Arndt, Friedrich - Die sieben Worte Christi am Kreuz – 3. Predigt.

Arndt, Friedrich - Die sieben Worte Christi am Kreuz – 3. Predigt.

Christe, Du Lamm Gottes, der Du trägst die Sünde der Welt, erbarme Dich unser, erbarme Dich unser und gieb uns Deinen Frieden! Amen.

Text: Joh. XIX. V. 25-27.

Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter, und seiner Mutter Schwester, Maria, Cleophas Weib, und Maria Magdalena. Da nun Jesus seine Mutter sahe, und den Jünger dabei stehen, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn. Darnach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter. Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

Unter allem, was von Menschen gesprochen wird, scheint uns nichts so wichtig zu sein, als die letzten Worte der Sterbenden. Wenn die Unsrigen durch den Tod von uns scheiden, und sie haben still und plötzlich ihre Augen geschlossen, und nichts weiter von dem ernsten Schritte geredet, den sie vor sich hätten, oder wir sind nicht gegenwärtig gewesen, ihre letzte Segnungen zu empfangen: so ist uns immer, als wenn uns etwas fehle. Haben sie aber noch Dies und Jenes gesagt, indem ihre Lippen schon erbleichten: so meinen wir in diesen Worten einen köstlichen Schatz zu besitzen. Oft rufen wir uns dieselben wieder ins Gedächtnis zurück, und was auch sonst von ihrem Wesen und Sein der Vergessenheit anheimfällt: diese ihre letzten Aeußerungen, die sie an den Grenzsteinen ihres Lebens gethan haben, bleiben uns unvergeßlich. - Wie viel wichtiger müssen uns nun erst die letzten Worte des sterbenden Erlösers sein! Sie sind es auch, und waren es der Christenheit in allen Jahrhunderten, und werden es bleiben bis an das Ende der Tage. Das erste Wort, welches Jesus sprach, war gen Himmel gerichtet, eine Bitte um Vergebung für seine Mörder. „Vater, vergieb ihnen; denn sie wissen nicht, was sie thun.“ Dann wendete er sich zu einem der Mitgekreuzigten, der zu seiner Rechten hing, und öffnete ihm die Seligkeiten des Paradieses: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Nun fällt sein Blick herunter auf die ihn umgebende Menge. Da sieht er seine Mutter und neben ihr Johannes unter dem Kreuze stehen, und spricht nun sein drittes Wort: 1) zur Mutter: „Weib, siehe, das ist dein Sohn.“ 2) zu Johannes: „Siehe, das ist deine Mutter.“

I.

Nicht blos blutdürstige Feinde und rohe Kriegsknechte standen unter dem Kreuze Jesu Christi auf Golgatha: auch ein schönerer Kreis hatte sich um den Sterbenden gebildet, eine Mutter und ihre Schwester, eine erweckte Sünderin und ein Vertrauter seines Herzens. Große Dinge hatte Maria an ihrem Sohne erlebt, und eine Vergangenheit durch ihn gehabt, wie nie eine sterbliche und sündhafte Mutter auf Erden gehabt hat. Von dem Augenblicke an, wo wunderbar ihr der Engel erschien und der staunenden Jungfrau die Geburt des Weltheilandes verkündigte, bis zu den Augenblicken, welche jetzt schwer und düster für sie angebrochen waren: wie viel Einziges und Unvergleichliches lag hinter ihr! Die merkwürdige Geburt in Bethlehem, der Lobgesang der himmlischen Heerschaaren, die Freude der Hirten, die Segnungen des alten Simeon im Tempel, die Anbetung der Weisen aus dem Morgenlande; dann seine liebliche Jugend, in der sie nur Freude an ihm erlebt; seine unvergeßliche Antwort im zwölften Jahre; endlich sein öffentliches Auftreten, sein erstes überraschendes Wunder zu Cana in Galiläa, dann seine gewaltigen Predigten, seine großartigen, unerhörten Wunder, seine merkwürdigen Schicksale, zuletzt der unerwartete Ausgang seines Daseins: welche Fülle von Erlebnissen in den wenigen dreiunddreißig Jahren! In der That, Maria war eine hochbeglückte Mutter gewesen, und wir verstehen die Worte der Elisabeth: „Gebenedeiet bist du unter den Weibern, und gebenedeiet ist die Frucht deines Leibes;“ wir verstehen den Ausruf jenes israelitischen Weibes nach einer großen Wunderthat des Herrn: „Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, die du gesogen hast.“ (Luc. 1, 42. 11, 27.) -

