Calvin, Jean – Hiob 11, 7 – 12.
7) Wirst du wohl Gott finden, wenn du ihn suchst? Wirst du des Allmächtigen ganze Vollkommenheit ergründen? 8) Sie übersteigt die Höhe der Himmel – was willst du denn tun? Sie ist tiefer als der Abgrund – wie willst du sie denn begreifen? 9) Ihre Länge ist weiter als die Erde, ihre Breite größer als das Meer. 10) Wenn er einher fährt, um auszuschließen oder einzuschließen, wer will ihn hindern? 11) Und weil er die eitlen Menschen kennt, weil er siehet, die nichts wert sind, sollte er da nicht verstehen, 12) dass der Mensch, der sonst so wild ist, mit einem Herzen begabt und wie ein wilder Esel geboren ist?
Wir mühen uns vergeblich Gottes Weisheit zu erforschen, ebenso wie es uns nicht zusteht, uns vor Gott zu rechtfertigen. Gottes Vollkommenheit übersteigt die Höhe der Himmel, sie ist tiefer als die Abgründe. Und unser Maß? Der Mensch möchte sich gern die ganze Erde unterwerfen, und dabei genügen sechs Fuß, um ihn zu bedecken; der Mensch möchte gern das ganze Meer ist sein Gehirn einschließen, aber es ist vergebliche Mühe; er möchte über alle Himmel steigen, aber wie soll er dahin kommen? Er möchte gern alle Tiefen ergründen, aber wie soll er das machen? Aber könnten unsere Gedanken wirklich über die Himmel fliegen, so dass nichts vor ihnen verborgen bliebe, - die Weisheit Gottes erreichten wir dennoch nicht, weil sie grenzenlos ist; weder mit den Abgründen noch mit den Himmeln kann man sie vergleichen; denn sie überragt sie weit. Nein, es wäre eine törichte Vermessenheit, wollten wir uns unterstehen, die Ursachen des göttlichen Handelns ergründen zu wollen. Unter Weisheit ist hier der unergründliche Rat Gottes zu verstehen. Gewiss, ein klein wenig von dieser Gottesweisheit können wir wohl spüren; betrachten wir etwa die Kreaturen, so gibt sich uns Gott darin zu erkennen, freilich nur zum Teil. Nehmen wir nur das geringste Blättchen in die Hand, so sehen wir darin Gottes Künstlerhand; das ist ein rechter Spiegel seiner Weisheit. Und befassen wir uns mit den größeren und kunstreicheren Werken, so erkennen wir daran noch viel besser, was für ein wunderbares Ding es um die Weisheit Gottes ist, wenn wir auch nur einen geringen Geschmack davon bekommen.
Hier aber ist von der Vollkommenheit die Rede; wollen wir wissen, warum Gott alles tut, welches Ziel er verfolgt und was für Gründe ihn bewegen, so müssen wir ganz und gar zu Schanden werden. Da werden wir denn an die Stumpfheit unserer Fassungskraft erinnert, damit wir in unseren Grenzen bleiben und uns nicht wie wilde Rosse benehmen – es ist ja nur unser Stolz und unsere Vermessenheit, die uns dazu treiben. Aber auch auf die Güte unseres Gottes werden wir hingewiesen, die sich uns und unserer Schwachheit anpasst, so dass wir von den unbegreiflichen Dingen doch wenigstens einen Geschmack bekommen, soviel es uns heilsam ist. Wir wollen freilich gern, dass Gott uns Rechenschaft ablegte, warum er dies und das tut. Und wenn wir auch nichts dagegen sagen können, so wollten wir doch gern, dass Gott uns nichts verheimlichte und dass wir in seine tiefsten Geheimnisse eindringen könnten; denn das kitzelt unsere Neugier. Das Gefäß unseres Verstandes ist zu klein – Grund genug, um uns zu beherrschen, nicht unserer Neugier nachzuhängen und mehr wissen zu wollen, als Gott zulässt. Lasst uns nur das eine festhalten: Es ist lauter Gnade, wenn Gott sich uns anpasst und uns seine Werke offenbart, soweit es uns nützlich und heilsam ist zu wissen, warum er dies oder das tut. Das tut Gott nicht, weil er es tun müsste – welche Verpflichtung sollte er denn haben, und wie sollten wir ihn wohl dazu zwingen können? Nein, es ist ein Zeichen, wie sehr er uns liebt, wenn er uns so freundlich nahe kommt. Wir hören ja, wie unser Herr Jesus Christus zu seinen Jüngern spricht: „Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich habe von meinem Vater gehört, habe ich euch kundgetan“ (Joh 15, 15). Es gebührt uns nicht, allzu weise zu sein, sondern uns mit dem bescheidenen Maß des Wissens, das er uns gibt, zufrieden zu geben.
