Baumgarten, Michael - Am Sonntage Oculi.
Wie der Blick auf Jesum uns mitten in der Unseligkeit des Lebens zur Seligkeit gereicht.
Vorwort.
Schon vor 13 Jahren habe ich in einer kleinen Schrift: „Liturgie und Predigt,“ Kiel 1843, den Gedanken ausgesprochen, daß eine umfassende und nachhaltige Besserung unseres kirchlichen Zustandes einzig und allein von der gründlichen Reform unserer Predigtweise zu erwarten stehe. Dieser Gedanke hat mich nicht bloß seitdem immerdar begleitet, sondern er hat auch durch fortgesetzte Beobachtung der kirchlichen Gegenwart, sowie durch anhaltende Erforschung der heiligen Schrift immer mehr an Festigkeit und Klarheit in meiner Seele gewonnen. Ich habe mich deshalb auch gedrungen gefühlt, meine Ansicht über diesen Gegenstand neuerlichst wiederholt auszusprechen und zu begründen, namentlich in dem zweiten Theile meiner Bearbeitung der Nachtgesichte Sacharins, um die Aufmerksamkeit der Theoretiker wie der Praktiker auf diesen wichtigen Punkt unseres heiligen Berufes hinzulenken. Obwohl ich nun weit entfernt bin von der Thorheit zu wähnen, ich selber wäre dieser Predigt der Zukunft mächtig, so habe ich doch der dringenden mehrfältigen Aufforderung Solcher, welche meinen Gedanken über die Reformation der Predigt Theilnahme geschenkt haben, selber Hand ans Werk zu legen und durch die That zu zeigen, was ich im Sinne habe, auf die Länge nicht widerstehen mögen. Hier nun biete ich meinen theologischen Mitarbeitern und den Gliedern der christlichen Gemeinde einen solchen selbstgemachten Versuch dar, ob sie etwa darin eine Geistesfrucht erkennen möchten, welche zur Erbauung des Hauses Gottes in dieser unserer Zeit dienen könnte. Daß dieser mein Versuch Etwas von dem, was ich für die Predigt ersehne und erstrebe, verwirkliche und darstelle, darüber ist mir wenigstens die Beruhigung geworden, daß meine Weise vielseitige Beachtung und herzliche Zustimmung gefunden und den lebhaften Wunsch nach weiterer Veröffentlichung dieser Predigt hervorgerufen hat.
Rostock, den 27. Febr. 1856.
Baumgarten.
Ein herzliches Verlangen ist es gewesen, was mich getrieben hat, diese Stätte zu betreten: vor dir, liebe Gemeinde, in deren Mitte ich nunmehr fünf Jahre aus- und eingegangen bin, möchte ich einmal mit lauter Stimme aussprechen, was meine Seele im tiefsten und stillsten Grunde erfüllt und bewegt, Darum habe ich es mir erbeten und es ist mir gewährt worden, an diesem geweihten Orte, in dieser heiligen Stunde das öffentliche Wort auf meine Lippen nehmen zu dürfen. Meinet nun aber nicht, Geliebte, daß ich gekommen bin, Euch irgend etwas Neues oder Fremdes zu bringen; nichts Anderes weiß ich zu verkündigen als das Wort von dem, welcher heißet: „Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit“ (Hebr. 13, 8). Diesen möchte ich Euch predigen nicht als einen Fernen, sondern als einen Nahen, nicht als einen Vergangenen, sondern als einen Gegenwärtigen, nicht als einen Todten, sondern als einen Ewiglebenden; diesen meinen Heiland möchte ich Euch zeigen, wie er in mir Gestalt gewonnen hat, wie er in mir lebet und waltet, ob nicht durch solche Darstellung des lebendig gegenwärtigen Christus in denen unter Euch, die ihn lieben und mit mir anbeten, der Glaube und die Liebe gemehret werden, in denen aber unter Euch, die ihn immer noch nicht recht erkannt haben, das kräftige Verlangen nach seiner seligen Gemeinschaft erwachen möchte.
Leiten soll uns nun dabei die evangelische Erzählung, welche von Alters her den christlichen Gemeinden an diesem Tage zur Betrachtung und Erbauung vorgehalten worden ist; wir finden dieselbe Lukas 11, 14-28.
Nicht ein einziges Mal wird in dieser Erzählung der Name dessen genannt, von. dem sie handelt. Es ist aber unter uns Niemand so unwissend, daß ihm der Name dieser Erzählung nicht bekannt wäre und außer dem Namen nicht auch noch sonst dieses und jenes. Auf dieses Wissen von Jesu, welches wir hinzubringen, kommt es aber bei Betrachtung unserer Geschichte durchaus nicht wesentlich an. Denn es gereicht uns, wenn wir die Geschichte unseres Herrn erwägen, unser Wissen von Jesu gar nicht selten mehr zur Hinderung als zur Förderung: wir kommen gar leicht dazu und oft je reicher und mannigfaltiger unser Wissen von Jesu ist, daß wir durch unsere Gedanken, die wir mitbringen, uns abhalten lassen, uns mit der ganzen Tiefe unseres Gemüthes jedesmal in das zu versenken, was uns von den heiligen Evangelisten aus dem Leben Jesu dargestellt wird. Und darauf kommt doch Alles an, wenn wir den seligen Gewinn, welcher von dem Geiste in diese heiligen Urkunden hineingelegt ist, wirklich erheben wollen. Die Evangelienbücher sind wie ein reiner ungetrübter Spiegel, in welchem uns das Bild Jesu gerade so erscheint, wie es dereinst gewesen ist und wie es ewig bleiben wird: und zwar zeigt uns jede Erzählung eine andere Gestalt des Heilandes, immer aber und in jeder Erzählung ist er selber ganz und ungetheilt. Wo nun aber unser Herr erscheint, sei es redend oder handelnd, in dieser oder jener Gestalt, da muß unsere Seele alles Andere, habe es Namen, welchen es wolle, aufgeben und fahren lassen; auflösen muß sie sich in gänzliches Stillesein, in ungetheiltes Aufmerken, in lautere Andacht. Keine Höhe darf sich in ihr erheben, sei es des Denkens oder des Wollens, sondern versinken muß sie in den tiefen schweigenden Grund der Demuth und Anbetung. Daß wir so allein auch der verlesenen Erzählung gegenüber die rechte Stellung gewinnen, dafür haben wir in dieser Geschichte selber