Jetzt war Alles anders geworden. Der die Geister fesselte, weil er redete, wie nie ein Mensch geredet, war gebunden und gefangen; der Freude und Segen verbreitete, wohin seine heiligen Füße traten, war ein Opfer der schmählichsten Leiden und Schmerzen geworden; der der Fürst des Lebens gewesen, war zum Tode am Kreuze verurtheilt; und der sich Israel anbot als seinen wahrhaftigen Heiland und alleinigen Helfer, war von Israel verworfen und als Betrüger und Gotteslästerer gebrandmarkt worden. Für alle Liebe hatte er nichts als Undank, für alle Wohlthaten nichts als Spott und Hohn geerntet. Das Hosianna, das noch vor wenigen Tagen auf allen Lippen schallte, war in ein blutiges Kreuzige, kreuzige ihn, verwandelt worden, und das Todesurtheil des hohen Raths von Pilatus bestätigt. Der entscheidende Tag seiner Vollziehung war angebrochen; die zur Festzeit ungewöhnlich mit Menschen angefüllte Hauptstadt des Landes ist voll Volksgetümmel, Alles wogt die Schmerzenstraße hinaus nach Golgatha: könnte Maria zurückbleiben? Nimmermehr! Wo Er ist, da muß sie auch sein. Wenn Er sich nach ihr umsähe, und Er fände sie nicht: wie könnte sie es aushalten? Nein, ihr Mutterherz läßt es ihr nicht zu, wie schwer und herzzerreißend auch der Gang und der Anblick des sterbenden geliebten Sohnes sein mag; sie kann den im Tode nicht verlassen, den sie geboren hatte. So eilte sie vor das Richthaus des Pilatus am frühen Morgen; so begleitete sie ihn die Schmerzenstraße hinaus nach Golgatha; so sah sie ihn mit dem zerschlagenen Rücken ohnmächtig wanken unter der Last des Kreuzes; so hörte sie den Hohn der grausamen Menge, hörte die Hammerschläge, welche Hände und Füße ihm durchbohrten, und drängte sich immer näher heran, bis in den Kreis, den die römische Wache bildete: noch ein Schritt, und da stand sie neben dem Kreuze, an dem ihr Sohn litt in namenloser Qual. Wie mochte sie dastehen, Geliebte! Die ehemals die benedeiete Mutter in Israel gewesen war, ist jetzt die unglücklichste unter allen. Was Simeon ihr geweissagt in jenen schönen Tagen, da sie überselig ihr liebes Kindlein dem Herrn darstellte, daß ein Schwerdt ihr durch die Seele dringen würde: ist jetzt erfüllt. An dem Kreuze stand die bleiche Mutter da, die schmerzenreiche, als ihr Sohn im Sterben hing, als das Schwerdt ihr durch die warme, hoffnungsleere, trostesarme, tiefgebeugte Seele ging. Sie sahe den Sohn, der vom Engel der Sohn des Höchsten war genannt worden, der ein König sein würde über das Haus Jacobs ewiglich, und dessen Königreich kein Ende sein würde, unter Verbrechern auf dem Hochgericht sterben; sahe das Haupt, das die Krone der ganzen Welt hatte tragen sollen, mit Dornen bedeckt und blutend, sahe das Angesicht, auf welchem so viel göttliche Milde ruhte und welches schöner war als aller Menschen Angesicht, welches die Engel gelüstete zu schauen, schmählich mit Speichel entstellt und von Faustschlägen geschwollen; sahe die Augen, deren Blick sonst Heil und Friede verbreitet und den Himmel offen gesehen, nun getrübt und halb geschlossen; sahe die Hände, die ihre mütterlichen Liebkosungen so oft erwiedert hatten mit Kindesliebe, und von denen so viel Segen ausgegangen war über Stadt und Land, sahe die Füße, die über Wellen und Wogen gewandert, grausam durchbohrt und ans Kreuz gefesselt; sahe die Lippen, die so oft gerufen hatten: Mutter, Mutter, und von denen die holdseligsten Worte des Trostes und der Lehre über Tausende herabgeflossen waren, die Lazarus aus dem Grabe gerufen, die die Teufel ausgetrieben, die den Kranken Genesung verkündigt und vermittelt hatten, erblaßt und in den Zuckungen des furchtbaren Todeskampfes. O mit welchen nassen Augen, mit welchem bebenden Herzen mochte sie dastehen unter dem Kreuze ihres einzigen und heißgeliebten Sohnes? - Ach, und wenn sie ihn noch anreden, ihn noch einmal umarmen, seine letzten qualvollen Stunden ihm noch erleichtern, seine brennenden Wunden ihm verbinden, das Blut, das in Strömen herabfließt, noch aufhalten, sein wankendes Haupt ihm noch stützen, ein freundliches Wort der Liebe und des Trostes ihm zurufen, Lebewohl ihm noch sagen könnte. Aber nein, auch das ist ihr versagt. Sie kann nichts, gar nichts thun zu seiner Erquickung und Erleichterung. Nur ohnmächtige Seufzer, nur fruchtlose Thränen kann sie darbringen. Wie schnitt es ihr da durch die Seele, wenn sie an das Engelwort gedachte: Von nun an werden dich selig preisen alle Kindeskind!