Wollen wir jedoch diesen Fehler vermeiden, so geraten wir allzu leicht ins Gegenteil und denken: Dann müssen wir also die Augen schließen und nach nichts mehr fragen. Nein, Gott hat uns zu seinem Ebenbild erschaffen, damit wir das Licht, das er uns zeigt, auch anschauen und ja nicht verlöschen lassen. Wenn er als unser Lehrmeister zu uns redet, so kann er uns Weisheit und Verstand geben, um seine Wahrheit zu fassen, und wir können keinem Irrtum verfallen. Hält er aber seinen Mund geschlossen, so muss auch unser Sinn verschlossen sein. Es gibt ein gebräuchliches Sprichwort: Gottes Geheimnisse darf man nicht ergründen wollen! Das ist ganz richtig: man darf sie nicht erforschen, oder besser: man darf es nur, soweit er sie uns mitteilt, und dann sind es keine Geheimnisse mehr. Paulus nennt das Evangelium „das Geheimnis, das von der Welt her in Gott verborgen gewesen ist, der alle Dinge geschaffen hat durch Jesus Christus, auf dass jetzt kund würde den Fürstentümern und Herrschaften in dem Himmel an der Gemeinde die mannigfaltige Weisheit Gottes“ (Eph 3, 9.10). Nichtsdestoweniger ist es uns leicht zu fassen; denn Gott legt uns darin seinen Willen auseinander, ja, er kaut uns sozusagen das Fleisch vor, so dass wir es nur noch zu uns zu nehmen brauchen; er lässt sich zu unserm mangelhaften Verständnis herab und erklärt es uns in seiner Freundlichkeit täglich mehr. An sich also ist das Evangelium eine so hohe Weisheit, dass wir sie von uns aus nie erfassen können, wie ja auch die Engel sie nicht begreifen; und doch soll seine Wahrheit uns bekannt sein, ja selbst den Unverständigen und Ungelehrten, nämlich soweit sich Gott uns darin angepasst hat.
Es gibt aber noch andere Geheimnisse, die uns verborgen sind und zu denen uns Gott noch nicht gelangen lässt. Am Jüngsten Tage soll uns alles bekannt werden, für jetzt aber gilt das Wort des Paulus: „Unser Wissen ist Stückwerk“ (1. Kor 13, 9). Für jetzt gibt uns Gott nur einen Geschmack dessen, was uns vollkommen wird offenbart werden, wenn wir völlig in sein Bild und seine Herrlichkeit verwandelt sind. Es gibt also Geheimnisse Gottes, die er uns während unseres sterblichen Lebens verborgen halten will: so können wir zum Beispiel nicht wissen, was Gott über diesen und jenen bestimmt hat. Von den Gläubigen allerdings haben wir ein ausreichendes Zeugnis, dass Gott sie erwählt und zu Kindern und Erben der Seligkeit angenommen hat, aber gleichwohl können sie nicht in die himmlischen Register hineinschauen, um zu wissen, ob ihr Name darin geschrieben ist; es muss ihnen genügen, dass Gott ihnen eine gute schriftliche Beglaubigung ihrer Erwählung gegeben hat, die müssen sie in unserm Herrn Jesus anschauen; sie sind ja seine Glieder, deshalb kommt ihnen kein Zweifel daran, dass Gott sie als seine Kinder anerkennt. Aber wir wissen nicht, wer zu der Gemeinschaft der Erwählten gehört, ebenso wenig kennen wir die, die noch verworfen sind; wir wissen nicht, warum Gott dies oder das tut, und wenn wir seine Vorsehung und die Vorgänge in der ganzen Welt zum Gegenstand unserer Überlegungen machen, so werden wir zu Schanden; denn der heimliche Rat Gottes ist für uns zu hoch. Es gibt also verborgene Geheimnisse Gottes, und wir müssen uns bescheiden.