auch eine deutliche Anweisung. Nämlich als Vorbild für uns ist von dem Evangelisten das Weib hingestellt, welches mitten aus dem Volke ihre Stimme erhob und selig pries die Mutter dessen, der vor ihr stand. Als der Herr jenes Wunder verrichtete und jene Rede hielt, von denen unsere Schrift Bericht erstattet, hatte sich ein großer Haufe Volks um ihn versammelt. Alles Thun und Streben unseres Herrn ist nun immer von der Art, daß es die Gemüther derer, die es sahen und hörten, ergreifen mußte; solche Macht besaß er über die Gewissen der Menschen, daß keine Seele auf der Stelle zu bleiben vermochte, wo sie stand; irgend eine Bewegung wurde in Allen erregt. Der allgemeine Eindruck, den das Auftreten Jesu hier verursachte, ist das bewundernde Erstaunen. Dieses Erstaunen erhält nun aber bei den Meisten keine klare und feste Gestalt; so gewaltig der Eindruck in dem Augenblick die Seele ergreift, so wird er doch allmählig und bald durch andere Eindrücke wieder verwischt und ausgetilgt. Das traurige Bild des menschlichen Leichtsinnes, welches wir Alle leider genugsam kennen! Aber doch, glaube ich, ist Niemand unter uns dieser leichtfertigen Unbeständigkeit so sehr ergeben, daß er nicht wenigstens dann, wenn er dem Heiligen und Göttlichen gegenüber gestellt ist, ernstlich wünschen sollte, den erhebenden und beseligenden Eindruck, den er empfängt, in seiner Seele festhalten und in sein Leben mit hinübernehmen zu können. Aber noch weniger möchten wir doch jenen Anderen gleichen, welche den heilsamen Eindruck der Verwunderung über Jesu Thun durch arge Gedanken zu zerstören suchten, indem sie sprechen: „Dieser treibt die Teufel aus durch Beelzebub.“ Ein entsetzliches Bild menschlicher Verderbtheit, von welchem sich unsere Seele mit Abscheu hinwegwendet! Das grade Gegentheil von diesen Wenigen ist die Eine, welche unser Evangelist aus der ganzen Menge hervorhebt und besonders hinstellt. Auch in ihr regt der allgemeine Eindruck des Staunens bestimmte Gedanken auf, es sind aber nicht Gedanken der Finsterniß, sondern Gedanken des Lichtes; auch in ihr brechen diese Gedanken in Worten hervor, es ist aber nicht das dumpfe Gemurmel der Lästerung, sondern das laute Bekenntniß der Seligpreisung. Dieses weibliche Gemüth wird uns als das Bild vorgehalten, in welchem unsere Andacht, wenn sie rechter Art ist, sich wieder erkennen muß, und darum müssen wir dasselbe zuvörderst näher betrachten. Es ist ein Weib aus dem Volke, also keine der Frauen, welche Jesu nachfolgeten und ihm dieneten. Es ist daher sehr die Frage, ob sie vorher überhaupt etwas von Jesu wußte, ob sie auch nur einmal seinen Namen kannte. Da Jesus ihre Stimme vernimmt und ihr antwortet, so ist zu vermuthen, daß sie ihm nahe ist: sie hat ihren Stand so genommen, daß ihr kein Zug in dem Thun und in der Gestalt des Herrn, kein Wort seiner Lippen entgehen kann; ihre ganze Seele ist in Anschauen und Aufmerken verloren und so hat sich in ihrem tiefsten Seelengrunde das Wort gebildet, was sie ausspricht, das was sie sinnt und fühlt, ist ihr so mächtig und gewaltig, daß sie es nicht in sich verschließen kann, sie muß es aussprechen mit lauter Stimme. Um so mehr wir nun sogleich erkennen, daß es so mit uns stehen sollte, so oft wir etwas von unserm Herrn und Heilande vernehmen, um so ernstlicher laßt uns nachforschen, was es denn eigentlich gewesen, das diese Seele so innerlich und mächtig bewegt hat. Jesus heilet einen Besessenen, einen jener unseligen Menschen, welche den menschlichen Jammer in seiner entsetzlichsten Gestalt darstellten. Als nun über dieses Wunder in den Herzen Einiger Gedanken der Argheit und des Unglaubens offenbar wurden, nahm Jesus die Gelegenheit wahr, um über das Wesen des Bösen zu reden. Das Hervortreten der bösen Gedanken bahnt ihm den Uebergang von dem Aeußerlichen zum Innerlichen. Der Zustand jenes unglückseligen Menschen ist Macht und Wirkung des Bösen in der äußerlichen Welt. Jesus will nun zeigen, daß das Böse ursprünglich und wesentlich ein Inneres, Verborgenes und Geistiges ist; und weiter zeigt er, daß das Böse nicht eine zusammenhangslose Reihe von Einzelheiten ist, sondern seinen Bestand habe in einem wohlgeordneten Reiche böser Geister, in welchem Alles und Jedes unter einander und mit dem Ganzen zusammenhängt. Der Herr deckt hier einen unheimlichen finstern Abgrund auf; die Hülle, welche diesen Abgrund dem gewöhnlichen Blicke der Menschen verschließt, zieht er mit fester Hand hinweg. Aber er zeigt noch mehr: nicht dort unten in der Tiefe hat dieses Reich des Bösen sein Wesen und Wirken, nein, in diesem Licht der Sonne, in dieser unserer Menschenwelt und zwar in dem eigentlichen Mittelpunkt derselben, in dem menschlichen Herzen, hat es recht eigentlich seine Stätte. „Wenn der starke Gewappnete seinen Pallast bewahret, so bleibet das Seine in Frieden,“ so spricht er. Merkt Ihr wohl, was er sagen will? Der starke Gewappnete ist kein Anderer als der böse Geist, dem kein Fleisch Widerstand leisten kann, sondern es wird von ihm überwunden und gebunden. Und der Pallast, wo dieser Gewaltige seinen Thron aufschlägt, was Anderes ist er als der Mensch, der nicht mehr sein eigen ist, sondern mit Allem was er ist und hat, jenem Uebermächtigen verknechtet ist? Und dies ist nicht ein Mensch wie jener, dessen Sprachlosigkeit auf eine Störung und Friedlosigkeit des ganzen menschlichen Wesens hinwies; hier ist Alles in Frieden und Ruhe. Dieser Mensch höret und redet, wandelt und redet nach allgemeiner Menschenart, aber er