Und was sollte aus ihr werden, wenn er nun erst wirklich todt war, der Geliebte ihres Herzens? Welche Zukunft stand ihr bevor, ihr, der Mutter des vermeintlichen falschen Messias, des gebrandmarkten Gotteslästerers, der als ein Fluch vor aller Welt den schimpflichsten Missethätertod erduldet hatte! Welchem Hohn und Spott, welcher Verachtung und Mißhandlung mußte sie sich preisgegeben sehen! Und wer sollte für sie sorgen, in ihrer Verlassenheit sich ihrer annehmen, in ihrer Armuth sie bedenken, in ihrem Alter sie ernähren, da der Versorger ihr verstarb und nichts hinterließ, als die wenigen Kleider, welche die Kriegsknechte unter sich getheilt hatten? Wer sollte sie trösten, da der alleinige Tröster von ihr ging? Gewiß, wenn sie zusammengesunken, wenn ihr Herz zugleich gebrochen wäre mit dem Herzen ihres Sohnes, es wäre nicht zu verwundern gewesen.

Aber der Text sagt: „Maria stand unter dem Kreuze.“ Keine Klage kommt über ihre Lippen; kein Händeringen und Haarzerreissen wird sichtbar; kein Seufzer über die Schmach und Schande ihres Sohnes, kein Vorwurf gegen die Mörder wird laut. Wie bleich auch ihre Wange und wie trübe ihr Auge ist: Maria hält sich aufrecht, sie wankt nicht, sie bricht nicht zusammen. Maria stand. Sie sah Alles, sie ertrug Alles mit wahrhaft männlicher Fassung. - Was gab ihr die Kraft, das auszuhalten und zu ertragen? Es war der Glaube, daß der am Kreuze hing, nicht nur ihr Sohn war, sondern auch Gottes Sohn, ihr Erlöser und Heiland; daß dieser Tod Erfüllung war der alten Weissagungen und mithin Gottes allheiliger Wille. Es war die Ahnung, daß auch hinter diesem Aeußersten seines Lebens ein höherer, göttlicher Rathschluß verborgen sei. Die Liebe, die stark ist wie der Tod, hatte sie zum Kreuze hingezogen; die Gnade hielt sie fest beim Kreuze. - Es war ferner die Theilnahme und der Trost der Liebe, die sie in der schweren Stunde erfuhr. Denn sie stand nicht allein, eine geliebte Schwester, eine Freundin und der Jünger, den ihr Sohn am liebsten gehabt, waren bei ihr und theilten mit ihr den schmerzhaften Anblick. Und Ihr wißt ja alle, wie wohlthätig die Nähe und der Trost der Liebe uns ist in Augenblicken, wo unser ganzes Lebensglück auf dein Spiele steht, wie da jede Ermahnung ans Gottes Wort, jede Fürbitte treuer Freundschaft, jede Aeußerung und jeder Beweis von Theilnahme das bittere Leiden erleichtert. Verheilte Freude ist doppelte Freude, getheilter Schmerz ist halber Schmerz. - Aber noch ein größerer Trost stand ihr bevor.