Wenn die Menschen so weise wie Gott sein wollen, so geraten sie ganz von Sinnen. Wir sehen ja, was unserm Vater Adam widerfahren ist, und zwar in der Zeit, da er noch im Stande seiner Unschuld war: er war zum Bilde Gottes geschaffen, er hatte einen viel vortrefflicheren und edleren Stand, als ihn heute die Menschen haben; denn in uns ist Gottes Bild so verdunkelt, dass gar kein Licht mehr da ist, nur noch Finsternis. Das war dem Adam nicht genug: er hat eine höhere Vollkommenheit haben wollen, und wohin ist er gefallen? In einen so stinkenden Schlamm, dass wir uns noch heute unseres Loses schämen müssen. Unterliegen wir nun derselben Versuchung zum Hoheitsstreben wie Adam und macht uns die Armut, in die wir gefallen sind, noch nicht demütig, - sind wir dann nicht doppelter Strafe wert? Darum lasst uns nicht begehren, mehr wissen zu wollen, als was Gott uns offenbart.
Dabei aber sollen wir ohne Aufhören die Geheimnisse erforschen, die in der Heiligen Schrift enthalten sind, und nicht meinen, man müsse sich mit dem „eingewickelten“ Glauben zufrieden geben, der einfach glaubt, was die Kirche glaubt. Das sieht wohl auf den ersten Blick wie Bescheidenheit aus, ist aber eine Lästerung Gottes. Denn nicht ohne Grund hat Gott befohlen, das Evangelium zu predigen aller Kreatur, auch den Ungelehrtesten, weil er sich darin so freundlich und holdselig offenbart, dass jeder es genau verstehen kann. Es wäre deshalb undankbar gegen den getreuen Gott, wollten wir ihn anklagen, er habe zu uns geredet wie aus einer leeren Flasche heraus. Denn er bezeugt öffentlich durch seinen Propheten Jesaja: „Ich habe nicht im Verborgenen geredet, im finsteren Ort der Erde“ (Jes 45, 19). Hell und klar ertönt seine Stimme; darum sollen wir sie alle hören und annehmen.
So lasst uns denn fleißig und tapfer das Wort Gottes studieren und unsere Arbeit daran wenden, es zu begreifen, dann wird unsere Mühe nicht vergeblich sein, wenn wir nur immer die nötige Bescheidenheit bewahren. Wenn Paulus den frevelhaften und törichten Vorwitz der Menschen straft, so zeigt er ihnen an, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten sollen: „Dass ihr begreifen möget mit allen Heiligen, welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe, auch erkennen die Liebe Christi, die doch alle Erkenntnis übertrifft“ (Eph 3, 18.19). Unser Leben lang müssen wir mit Fleiß erforschen die Gnade, die uns offenbart ist in unserm Herrn Jesus Christus, wie wir aus der Tyrannei des Satans erlöset und von der Sünden- und Todesknechtschaft frei geworden sind, und wie wir nicht mehr von Natur verdammte und verfluchte Sünder, sondern vor ihm gerecht, von ihm angenommen und ihm angenehm sind, wie wir von seinem Heiligen Geist regiert werden, um gegen die Lüste unseres Fleisches kämpfen zu können, wie wir unter seiner Hand und Hut stehen, und obwohl der Teufel uns alle Augenblicke zu stürzen sucht, ihn doch wegtreiben können, weil wir in der Hürde und Hut des guten Hirten Jesus Christus sind, der von allem, was sein Vater ihm gegeben hat, verheißen hat: „Niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen“ (Joh 10, 29). Zudem dürfen wir Gott schon heute nahen und ihn mit vollem Munde anrufen, weil er uns einen Mittler gegeben hat, der uns Zugang zu ihm gibt, der für uns spricht; und wenn wir in seinem Namen Gott bitten, so werden wir ohne allen Zweifel erhört. Haben wir diese Gnade erkannt, so haben wir vollkommene Weisheit.