ist innerlich in demselben Zustande, in welchem jener äußerlich war. In dem Mittelpunkt dieses Menschenlebens, an welchem äußerlich uns nichts Besonderes auffällt, hat Satanas seinen Thron aufgerichtet und führet sein Regiment dergestalt, daß kein Widerstreben zu merken ist. Neben jenem Besessenen, der stumm war, stehen ja die Schriftgelehrten und sprachgewandten Pharisäer, in welchen das Böse so mächtig war, daß es den Eindruck einer mit dem Stempel göttlicher Heiligkeit geprägten Werkes zu vertilgen vermochte. Nur Einer ist vorhanden, welcher stärker ist als dieser gewaltige Zwingherr, der den Menschen als seine Burg in Besitz genommen hat, dieser Stärkere ist der, welcher hier handelt und redet. Er schreitet durch die Welt als der Fürst der Geister, der bösen nicht minder wie der guten. So wie sein heiliger Fußtritt sich nahet, merken ihn die Geister des Abgrundes und es überfällt sie das vernichtende Gefühl ihrer Verdammniß; so wie er sie schilt und bedreuet, so eilen die Teufel fliehend von dannen. Und nicht bloß löset er hier die Zunge jenes Unseligen, welche der unsaubere Geist gebunden hielt, sondern mit derselben Macht seines Wortes straft und vernichtet er auch die lästernden Gedanken und Reden, welche der böse Geist in den Herzen der Ungläubigen erregt hatte. Denn wenn das Böse aus seiner finsteren Geburtsstätte ans Licht gezogen wird, so wird es von dem Lichte überwiesen und gestraft (vgl. Eph. 5, 11-13). Jesus ist es, der durch die Gewalt seines Geistes und Wortes jenen Uebermächtigen aus seiner Burg verjagt und den Menschen, der nicht mehr sein eigen war, sich selber wieder zurückgiebt, „indem er den Raub austheilet.“ Aber nun vernehmet, wie es demselbigen Menschen weiter ergeht. Anstatt sein Besitzthum, welches jetzt wiederum zu einem Garten Gottes geworden ist, zu behüten und zu bewahren, wird er sorglos und sicher, wie unsere Stammeltern im Paradiese. Der böse Geist, der ruhelos umhergeschweift ist, kehrt wieder und findet sein verlassenes Haus wohl zubereitet für einen neuen Einzug, und sieben Geister nimmt er zu sich, die ärger sind, denn er selbst, und sie kommen und wohnen allda und es wird mit diesem Menschen ärger, als es vorhin gewesen ist. Damit ist das heilige Werk des Herrn an diesem Menschen nicht blos vergeblich gemacht, sondern es ist sogar in Folge desselben etwas viel Schlimmeres entstanden, als der Zustand war, an dessen Heilung der Herr seine Hand gelegt hatte. Und doch schweigt Jesus an diesem Punkte still, mit dieser über alle Maßen traurigen Aussicht bricht er seine Rede ab. Er hat den Abgrund des bösen Reiches vor unsern Augen aufgedeckt, er hat einen hellen Lichtstrahl in seine Dunkelheit hineinfallen lassen; er zieht diesen Lichtstrahl wiederum zurück und finsterer und schreckender denn vorher steht des Abgrunds Tiefe vor unserem Blicke! Und doch bricht eben an dieser Stelle das seligpreisende Wort des Weibes aus der Fülle ihrer Seele hervor! Ihre Seele ist an der Hand des Herrn in die Tiefen des bösen Reiches hinabgestiegen, nicht ohne Schauder hat sie das Geheimniß der Bosheit vernommen und Zittern wird über ihre Seele gekommen sein, als der Herr damit endet, daß er in den entsetzlichen Ruin seines eigenen Werkes hineinschauen läßt. Und dennoch erblickt sie in dem Herrn offenbar den Sieger über das Reich des Argen: denn nur so kann in ihrer Seele die Macht der Seligkeit über alle Gestaltender Unseligkeit, die ihr vorgeführt sind, triumphiren. Sie hält unerschütterlich fest an dem, was sie gesehen hat, da Jesus den Teufel austrieb mit seinem Worte: in dem Lichte dieser That versteht sie alles Andere, sie erkennt es unzweifelhaft, daß nur der welcher die Schlüssel der Hölle hat (Offenb. 1, 18) mit solcher Sicherheit des Satanas Tiefen (Offenb. 2, 24) aufschließen kann, und obwohl der Herr nicht sagt, was mit dem letzten erschrecklichen Zustand des Menschen werden soll, so merkt sie es doch der Festigkeit seines Wortes und der Sieghaftigkeit seines Blickes an, daß er auch in dieser allerschwersten Noth noch Rath und Hülfe wissen wird. Diese Anschauung des Herrn erhebt ihre Seele über all das Schreckliche, was sie sieht und hört, und Jesum erblickend und anredend, preist sie, wie es ihrem weiblichem Gefühle am natürlichsten ist, selig die Mutter dieses göttlichen Helden und Siegers über alle Waffenrüstung des bösen Reiches, Und dieser Seligpreisung, die auf ihn gerichtet ist, antwortet der Herr mit einer anderen, die auf das Weib gerichtet ist, so wie auf Alle, welche wie sie mit dem Blicke des Glaubens und der Liebe aus seinem Munde Gottes Wort hören und bewahren. Das Weib hat Jesum unterschieden von allen Anderen, die von einer Mutter geboren sind; es schaut in ihm einen freien Mann und Sieger über das Reich der Argheit ohne Gleichen; alle Anderen müssen ihr erscheinen als Gefangene und Gebundene jenes Reiches, darum ist in ihm allein die Seligkeit, alle Anderen sind unter die Unseligkeit beschlossen. Und gerade so, wie es ihr erscheint, ist es auch und nicht anders: Jesus der Alleinselige, alle anderen Weibgebornen in dem Stande der Unseligkeit (Hiob 14, 1). Nun aber zeigt Jesus, daß er den Schatz seiner Seligkeit nicht für sich behalten, sondern ihn austheilen will an Alle, die für seine Aufnahme ein empfängliches Herz haben. Durch das Wort, welches aus seinem Munde tönt, erschließt er sein Inneres und läßt die Fülle seiner Seligkeit daherrauschen wie einen tiefen breiten Strom, der durch die Welt der Unseligkeit dahin fließt, und