Als sie so unter dem Kreuze gefaßt und geduldig stand, hatte sie nur einen Wunsch, daß Er, der Geliebte, auf sie herabblicken mochte. Gehört hatte sie seine hohepriesterliche Fürbitte: „Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun;“ gehört auch das majestätische, königliche Wort an den Mitgekreuzigten: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein;“ erfahren hatte sie es, daß in diesen Schmerzenstunden sein göttlich Herz mit nichts beschäftiget war, denn mit Vergebung und Gnadenerweisungen. Wie? wird er an uns denken, da seine Seele von so großen Gedanken erfüllt ist? mochte sie sprechen zu ihren Gefährten. Und wenn er an uns denkt, wird er uns finden in der großen wilden Menge? Ja, seine Blicke suchten, seine Blicke fanden sie; Jesus sahe seine Mutter, heißt es im Texte, und den Jünger dabei stehen, den er lieb hatte. Wie mußte ihnen sein, als Er sie sah, als ihre Blicke seinen Blicken begegneten! Welch ein Himmel lag in diesem Blick! Wie viel Gnade, wie viel Liebe! Wie viel schmerzensreiche Wehmuth, wie viel erquicklicher Trost! Hätte er nun auch kein Wort gesagt, Maria hätte sich himmlisch getröstet und erquickt gefühlt! - Aber Jesus sahe sie nicht blos an, er sprach auch zu seiner Mutter. Er muß ihre treue Mutterliebe, die ihr Kraft gegeben hat, nach Golgatha ihm zu folgen und in seinen letzten Stunden ihn nicht zu verlassen, erquicken und belohnen. Vor Allen, welche vom Kreuz herab sein Auge erblickt, gehört ihr sein Blick und sein Herz, Er ruft ihr das besänftigende Wort zu: „Weib, siehe, das ist dein Sohn.“

Warum nannte er den Mutternamen nicht, sondern sagte: Weib? Gewiß, um sie in ihren Schmerzen zu schonen und ihr Mutterherz nicht vollends zu brechen. Gewiß, um sie nicht dem Spott der bittern Feinde preis zu geben, der unabwendbar über sie ausgebrochen wäre, wenn es kund geworden, daß sie des Gekreuzigten Mutter sei. Vielleicht aber auch, um sie zu lehren, daß jetzt alles natürliche Verhältniß zwischen ihr und ihm aufhören, daß er nun nicht mehr der Mutter, sondern allein dem Vater angehöre, der ihn für die Menschheit in den Tod gegeben; vielleicht auch, um hinzudeuten auf das Urevangelium, an Eva im Paradiese gegeben, sie sei das Weib, er der Weibessame, der nunmehr der Schlange durch sein Leiden und Sterben den Kopf zertrete, den sie aber in die Ferse steche; vielleicht sogar, um zu verstehen zu geben, daß Er der einzige Mittler und Erlöser sei, und Maria als seine Mutter nichts gelte, sondern beim Werk der Erlösung als ein bloßer Mensch, als ein bloßes Weib anzusehen sei. - Weib, siehe, das ist dein Sohn; kann ich auch dir nichts mehr sein, der bekümmerten Mutter soll der Sohn darum nicht entzogen werden, du sollst nicht einsam stehen, gleich der Palme in öder Wüste; Johannes, mein treuster Jünger, der jetzt schon wie ein Sohn sich deiner angenommen hat, wird auch ferner dein Sohn, der Beschützer deiner Verlassenheit, der Versorger deiner Hülflosigkeit, dein Ernährer und Erhalter sein.