Es gebührt sich jedoch nicht, so hoch steigen zu wollen, dass wir die Weisheit Gottes an sich erkennen möchten. Denn sie ist ein tiefer Abgrund – wer könnte wohl da hinabsteigen? Da müssten uns alle unsere Kräfte verlassen! Darum sagt auch Mose, nachdem er das Gesetz bekannt gegeben: „Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen noch zu ferne noch im Himmel, dass du möchtest sagen: Wer will uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir´s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du möchtest sagen: Wer will uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir´s hören und tun? Denn es ist das Wort gar nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust“ (Deut 30, 11-14). Nicht ohne Grund wendet das Paulus auf die Verkündigung des Evangeliums an; denn das Gesetz ist an sich zu dunkel, es hätte den Menschen nicht Genüge tun und ihnen nicht geben können, was sie bedurften, hätte Gott sie nicht zu Jesus Christus geführt. Jetzt aber haben wir, was die alten Väter nur teilweise hatten; denn Gott gibt uns sein Wort in den Mund und ins Herz, und zwar nicht so, dass wir nur einen geringen Geschmack davon bekommen, sondern dass wir uns daran ersättigen können – wenn wir nur nicht in unserer Gier unersättlich wären, denn die Begierden der Menschen sind ja in allen Dingen ein unersättlicher Abgrund! Wenn wir etwas erforschen wollen, dann öffnet sich in uns der allertiefste Schlund, so dass wir am liebsten die ganze Majestät Gottes verschlingen und seine ganze Herrlichkeit in ein Bündlein zusammenpacken möchten und nichts mehr für ihn übrig bliebe. Lasst uns darum Fleiß anwenden, je länger je mehr weiterzukommen in der Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus, damit er uns, hat er uns erst einmal in seinen Leib eingefügt, von Tag zu Tage seine Gnade vermehre, bis wir ganz damit erfüllt sind.
Nun fährt er fort: Wenn Gott einher fährt, um einzuschließen oder auszuschließen, wer will ihn hindern? Was hat es für eine Bewandtnis mit der Erkenntnis seiner Weisheit? Es ist uns nicht erlaubt, gegen das, was Gott tun will, zu murren, als könnten wir ihn aufhalten. Alles, was Gott tun wird, sollen wir für gut halten, obschon wir nicht wissen, warum er es tut, und er uns seine Gründe verbirgt. Nicht als gönnte er es uns nicht, die Ursachen seines Handelns zu verstehen, nein, er will unsern Gehorsam erproben und uns zeigen, wer wir sind. Wenn uns Gott hier auf Erden für alle seine Werke eine völlige Erklärung gäbe, unser Stolz würde ins Maßlose steigen. Was würden wir dann von uns selber denken? Und was würden wir Gott noch für Ehre geben, wenn wir alles verstünden, was er tut? Wir müssten uns ja vorkommen, als wären wir seine Genossen! Deshalb ist es gut, dass Gott unsern Gehorsam auf die Probe stellt, damit wir ihn verherrlichen lernen in allem, was er tut.
Das Einschließen und Ausschließen Gottes ist so gemeint: Wenn Gott alles, was wir sehen, ändern wollte, so dürften wir doch nichts dawider sagen oder uns vermessen, mit ihm zu rechten oder etwas gegen ihn vorzubringen. Gewiss, schon wenn wir auf die Naturordnung blicken, die Gott eingesetzt hat, müssen wir ihn laut preisen; er hat uns die Welt zu einer Schaubühne gemacht, wo wir seine Werke betrachten können, um zu bekennen, dass er sich weise, gerecht und mächtig erzeigt, und zwar auf ganz wunderbare Art. Ja, wir müssen ihm nicht allein mit aller Ehrfurcht Achtung erweisen, sondern wir müssen geradezu in Verzückung geraten und mit David bekennen und ausrufen: „Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter“ (Ps 104, 24). Aber wenn Gott auch diese ganze Ordnung, in der er von uns angeschaut sein will, von Grund auf änderte, so müssten wir uns ihm nichtsdestoweniger unterwerfen und bekennen: Alles, was du tust, das ist recht! Aber die Menschen halten sich für fähig genug, um alles zu begreifen, und die Hauptsache fehlt ihnen: die Selbsterkenntnis.