Alle, welche aus diesem Strome schöpfen, werden von ihm ganz eben so selig gepriesen, wie das Weib so eben ihn selig gepriesen hat. So wölbet sich aus diesen beiden Seligpreisungen über dem finstern Abgrund der Unseligkeit ein herrlicher Bogen himmlischen Lichtes und Glanzes und unter diesen Himmelsbogen uns stellend vernehmen wir, wie der Blick auf Jesum uns mitten in der Unseligkeit des Lebens zur Seligkeit gereicht. Wir nun sehen Jesum zwar nicht mit leiblichen Augen, wie jenes Weib, aber wohl mit den Augen des Geistes und was wir so von ihm schauen, ist weit herrlicher und größer, als was sich vor den Augen jener darstellte: wo ihr nichts Anderes übrig blieb, als eine heilige Ahndung, da haben wir gewisse Thatsachen und untrügliche Verheißungen. Jene Geschichte von der Heilung des blindstummen Mannes (vgl. Matth. 12, 22) gewinnt vor unseren Augen eine noch ganz andere Tiefe und Weite, als sie auch für den Blick des aufmerksamsten Zeugen haben konnte. Der blindstumme Mann ist nämlich das Volk Israel, sein unseliger Zustand ist das Bild, in welchem sich dieses Volkes Stand in den Tagen Jesu abspiegelt. Sonst wird der Mensch stumm, wenn ihm sein Ohr verschlossen ist und den Strom der lebendigen Rede, der ihn belebend umfließt, nicht mehr aufnehmen kann. In der That ist es so dem Volke Israel ergangen. Einst war sein Ohr aufgeschlossen und es hörte die Stimme seines Gottes vom Himmel, es hörete die Stimme der göttlichen Geisterboten, welche aus dem Reich des ewigen Lichtes zu ihm hernieder kamen, es hörete die Stimmen der Männer Gottes und Propheten, welche aus geheiligtem Herzen und mit geweiheten Lippen Worte unvergänglicher Wahrheit zu ihm redeten. Aber alle diese Stimmen waren jedesmal begleitet von himmlischen Erscheinungen und göttlichen Thatsachen und diese Erscheinungen und Thatsachen bildeten das erschaubare Angesicht, den sichtlichen Leib, aus dessen Munde jene Stimmen ertöneten. Hätte Israel nicht einen aufgeschlossenen Blick für diese göttliche Sichtbarkeit gehabt, nimmermehr hätte es jene heiligen Stimmen vernehmen können. Dieses Auge ist aber in den Tagen Jesu schon seit lange erblindet. Israel sitzet zwar über den heiligen Schriften seines Gottes, aber die Buchstaben sind wie starre Todtengebeine, sie wollen nicht aus ihrem Grabe auferstehen, sie zeigen nicht die heilige Macht und Gestalt des göttlichen Lebens, als dessen ewige Denksteine sie aufgerichtet worden sind: „wenn Israel lieset in den Büchern des alten Bundes, so hängt die Decke Moses vor seinem Angesicht“ (2 Kor. 3, 13. 14). Und weil Israel nicht mehr schauet die heiligen Lebensgestalten, so vernimmt es auch nicht mehr die Stimme seines Gottes: die heiligen Buchstaben gewinnen keinen Ton und Klang, der zu Herzen dringen könnte. Und weil Israel blind und taub geworden, so erfolgt als das Letzte das Verstummen, als dessen Erscheinung jener Elende uns vorgestellt wird. O wie lieblich und gewaltig klang dereinst die Stimme dieses Volkes am ersten Morgen seiner Freiheit und seiner Erlösung, als es seinem Gott am Schilfmeere das große Loblied sang (2 Mos. 15). Israel singt zwar noch Psalmen und spricht seine heiligen Gebete, es lehrt und lernt zwar noch seines Gottes unverbrüchliche Satzungen, aber der Ton kommt nicht mehr aus dem tiefsten Herzensgrunde und kann darum auch nicht mehr durch die Wolken dringen; es ist nicht mehr die göttliche Gewalt der Stimme, mit welcher David und die Propheten reden, die Gewalt, die nicht eher ruhen kann und will, als bis sie die Enden der Erde erreicht und alle Völker und Königreiche durchdringt. Israel ist blind, taub und stumm geworden und dies ist ihm angethan durch den Geist der Lüge und Argheit: dieser hat des Geistes Auge geblendet, das inwendige Ohr verschlossen und damit die Quelle der heiligen Rede verriegelt. Da tritt Jesus mitten unter seinem Volke auf: er stellet sich selber dar vor den Augen Israels und offenbart die Macht seines Geistes in sichtbaren Gottesthaten und spricht „kommet und sehet“ (Joh. 1, 39). Dann thut er seinen Mund auf und läßt seine Stimme erschallen in der Macht seiner göttlichen Liebe und Wahrheit vor den Ohren seines Volkes. Und stehe, durch solche Erscheinung und Predigt erwacht das Volk wie aus langer Betäubung: es schauet die Thaten Jesu und bezeugt: „Solches ist nie in Israel gesehen worden“ (Matth. 9, 33); es höret die Stimme Jesu und spricht: „so hat noch niemals ein Mensch geredet“ (Joh. 7,46). Und auch zu lallen und zu reden beginnt das Volk, angehaucht durch den heiligen Geist der Liebe Jesu. Israel singt nach langen Zeiten des Verstummens ein neues Lied, jubelnd ruft es dem Sohne Davids sein Hosianna entgegen. Jesus trieb den Teufel aus, der stumm war und „es redete der Stumme.