Welch ein Wort! In der That, wir wissen nicht, was wir an demselben hervorheben sollen. Sollen wir die Geistesgegenwart und Geistesfrische bewundern, mit der Jesus jeden Augenblick zu benutzen versteht, um Jedem das rechte Wort zu sagen, und es weder in seinem Leben, noch in seinem Sterben einen leeren, gleichgültigen und bedeutungslosen Augenblick giebt? Oder sollen wir die Selbstbeherrschung anstaunen, mit der er im Sturme der gewaltigsten Gefühle seiner Schmerzen Herr bleibt, und eine Umsicht, eine Besonnenheit in der Fürsorge für die Seinen an den Tag legt, die in solchen Lagen bei Keinem unter uns sich finden würde? Oder zieht uns mehr an die Standhaftigkeit und Unerschrockenheit, mit der er die Mutter an seinem Kreuze kann stehen sehen in ihrer trostlosen Lage, ohne vor Wehmuth den erschütternden Gefühlen der Trennung von ihr zu unterliegen, mit der er über die Empfindungen der Natur sich zu erheben weiß, und neue Verbindungen knüpft, die für die Ewigkeit dauern sollen? Oder fesselt uns vor allem seine kindliche Liebe, die in dem Augenblick, wo er die Versöhnung einer ganzen gefallenen Welt auf dem Herzen trägt, noch an die irdische Mutter denkt und für sie sorgt? Ja, das ist das Allergrößte. Seinen himmlischen Vater hatte er geehrt durch strengen Gehorsam, seine irdische Mutter ehrte er durch Fürsorge für ihr leibliches Wohl und dadurch heiligte er das vierte Gebot: „Ehre Vater und Mutter,“ auf eine so anschauliche, feierliche und tatsächliche Weise, wie dies Gebot selbst auf Sinai unter den Donnern und Blitzen der großartigen Natur nicht gegeben war. Von Gott und Menschen verlassen, verläßt er doch seine Mutter nicht. Höret das denn, Söhne und Töchter, und heiliget Euer kindliches Verhältniß durch treue Liebe, von welcher Jesus Euch das strahlendste Beispiel giebt! Höret das, Väter und Mütter, wenn Ihr auf dem Sterbelager lieget, und sorget zu rechter Zeit dafür, daß die Eurigen nach Eurem Tode nicht verlassen und unversorgt dastehen, sondern jede Wittwe ihren Versorger, jede Waise ihren Vater wiederfinde. Die Sorge für Eure eigne Seele ist allerdings die Hauptsache; aber über diese Sorge vergesset nicht die Sorge für Euer Haus und für Alle, die Gott auf Erden Euch zugeführt hat, und höret niemals auf, Menschen zu sein, indem ihr Christen sein wollet. Denn so Jemand die Seinen, sonderlich seine Hausgenossen, nicht versorget, der hat den Glauben verläugnet und ist ärger als ein Heide. (1. Tim. 5, 8.)

II.

Unter dem Kreuze stand neben Maria auch Johannes, des Herrn Lieblingsjünger, der nicht nur am meisten Empfänglichkeit hatte für das Himmlische und die tiefsten Adlerblicke in das Wesen Jesu Christi, des Sohnes Gottes, gethan hatte, sondern auch, unter allen Aposteln der einzige, ihm bis in die Todesstunde hinein treu geblieben war. Auch im Tode hatte er Den nicht verlassen können, an dessen Brust er während seines Lebens gelegen. Seine Treue lohnt ihm daher der Herr durch neues großes Vertrauen und durch neue heilige Verpflichtung.

„Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist Deine Mutter.“ Wenige Worte, aber höchst bedeutsam für Johannes! Seine trauernde, tiefgebeugte Mutter - ihm übergiebt er sie zur treuen Obhut und Fürsorge. Gewiß, eine große Ehre, als schwacher, fehlsamer Mensch vom Heilande zu seinem Stellvertreter, zum Bruder gleichsam in der Familie ernannt zu werden. Gewiß, ein unbedingtes Vertrauen, das zugleich am geeignetsten war, den Jünger aus seinem dumpfen Schmerz zu erwecken und mit frischem Lebensmuthe zu erfüllen. Sohnesstelle soll Johannes an Maria vertreten: kein seligeres Vermächtniß seiner Gnade konnte Jesus ihm hinterlassen. - Und merkt es wohl: der Herr befiehlt es ihm nicht, wie das alttestamentliche Gesetz: du sollst, sondern liebend übergiebt er ihm seine Mutter: „siehe,“ das ist deine Mutter, sorge du für sie, als ob sie deine eigene Mutter wäre.