Lasst uns den Fall setzen, Gott verwandle das Licht in Finsternis, und die Sonne versänke im Abgrund, die Erde erhöbe sich zum Himmel und es ginge alles verkehrt und durcheinander – dennoch müssten wir Gott preisen und sprechen: „Herr, wir wissen nicht mehr, was wir sagen sollen, und wir verstehen die Dinge nicht mehr, aber lass es dir gefallen, uns im Zaum zu halten, bis du uns zeigst, dass es so gut ist.“ Nun aber herrscht eine so schöne Ordnung in der Welt, dass wir wohl oder übel gestehen müssen: Das ist ein solches Kunstwerk, dass keine Kreatur es erreichen kann. Müssten da nicht unsere Herzen mehr als boshaft sein, wenn wir Gott nicht in aller Demut preisen wollten? Gewiss, wir sehen in der Natur auch allerlei Unordnung, aber woher kommt es, dass Gott die Dinge nicht so anordnet, wie es wünschenswert wäre, sondern dass er scheinbar alles zerstört? Das kommt von unsern Sünden her; wir sind schuld, dass die ursprüngliche Ordnung Gottes nicht mehr besteht: wir machen zuviel Verwirrung! Aber daran müssen wir festhalten: Gott ist ein gerechter Richter. Auch bei aller Unordnung in der Natur gibt er uns immer etwas von seiner Güte und väterlichen Liebe zu schmecken, die größer ist als unsre Sünde.
Nun fügt er hinzu: Weil Gott die eitlen Menschen kennt, weil er siehet, die nichts wert sind, sollte er da nicht verstehen, dass der Mensch, der sonst so wild ist, mit einem Herzen begabt und wie ein wilder Esel geboren ist! Gott kennet die eitlen Menschen! All unser Rühmen gilt nichts; wir müssen uns einschätzen nach dem Urteil, das Gott über uns abgegeben hat. Denn Gott allein ist als Richter zuständig, um uns zu fragen, was wir sind, und er allein hat die Autorität, darüber ein Urteil abzugeben. Denn wenn die Menschen sich nach eigenem Urteil einschätzen, was kommt dabei heraus? Das ist, wie wenn ein Narr sich als König ausgibt; ein jeder spottet über ihn. Wir aber sind doppelte Narren, wenn wir meinen, wir seien etwas, und dabei zeigt uns Gott, dass nichts als Eitelkeit in uns steckt. Wenn die Menschen gern wissen wollen, wie es um sie steht und was sie wert sind, so müssen sie Gott darum fragen: Herr, du kennest uns, du hast uns gestaltet. Dann bekommen wir eine kurze und eindeutige Antwort; wir sehen, was die Schrift sagt: „Dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott“ (1. Kor 3, 19). Niemand als Gott allein kann in Wahrheit sagen, wie es um uns steht; darum heißt es auch hier: Gott „kennt“. Scheinbar ist das eine Selbstverständlichkeit, aber der eigentliche Sinn ist der: Den Menschen sind die Augen geblendet, sie erkennen nicht, dass sie voller Eitelkeit sind, und darum muss Gott ihnen zu verstehen geben, was sie sind, damit sie Demut lernen.
Dass der Mensch geboren wird wie ein wilder Esel. All unsere Vernunft ist eine Gabe Gottes, die über unsere Natur hinausgeht. Wenn ein Kind aus Mutterleib hervorgeht, was bringt es dann für Weisheit mit? Wohl haben einige Philosophen gemeint: was wir an Einsicht besitzen, sei nur die Erinnerung, und der Mensch müsse wohl ein gewisses Verständnis mitgebracht haben, - aber dabei sieht man doch, dass ein Kind weniger ist als das armseligste Tier. Man findet kein Tier, das so ohne Verstand und Einsicht wäre wie der Mensch, wenn er zur Welt kommt. Wie kommen wir denn zu Einsicht und Verstand, wenn wir älter werden? Nur so, dass Gott uns das schenkt. Darum heißt es auch an unserer Stelle: Dass der Mensch mit einem Herzen begabt ist. Das Wort „Herz“ bedeutet in der Schrift soviel wie Verstand. Vernunft und Verstand sind uns also nicht angeboren, wir haben sie von Gott. Was wäre es dann für ein Undank, wollten wir sie gegen ihn missbrauchen! Klugheit und Einsicht gibt uns Gott, damit wir ihn und uns selbst erkennen und ihn preisen. Gott schenke uns die Gnade, dass wir unsern Verstand dazu gebrauchen, allezeit nach seinem Willen zu wandeln und uns unter seinem Zügel zu halten, bis wir aus diesem Gefängnis der Sünde erlöst und eingeführt sind in seine himmlische Herrlichkeit, um ihn dort zu schauen, wie er ist in seiner ganzen Vollkommenheit!