“ Aber das Weitere ist nun auch grade so schrecklich und grauenhaft, wie es der Herr in unserer Erzählung beschreibt und seine Worte gewinnen erst ihr volles Verständniß, wenn wir sie in diesem Zusammenhang betrachten. Die heilige Bewegung, welche Jesus mit siegender Gewalt unter seinem Volke hervorrief, war eine schnell vorübergehende. Der ausgetriebene Geist kehrte wieder und fand sein verlassenes Haus zu seinem Empfange bereit und es ward mit diesem Volke ärger denn jemals zuvor. Die Lüge und Bosheit, mit welcher die Juden gegen Jesum den Gerechten und Heiligen Gottes, wie gegen seine Apostel und seine Gemeinde gewüthet haben, hat an satanischer Gewalt nicht ihres Gleichen weder vorher noch nachher, und das Herz, aus welchem diese Argheit ohne Gleichen geboren ist, ist bis auf den heutigen Tag in den Gliedern dieses Volkes im Wesentlichen dasselbe geblieben. Bei all ihren frommen und strengen Sitten, bei all ihren Gebeten und gottesdienstlichen Uebungen bleibt ihr Herz gegen alle Regungen des göttlichen Geistes hart wie Felsgestein, siebenfach ist ihr Auge verblendet, siebenfach ihr Ohr verschlossen und siebenfach ihre Zunge gebunden. So geht das Volk der Juden durch die Jahrhunderte der Welt hindurch, so schweift es über die Länder und Inseln der Erde dahin: so nahe es einst dem Herzen Gottes war, so verriegelt und verschlossen ist es jetzt in dem Abgrund der Unseligkeit. Und eben diese große und entsetzliche Weltsünde des jüdischen Volkes, deren Fluten und Stürme sich durch die Jahrhunderte ergießen, eben dies ist der furchtbare Abgrund, in dessen Tiefe der Herr in unserer Geschichte schweigend hinabschaut. Wenn er hier von dem Menschen spricht, mit dem es ärger wird, denn vorhin, so ist sein göttliches Auge gerichtet auf diesen jähen Abweg, den sein Volk betreten wird, aber könnt ihr dies anders denken, Geliebte, als so, daß sein Herz und sein Blick dabei von dem allerinnersten Mitleid ergriffen und erfüllt ist? Und sollte sein Verstummen etwas Anderes bedeuten, als daß er in tiefster Seele die ganze Noth und Last der Gottverlassenheit empfindet, unter welche sein Volk verkauft und verhaftet sein wird? Aber sein Mitleiden ist nicht ein unkräftiges und unwirksames Gefühl, wie wir es wohl an uns kennen, sondern es ist die Kraft der ewigen Liebe, welche Alles überwindet. Darum begnügt er sich nicht mit seiner Seele nur in dieses Labyrinth der Unseligkeit, in welches sein Volk sich verstrickt und immer weiter verstricken wird, hineinzugehen, sondern mit seinem ganzen Wesen, mit Leib und Seele begiebt er sich in voller Wirklichkeit unter den Fluch der Gottverlassenheit. Ihr wißt es, daß dies am Kreuz geschehen ist; da hat er den Kelch des göttlichen Zornes geleeret bis auf den letzten Tropfen, er ist in das Meer der Unseligkeit und Gottverlassenheit versunken und eben das ist sein Tod. Aber obwohl ihn sein Gott verließ und ihn dahingab an die unheimliche Macht der Finsterniß (Luk. 22, 53), so hat doch Jesus keine Secunde von seinem Gott losgelassen; in demselben Augenblicke, wo alle Fluten der Unseligkeit über seinem Haupte zusammenschlugen, ruft und betet er: „mein Gott, mein Gott!“ Damit aber, daß er auch in diesem Augenblick nicht von seinem Gott läßt und weicht, zeigt er, daß auch in den drei Stunden seiner tiefsten Unseligkeit (Match. 27, 45. 46) die Seligkeit in ihm ist; denn wo Gott angerufen wird, da ist Gottes ewiger Geist, da ist Leben und Seligkeit. Die Seligkeit ist und bleibt also die Grundkraft seines Lebens; in dieser Kraft überwindet er auch am Kreuze, als er den Tod ohne Gott schmecken mußte und wollte: damit aber hat er für Zeit und Ewigkeit die Macht gewonnen, welche alle Gewalten und Gestalten des Todes und des Teufels überschwänglich überwindet; damit hat er die Liebe bewiesen, von welcher geschrieben ist, daß sie eine Flamme Gottes sei, welche durch alle Wasserfluten nicht könne ausgelöscht werden(Hohel. 8,6,7). Dieses nun will er eben an seinem eigenen Volke am leuchtendsten und wunderbarsten bewähren. Zuerst soll die ganze Welt erfahren, daß das Volk der Juden der unselige Mann ist, mit dem es ärger geworden, als es gewesen; dann aber sollen alle Völker erfahren, daß die Liebe Jesu diejenige Macht ist, welche eben da am Glorreichsten triumphiren wird, wo die Sünde am mächtigsten geworden ist (Röm. 5, 20). Als Jesus von seinem Volke Abschied nahm und ihm die grausenvolle Verwüstung verkündigte, welche über dasselbe kommen werde, hat er zugleich gesagt, daß sein Volk ihm noch einmal Hosianna singen werde (Matth. 23, 38. 39), und alle seine Propheten vor ihm und all seine Apostel nach ihm haben diese seine Verkündigung hundertfach bezeugt und mit den wundervollsten Bildern weiter ausgeführt. Eben da, wo auf Erden die festeste und stolzeste Burg des Satanas aufgerichtet steht, eben da will Jesus sich am vollkommensten als den Sieger und Allgewaltigen offenbaren; eben da, wo das Herz der ganzen Menschheit am härtesten und felsigsten geworden ist, denn da will die allmächtige Liebesstimme Jesu ihre Alles schmelzende und auflösende Wundermacht auf das herrlichste beweisen; eben da, wo die wilden Wasserwogen des Abgrundes die Menschenseele am schrecklichsten verunreinigt und befleckt haben, eben da soll die reinigende Kraft des Blutes Jesu am glorreichsten strahlen. Das jüdische Volk, welches in den Tagen Jesu jenem blindstummen Manne glich, welches sodann bis auf den heutigen Tag der Mann geworden ist, mit dem es ärger steht, denn vorhin, dieses Volk wird einst dem Weibe gleich sein, welches Jesum selig preist und von ihm wiederum selig gepriesen wird. Kommen wird der Tag und er wird nicht ausbleiben, an welchem Israel die Lieder Moses und Davids wiederum in seinen Mund nehmen wird aus der Macht des ewigen Geistes, der sie gebildet hat, und in vollen Chören wird es seine ewigen Psalmen singen dem Lamme, das erwürget ward und von dem Stuhle dessen, der sich gesetzet hat zur Rechten seines Vaters in des Himmels Höhen, wird ein Strom seligen Lichtes fließen in die Herzen des hart gefangenen Volkes und wird eine Macht der Seligkeit schaffen in den verzagtesten und gottverlassensten Seelen, welche den Abgrund der vielhundertjährigen Finsterniß und Unseligkeit hell durchdringen und wundersam erleuchten wird.