Die katholische Kirche gründet auf diese Worte vorzugsweise ihre Lehre von der Anbetung und göttlichen Verehrung der Maria. Sie sagt, was Jesus bisher den Jüngern gewesen, das sollte von nun an ihnen in jeder Beziehung Maria sein, Maria die Hirtin, Mutter und Trösterin, um welche sie allmälig wieder sich versammelten, und in deren Nähe sie zu neuer Hoffnung sie erhöben; Jesus habe daher nicht nur für Johannes die Worte gesprochen: „Siehe, das ist deine Mutter,“ sondern in und mit ihm habe er diese Worte zu allen Jüngern gesprochen, alle Jünger ohne Ausnahme sollten fortan an ihrer Mutterliebe sich sonnen, von Allen sollte sie als Mutter verehrt werden, die durch ihr Wort sie belehrte, durch ihr Beispiel sie förderte, durch ihr Gebet sie schützte, durch ihren Frieden sie tröstete, und für die Kirche das ward, was Jesus ,für die Apostel gewesen war, das fortgesetzte, fortwährende Leben Jesu in der Menschheit, die Mittlerin zwischen Christo und uns, die neue Eva, die Mutter der Menschen, die Wiederbringerin des Heils, die Erweckerin der Sünder, die Trösterin der Leidenden, die Hoffnung der Sterbenden, die himmlische Fürsprecherin und Himmelskönigin, die aller Menschen barmherzige Mutter sei, weil sie die Mutter des Gottmenschen ist; kurz, zum Lohne ihrer Schmerzen habe sie Jesus zur Beschützerin und Mutter aller seiner Gläubigen gewählt, und in Johannes zu allen Menschen gesprochen: Sehet, das ist eure Mutter, - Aber, Geliebte, heißt das nicht die Worte der heiligen Schrift auf das gewaltsamste verdrehen? Will Jesus, wenn er zu Johannes sagt: „siehe, das ist Deine Mutter,“ damit sagen: diese wird Mutterstelle an dir vertreten und für dich sorgen und dich trösten, wie eine Mutter ihr Kind tröstet, nachdem ich dich nun verlasse? oder will er nicht vielmehr damit sagen: du sollst meine Stelle an ihr vertreten und für sie sorgen, denn sie bedarf deines Trostes und deiner Hülfe nur zu sehr? Johannes also soll die Stütze der Maria sein, nicht Maria die Stütze des Jüngers, Nicht Johannen weist Jesus an Maria, sondern die Maria weist er an Johannes.

Nicht Maria soll Jesu Stellvertreterin werden für den Jünger, sondern der Jünger soll Jesu Stellvertreter sein für Maria. Die Abhängigkeit und Bedürftigkeit ist also nicht auf Seiten des Johannes, sondern der Maria. Wollte man einmal von der buchstäblichen Auffassung des Textes abgehen und eine bildliche Beziehung desselben und eine menschliche Abgötterei annehmen: so wäre es viel natürlicher gewesen, Maria, die Hülflose, als das Bild der hülflosen Menschen, und Johannes, den Stellvertreter Christi, als Fürsprecher bei Christo anzusehen; kurz, den Johannes zu verehren, aber nicht die Maria. So grund- und bodenlos ist also die Verehrung der Mutter Gottes, welche in jener Kirche völlig an heidnische Abgötterei grenzt.

