkeit geschenkt, so ist es mit seiner Heiligkeit nichts. –
Das Leben sehen bedeutet so viel als: das Leben haben. Um übrigens recht deutlich einzuprägen, dass es mit aller unserer Hoffnung aus ist, wenn wir uns nicht von Christo erlösen lassen, sagt Johannes: der Zorn Gottes bleibt über den Ungläubigen. Der Zorn bleibt ja auch insofern, als wir vom Mutterleibe an dem Tode verfallen sind, weil wir als Kinder des Zorns zur Welt kommen. Doch ist das nur ein Gedanke, der sich hier anknüpfen lässt, nicht aber der eigentliche Sinn unserer Stelle. Der ist, wie oben gesagt, der: der Tod lastet auf allen, die nicht glauben wollen und hält sie unter seinem Drucke begraben, sodass sie niemals entrinnen können. Schon von Natur sind ja die, welche keine Annahme finden, verdammt; durch willentlichen Unglauben jedoch holen sie sich von neuem den Tod. Zu diesem Zwecke ist den Dienern des Evangeliums die Gewalt, zu binden, übergeben worden. Denn das ist die gerechte Strafe menschlichen Trotzes, dass die, welche das zum Heile führende Joch Gottes abschütteln, sich selber mit Banden des Todes umstricken.