Vielleicht denkt ihr, Geliebte, daß ich euch von fernen entlegenen Dingen rede, die euch wenig oder gar Nichts angehen. Ich sage euch aber, nicht blos können wir nur dann die Herrlichkeit unserer Erzählung recht erkennen, wenn wir sie in dem Lichte dieser seligen Zukunft Israels betrachten, sondern es wird sich uns auch gleich ergeben, daß uns diese Verheißung über das grundverlorene und unselige Volk Gottes ganz nahe angeht, daß wir diese Verheißung für unser allernächstes Bedürfniß nothwendig gebrauchen und wir somit überall den Segen unserer Geschichte nur vollständig gewinnen, wenn wir dieselbe in diesem ihren großen und göttlichen Zusammenhange erfassen und uns zu eigen machen. Denn nunmehr haben wir unsere eigene Unseligkeit ins Auge zu fassen. Wir wollen uns nicht aufhalten bei den mannigfaltigen und unzähligen Aeußerlichkeiten und Erscheinungen, in denen einem Jeden unter uns die Unseligkeit zum Bewußtsein kommt; mit einer solchen Betrachtung über die Außengestalt unseres Lebens würden wir den heiligen Pfad unserer Schrift verlassen. Wir müssen den Muth haben, an der sicheren Hand unserer evangelischen Erzählung bis an die Quelle unserer Unseligkeit vorzudringen. Diese Quelle hat ihren Ort in der untersten Tiefe des Reiches, dessen Abgrund diese Geschichte uns enthüllt hat. Es kann nun wohl sein, daß Einige unter euch mir hier mit ihren Zweifeln und Streitfragen über das Vorhandensein eines bösen Reiches entgegentreten. Ihr Lieben, ich muß euch sagen, daß eure Zweifel und Streitfragen lange nicht so gewichtig sind, wie ihr dieselben ausgebet: ich verweise alle eure Bedenken an diejenigen Augenblicke eures Lebens, in denen eine innere Stimme ganz vernehmlich und unzweideutig von der Macht eines unheimlichen bösen Reiches zu euch redet; diese innere Stimme, wenn ihr anders euch genau prüfet, muß euch selber weit gewisser und mächtiger scheinen als alle eure klugen Gedanken. Wir sind Alle darüber einverstanden und sehen uns Alle unter einander darauf an, daß Niemand unter uns ohne Sünde ist, bedenken aber sehr selten, was das sagen will. Hättest .du auch nur eine Sünde, lieber Zuhörer, und wäre diese eine Sünde nach unserm Maaßstabe auch nur eine kleine, so bist du um dieser einen kleinen Sünde willen dem Reich des Bösen verhaftet. Diese eine Sünde zeichnet dich an deiner Stirn mit einem Brandmal als einen verkauften Knecht des ungöttlichen Reiches; diese eine Sünde schlägt um deinen Fuß eine Kette, welche in den Abgrund der Hölle reicht. Du kannst dir dieses Brandmal nicht tilgen, kannst mit all deiner Macht diese Kette nicht abschütteln, und ebenso wenig vermag dies ein Anderer zu thun, der neben dir stehet. Siehe, das ist der bittere Tropfen der Unseligkeit, der, weil er jener tiefen unheimlichen Quelle entstammt, sich in alle deine Gedanken und Empfindungen einmischt, der dir deine reinsten und schönsten Freuden vergällt und deine geringsten und kleinsten Leiden unerträglich macht. Aber der Zustand unserer Unseligkeit ist ein noch weit schlimmerer. Das meine ich nicht etwa nur so, daß es vielfache und große Sünden sind, die auf uns Allen lasten, sondern das meine ich vornämlich damit, daß unser sündiges Verderben nicht ein einfaches ist, sondern ein gesteigertes, daß der Zustand unserer Unseligkeit nicht ein leicht zu durchschauender ist, sondern ein unendlich verschlungener. Wir alle sind nämlich in der Lage jenes Mannes, von dem der Herr sagt: es ward mit ihm ärger, denn vorhin. Denn sehet, sowie Jesus jenen blindstummen Mann heilete, so ist er an uns Alle herangetreten: mit seinem Geist und Wort hat er uns angehaucht, als er vermittelst der Taufe seine Hand auf unser Haupt gelegt hat. Und auf der geheimnißvollen Grundlage dieses seines heiligen Werkes an uns ruhen alle die heilsamen Einwirkungen, die wir in Kindheit und Jugend von Eltern und Lehrern, von Zucht und Sitten des uns umgebenden Lebens erfahren haben. Nun frage ich Euch: wer von uns ist auf dieser ebenen guten Bahn, auf welche er in seiner ersten Lebenszeit gestellet worden ist, fest und rastlos fortgegangen? Ist es nicht mit uns Allen so bestellt, daß wir zwischen den guten und heiligen Eindrücken der Kindheit und unserer Gegenwart eine traurige finstere Kluft wahrnehmen? Der gute Geist des kindlichen Glaubens und der kindlichen Liebe, der Einfalt und Unschuld, die Freudigkeit und Unbefangenheit der kindlichen Seele, o wie weit liegt dies Alles hinter uns, und nur eine wehmüthige, ja peinlich schmerzliche Erinnerung an einzelne Züge dieser guten Zeit ist in unserer Seele zurückgeblieben; die heiligen Erregungen und seligen Empfindungen selber in ihrer ursprünglichen Reinheit, Kraft und Frische in uns aufzuwecken und lebendig gegenwärtig zu machen, das geht weit über unser Vermögen. Was ist nun dieses anders, als was der Heiland von jenem Menschen sagt? Wir sind dem guten Geist nicht gefolget, sondern haben ihn betrübet, und der böse Geist ist wieder gekehret und ist ärger geworden, als er uns von der Natur des Fleisches und Blutes her innewohnet. Und dies verschlimmert und verwickelt sich noch viel mehr, je weiter wir in diesem Stande unserer Unseligkeit fortgehen.
Es fehlt ja nicht, daß in jedem Menschenleben sich von Zeit zu Zeit kräftige Regungen den heiligen Geistes spüren lassen, werden sie nun durch äußerliche Erlebnisse oder durch innerliche Erfahrungen veranlaßt. In solchen Zeiten erwachen wir nun wie aus schweren Träumen, wir fühlen plötzlich die Ketten, die wir tragen, die Schmach der Knechtschaft, die uns brandmarkt, in tiefer Beschämung und schmerzlicher Reue wollen wir uns losmachen von dem, was uns bindet und entehrt, umkehren möchten wir dahin, wovon wir gefallen sind. Aber leider ist der gewöhnliche Fall der, daß wir in solchem Ernst und Ringen bald wieder ermatten und erschlaffen, um dann nur noch tiefer in den Abgrund der Unseligkeit zu versinken. Es kommt aber auch vor, daß ein Mensch in solchen Zeiten göttlicher Heimsuchung wirklich einen gründlichen Ernst macht, er beginnt in der That einen neuen Anlauf, der kindliche Glaube und das Gebet der Jugend regt wiederum seine himmlischen Schwingen, der Mensch reinigt sich von seinen Sünden und bessert seinen Wandel. Aber o des Jammers! auch ein Solcher läßt nicht selten in seinem Eifer ab, nachdem er die ersten Schritte auf dem heiligen Wege der Umkehr gethan hat. Die Gottesmacht des Glaubens wird dann ein todtes Wissen, die Flamme der Liebe eine kalte Gewohnheit äußerlicher Werke und die heilige Andacht der Gebete eine Formel der Lippen. O wie schauerlich hauset hier der böse Geist, wie entsetzlich hat er das Haus Gottes verwüstet und wohnet um so sicherer und fester darinnen, je mehr die äußere Gestalt seines Pallastes einem Heiligthum gleichet, „er bewahret das Seine in Frieden!“ Wenn nun der Geist Jesu, der alle Zustände der Unseligkeit in der Kraft seiner Liebe aufsucht, mit seinem durchdringenden befreienden Ruf an einen solchen durch und durch verwirrten Stand der Unseligkeit herantritt: ach wie windet sich dann, wie ringet eine solche Seele! Unter tausend Schmerzen und vielen Thränen ruft sie aus: o wäre ich doch wie ein unschuldiges Kind, hätte ich doch meine verlorene Jugend wieder, wenn sie auch nicht fleckenlos geblieben ist, reiner und kräftiger war doch meine Empfänglichkeit für das Göttliche, lebendiger und ursprünglicher mein Trieb für das Gute; oder wäre ich doch ein blinder Heide, der zum allerersten Mal den heiligen Namen Jesu hört, wie viel Kraft des göttlichen Wortes, wie viel heilige Ermahnung und Züchtigung, wie viel göttlicher Trost und Gnade ist an mir vergeblich gewesen! Woher weiß ich denn, klagt eine solche Seele weiter, daß es mir jetzt gelingen wird, meiner Knechtschaft zu entrinnen, alles Bisherige, so gut und ernstlich es auch gemeint war, hat sich als kraftlos und nichtig erwiesen. Du bist nur durch dies Alles, sagt sie zu sich selber, noch desto mehr verwirrt und verstrickt, nur desto untüchtiger und unkräftiger bist du geworden für das heilige Werk, das dir unabweislich aufgegeben ist. Ja alle guten Entschlüsse, alle heiligen Vorsätze, alle Anfänge und Versuche des Besseren, Alles was je Gutes und Heiliges durch die Seele gegangen, nun erhebt es sich wider sie und verklagt sie und es kann ihr wohl geschehen, daß alle diese Erinnerungen wie eine Schaar hohnlachender Geister wider sie aufstehen und jegliche heilige Bewegung verspotten und vernichten. Diese Seele erfährt dann in ihrem innersten Grunde, daß das schreckliche Bild, welches der Herr in unserm Evangelium von der Verhaftung des Menschen unter die böse Gewalt entwirft, buchstäbliche Wirklichkeit hat. Wo ist nun Rath und Trost für eine Seele, die in solchem Kerker schmachtet? Das ist wohl ganz klar, daß alle Wünsche, welche in die Vergangenheit zurücktrachten oder einen ganz anderen Stand des Lebens ersehnen, so heiß und heftig sie sein mögen, völlig eitel und thöricht sind. Der Mensch ist an den Fleck gebunden, wo er stehet, nicht einen Strich kann er rückwärts oder seitwärts. Also da, wo sein Fuß mit eiserner Nothwendigkeit festgebannt steht, muß ihm Hülfe werden, sonst ist für ihn keine Rettung zu finden. Zwar scheinest du dir nun, lieber Mensch, der du in solcher Noth schwebest, gänzlich einsam und verlassen zu stehen. Und in der That, eine größere Einsamkeit und Verlassenheit giebt es nicht, als wenn ein Mensch seine Sünde fühlt: nicht einmal aussprechen kann er vor seinen Vertrautesten seine tiefste Empfindung. Alles was er sagt und sagen kann, ist weit entfernt das auszudrücken, was das innerste Herz bewegt, wie sollte er denn wähnen dürfen, daß selbst der treueste Freund sich in seinen Stand versetzen, mit ihm und neben ihm auf dem tiefsten schauerlichsten Punkte, der seine Seele gefangen hält, stehen könnte? Aber doch hörst du Einen, der deinen Zustand grade so beschreibt, wie du ihn empfindest, denn er spricht, als ob er in den geheimsten Winkeln deiner Seele jeden Zug gelesen hätte, ihn mußt du als den wahrhaftigen Zeugen erkennen. Dieser Eine ist der, welcher in unserer Erzählung dir dein eigenes Bild gezeichnet hat. Aber wenn du nur fest und unverwandt deinen Blick auf Jesum richtest, so wirst du weit mehr in ihm erkennen als den wahrhaftigen Zeugen über deinen Zustand. Du wirst sehen, daß dasselbe Bild, welches er von deinem Zustande macht, sich auch in seinem eigenen Angesichte darstellt. Du wirst sehen, daß er deinen Zustand nicht bloß beschreibt, sondern ihn auch empfindet als seinen eigenen. Und wenn du ihn auf seinem Wege mit deinem Blick weiter begleitest, wenn du ihn anschauest, wie er auf dem Oelberge über Jerusalem weinet, wenn du stehest, wie er am Kreuze in seiner Gottverlassenheit für sein verlorenes und mit der Sünde seines unschuldigen Blutes beflecktes Volk betet: so kann es dir nicht entgehen, daß das, was Jesu ganzes Wesen durchdrungen hat, das Meer der Unseligkeit gewesen ist, von welchem deine Noth, liebe Seele, und sei sie auch noch so groß, nur ein Tropfen ist. Alles was dir dein Gewissen erzählt und vorhält von deiner grundlosen Zerrissenheit, von deiner undurchdringlichen Herzenshärtigkeit, das Alles ist ja immer nur ein Theil von dem, was du an dem Stande des jüdischen Volkes stehest. Jesus aber hat die ganze Verderbtheit, die volle Unseligkeit seines Volkes getragen, und durch die Allmacht seiner Liebe überwunden, und diesen Sieg, der schon jetzt dem Auge des Glaubens völlig gewiß ist, wird er dereinst vor den Augen der ganzen Welt offenbar und zu einem großen Wendepunkt der Geschichte aller Völker machen. Schaust du also Jesum recht an, so wirst du finden, daß da, wo du dich gebunden fühlest in der Noth deiner Sünde und Unseligkeit, und wohin die Liebe auch deines treuesten Freundes nicht reicht, daß eben da Jesus längst vor dir und ohne dich seinen Stand gehabt hat. Aber nicht verzagend und verzweifelnd, wie du, hat er diese Last getragen, sondern allein darum hat er ihr unterliegen wollen, um sie im Unterliegen durch seine Kraft zu überwinden auf ewig. Wenn du ihn so anschauest mit wunderbarer Siegesgewalt durch deine Tiefe schreiten, wie er mit Leib und Seele in der Hölle Abgrund versinkend aus der innersten Kraft seines Geistes des Himmels reinste Seligkeit hervorstrahlen läßt, da mag es wohl über dich kommen, daß du wie das Weib im Evangelium selig preisen mußt den großen Sieger über alle Gewalt des Argen. Aber so lange du ihn nur außer dir schauest, wird auch diese Seligpreisung dich nicht frei machen können. In keinem Dinge oder Wesen ist der Mensch so sehr selber wie in seiner Sünde: sie ist das Werk seiner innersten und eigensten Kraft, sie ist das Kind seiner Freiheit und seines Willens, sie trägt sein eigenes Bild, wie sonst Nichts. Und das Urbild dieses eigenen Bildes ist die Gestalt dessen, welcher der Lügner und Mörder von Anfang heißt (Joh. 8, 44). Also wo der Mensch sich selber wieder erkennen muß, wie in nichts Anderem, gerade da erkennt er auch seinen Zusammenhang mit dem Reich des Bösen. Was kann ihm nun in solcher eigenster innerster Noth der Sünde und Unseligkeit helfen Alles, was vor ihm und außer ihm ist, wenn es an sich auch noch so selig und göttlich ist? Aber bleibest du nur vor Jesu stehen und wendest deinen Blick nicht von ihm, so thut er auch vor dir den Mund auf, wie vor jenem Weibe und sagt auch dir, daß seine Seligkeit, mit der er alle Unseligkeit überwunden hat, für Alle und auch für dich bestimmt ist. Was er vor dir, außer dir, außer dir, ohne dich gelitten und gethan hat, soll nach der Versicherung seines Mundes für dich geschehen sein. Für dich ist es aber nur dann, wenn Alles, was außer dir und vor dir geschehen ist, eben da, wo deine Noth dich in innerster Seele verhaftet hält, seine Stätte findet. Und eben dies ist Jesu heiliger Wille und wunderbares Walten. In dem Worte seines Mundes von deiner Seligkeit ist er selber, ist sein Geist und Leben, und hörest du dieses sein Wort und bewahrest es, so hält er selber mit seiner Seligkeit seinen Einzug in dein Herz. An eben der Stelle, wo es dich im tiefsten Seelengrunde am heftigsten brennt und peinigt, will er den Namen seiner Seligkeit mit unauslöschlichen Zügen eingraben, den Namen, vor welchem alle Höllengeister fliehen. Dann schaust du Jesum nicht mehr bloß außer dir und vor dir, sondern in dir; wie Paulus, der ihn zuerst erblickte in des Himmels Höhe und von seinem Lichtstrahl in den Abgrund des Todes und der Unseligkeit geworfen wurde, später als das Geheimniß seines Lebens aussprach: „nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebet in mir“ (Galat. 2. 20). So wird das, was weiter auseinander liegt, als Abend und Morgen, als Sonnenhöhe und Mitternacht, Unseligkeit und Seligkeit durch den Blick auf Jesum, der nicht bloß vor uns und außer uns, sondern weil für uns, eben so sehr und gewiß in uns ist, in Eins verbunden und unzertrennlich verknüpft und eben dieses größte und geheimnißvollste Wunder, von welchem alle andern Wunder nur Abbilder sind, ist der rechte Christenstand, alles Andere, was sonst so heißet und scheinet, ist Selbstbetrug und Täuschung.
Ein solcher Mensch in Christo wird zwar noch manche Unseligkeit des Lebens zu schmecken haben; ja in gewisser Weise erfährt er nun erst die volle Macht und den ganzen Umfang des bösen Reiches, in welcher die Welt an allen Enden verstrickt ist. Denn an eben dem Punkte, wo du in das Ganze des widergöttlichen Reichs verstrickt warest, gründet Jesus eine unlösbare Gemeinschaft mit seinem ewigen und seligen Gottesreiche, und das Leben seiner Seligkeit, welches in ihm wohnet und wirket, wohnet und wirket nun auch in dir. So wie er aus der Fülle seiner Seligkeit immerdar in die Unseligkeit der Welt eingeht, um sie zu überwinden, so mußt nun auch du beginnen, in der Kraft der dir innewohnenden Seligkeit, so weit dir Gelegenheit bereitet ist, das Licht der Seligkeit in die Finsterniß der Welt hineinleuchten zu lassen. Dabei ergeht es dir dann freilich nicht anders wie deinem Heilande: mit immer neuen Gestalten, mit immer anderen Gewalten des finsteren Reiches mußt du kämpfen, wobei es dann auch nicht an der Erfahrung fehlen wird, daß du in solchem Kampfe mit der Welt außer dir immer neue Tiefen der Welt in dir entdecken wirst.
Und ohne Schmerz wird dieser Kampf mit der Welt außer dir und in dir nicht sein können, aber doch ist dir wesentlich anders zu Muthe, als da du noch ohne Hoffnung und Licht in der Grube deiner Unseligkeit gebunden lagst. Furcht und Angst ist von dir genommen, getrost und freudig gehst du mit offenem Auge in alle Tiefen des Bösen hinein, die sich vor deinem Blicke aufthun, seien sie nun in dem Leben anderer Menschen, mit denen du in Berührung kommst, oder auch in dem Leben deiner eigenen Seele; denn dessen bist du gewiß geworden, daß wo und wie immer das Wehe der Unseligkeit dich am tiefsten und schärfsten erfassen mag, du jedesmal auch eben daselbst und ebenso nur um so heller und unverdeckter in das selige Angesicht deines Heilandes schauen wirst, welcher Blick dir jeden Tropfen bitterer Unseligkeit in einen Wonnetrank seiner unerschöpflichen Seligkeit verwandeln wird.
So allein, Geliebte, werden wir auch der Unseligkeit, die uns umfängt, wo wir stehen und gehen, los und ledig, denn wegleugnen und wegspotten, weglachen und wegspielen läßt sich unsere Unseligkeit nicht, wie die Thoren und Eitelen meinen; aber eben so wenig läßt sie sich mit Sorgen und Grämen, mit Weinen und Klagen ausschöpfen, wie die Trüben und Finsteren unter uns wähnen. Nur mit dem festen Blick auf Jesum, den mitten in der Unseligkeit der Welt im Geiste Seligen, durchschreiten wir die Fluten und Wogen der Unseligkeit und werden nicht versinken. Aber auch nur so werden wir der Ewigkeit des seligen Lebens gewiß. Denn die Seligkeit beginnt nicht erst im Jenseits, wie man jetzt oft wähnet, eine solche Meinung und Redeweise ist nicht gemäß der Lehre Jesu und seiner Apostel. Jenseits ist das Reich der Macht und Herrlichkeit, wer daher als Christ in dem Diesseits in Niedrigkeit, Verlassenheit, Verachtung und Verfolgung einhergeht, der mag sich trösten. Dieses Kleid schändet keinen Jünger Jesu, es ist das Kleid, welches der Herr selber angezogen, welches er festhalten wird bis auf den Tag seiner herrlichen Zukunft. Wer aber die Seligkeit Jesu nicht als eine gegenwärtige und immerdar nahe, nicht als eine innewohnende und über alle Unseligkeit siegende erfahren hat und alle Tage aufs Neue erfährt, der muß mit Recht über seinen Christenstand unruhig werden, der darf sich einer künftigen ewigen Seligkeit noch nicht getrösten. Nur wer in solcher Erfahrung seinen Stand hat, und seinen Gang nimmt und darin die Kraft besitzt, zu treten auf Schlangen und Scorpionen und auf alle Gewalt des Feindes (Luk. 10, 19), nur diesem kann Ungewißheit und Zweifel über den ewigen Ausgang und das herrliche Ziel seines Weges Nichts anhaben. Amen.
Quelle: Baumgarten, Michael - Zeugniß des Glaubens für die Gemeinde der Gegenwart