Unser Text fährt nun fort: „Und von Stund an nahm sie der Jünger zu sich.“ Von Stund an, ohne Bedenken und Zögern, auf der Stelle, befolgte Johannes den Befehl des Herrn; schützte weder seine Armuth, noch seine Unfähigkeit vor; es war ihm Ehren- und Herzenssache zugleich, dem großen in ihn gesetzten Vertrauen des Herrn zu entsprechen. Er that sogar mehr, als ihm befohlen war; denn er ehrte und pflegte nicht bloß Maria, wie seine Mutter, sondern nahm sie auch zu sich in sein Haus. Sie fand in seinem Hause, was sie bedurfte, und Johannes ehrte in ihr zugleich die Mutter dessen, für welchen sein ganzes Herz in Liebe und Ehrfurcht entbrannt war. Ein heiliges Verhältniß war zwischen ihnen unter dem Kreuze geschlossen worden, und immer enger wurde von Jahr zu Jahr ihre Gemeinschaft, da Beide in dem Grundton ihrer Seele übereinstimmten, Beiden Christus der Gegenstand ihrer höchsten Liebe, ihres Glaubens und ihrer Hoffnung war, und Beide sich von ihm in gleichem Maaße geliebt wußten. Wir können es uns denken, wie manche köstliche Stunden der Erinnerung und Hoffnung zwischen Beiden verlebt wurden, wenn Mutter und Sohn zusammensaßen und von ihrem Heilande sprachen. Wie lange oder kurz sie zusammenblieben, wissen wir mit genauer Gewißheit nicht anzugeben. Johannes sagt nichts davon; obwohl er selbst uns diese herrliche Geschichte aufbehalten hat, so ist er doch viel zu demüthig, um irgend seiner Leistungen weiter Erwähnung zu thun. Nach einer kirchlichen Ueberlieferung soll Maria noch fünfzehn Jahre seine kindliche Pflege genossen haben, und in seinen Armen am fünfzehnten August im Jahre 48 nach Christo und im 63sten Jahre ihres Alters zum bessern Leben entschlummert sein.

Sehet, Andächtige, so heiligt Christus die irdische Verwandtenliebe und Freundschaft durch seinen Tod am Kreuze, und stiftet zwischen den Menschen neue, unvergängliche Bande. Was keine natürliche Liebe dem Menschen gewähren kann, das bietet und schafft die höhere, geheiligte Liebe in Christo. Gewöhnlich erblicken wir in unsern Verbindungen nur die Bande der Natur, und lieben die Unsrigen darum, weil sie Fleisch von unserm Fleisch, Blut von unserm Blute sind. Das ist aber nur eine menschliche, irdische und, bleiben wir dabei stehen, eine ungöttliche Liebe. Diese Liebe liebt nicht das Göttliche, sondern das Menschliche in den Andern, und artet leicht dahin aus, bald aus sinnlichem Wohlgefallen und aus Schwäche auch das Fehlerhafte und Unsittliche an ihnen gut zu heißen, ihre Untugenden zu übersehen, zu entschuldigen oder gar zu billigen und zu lieben; bald, sobald das sinnliche Wohlgefallen an ihnen erlischt, oder die Schattenseiten ihres Wesens zu grell und verletzend uns entgegentreten, zu erkalten und allmälig das Verhältniß mit ihnen aufzulösen. Das Menschliche, das Sündhafte kann ja unmöglich die Grundlage einer ewigen Freundschaft und unveränderlichen Liebe sein. Die wahre christliche Liebe hingegen liebt in denen, welche Gott uns zugeführt hat, nicht das Menschliche, heiße es Maria oder Johannes, sondern allein das Göttliche, welches immer und allein Christus heißt. Wer ihn über alles liebt, der kann auch den Andern lieben, wie sich selbst, das heißt, treu und ewig. Wie Maria in Johannes den Freund und Jünger Jesu liebte, und Johannes in Maria die irdische Mutter seines über Alles geliebten Herrn, kurz, wie Christus der gleiche Grund und der gleiche Gegenstand ihrer Liebe war: so kann auch heute noch die wahre, treue Liebe in dem Geliebten nur den Herrn lieben, kann auch heute nur unter dem Kreuze des Heilandes die Hände und Herzen in einander legen, auch heute nur in denen, die uns zugeführt werden, Gaben seiner Liebe, Unterpfänder seiner Erbarmung anerkennen, auch heute nur eine wahrhaft göttliche Liebe sein, sobald die leibliche Verwandtschaft zu einer geistigen sich verklärt, und die Bande des Bluts durch die Bande des Glaubens gereinigt und geheiligt werden. Solche Liebe kann dann auch weder getrübt werden durch sündliches Wohlgefallen an dem, was uns nach Gottes Willen an Andern mißfallen sollte, noch geschwächt werden durch das Verkehrte und Unreine, welches wir an ihnen wahrnehmen, sondern im Gegentheil nur zu thätigerer Fürsorge und Fürbitte entflammen. Solche Liebe trägt Alles, glaubet Alles, hoffet Alles, duldet Alles; sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit, und fördert sich gegenseitig in der Heiligung und Vervollkommnung. So oft ihr sie denn nennet die Namen: Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Mann, Frau, Sohn, Tochter; denket an das Wort des Herrn am Kreuze: „Weib, siehe, das ist dein Sohn; siehe, das ist deine Tochter;“ denket an das andere Wort: „Und Jesus reckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: Siehe da, das ist meine Mutter und meine Brüder; denn wer den Willen thut meines Vaters im Himmel, derselbige ist mein Bruder, Schwester und Mutter“ (Matth. 12, 49. 50.); und lernet sie dann in einem höheren Sinne die Eurigen nennen, daß Euer Bund mit ihnen ein Bund in dem Herrn werde: dann wird Eure Verbindung jederzeit eine selige und beseligende sein, und über Tod und Grab hinaus fortdauern in alle Ewigkeit, Heil allen Häusern und Familien, von denen das schöne Lied gilt:

O selig Haus, wo man Dich aufgenommen,
Du wahrer Seelenfreund, Herr Jesu Christ,
Wo unter allen Gästen, tue da kommen,
Du der gefeiertste und liebste bist;
Wo Aller Herzen Dir entgegenschlagen,
Und Aller Augen freudig auf Dich sehn,
Wo Aller Lippen Dein Gebot erfragen
Und Alle Deines Winks gewärtig steh'n.

O selig Haus, wo Mann und Weib in einer,
In Deiner Liebe eines Geistes sind,
Als Beide eines Heils gewürdigt, keiner
Im Glaubensgrunde anders ist gesinnt;
Wo Beide unzertrennbar an Dir hangen
In Lieb und Leid, Gemach und Ungemach,
Und nur bei Dir zu bleiben stets verlangen
An jedem guten, wie am bösen Tag.

O selig Haus, wo man die lieben Kleinen
Mit Händen des Gebets ans Herz Dir legt,
Du Freund der Kinder, der sie als die Seinen
Mit mehr als Mutterliebe hegt und pflegt,
Wo sie zu Deinen Füßen gern sich sammeln
Und horchen Deiner süßen Rede zu;
Und lernen früh Dein Lob mit Freuden stammeln,
Sich Deiner freun, Du lieber Heiland, Du.

O selig Haus, wo Knecht' und Magd Dich kennen,
Und wissend, wessen Augen auf sie sehn,
Bei allem Werk in einem Eifer brennen,
Daß es nach Deinem Willen mag geschehn;
Als Deine Diener, Deine Hausgenossen,
In Demuth willig und in Liebe frei,
Das Ihre schaffen froh und unverdrossen,
In kleinen Dingen zeigen große Treu,

O selig Haus, wo du die Freude teilest,
Wo man bei keiner Freude dein vergißt!
O selig Haus, wo du die Wunden heilest
Und aller Arzt und aller Tröster bist,
Bis jeder einst sein Tagewerk vollendet,
Und bis sie endlich alle ziehen aus
Dahin, woher der Vater dich gesendet,
Ins große, freie, schöne Vaterhaus!

Heil allen Vereinen und Liebesgemeinschaften, in denen Jesus der Dritte im Bunde ist, des Bundes Haupt und Seele, in denen der Glaube an ihn die Grundlage und den Geist der Verbindung ausmacht, deren Schiboleth heißt: „Der am Kreuz ist meine Liebe, meine Lieb ist Jesus Christ,“ die eine Gemeinschaft der Heiligen bilden, in welcher das Menschliche durch das Göttliche geadelt und die irdische Verwandtschaft und Freundschaft verklärt wird durch das Blut Jesu Christi! An ihnen bewährt sich das Wort der Schrift: „Siehe da, eine Hütte Gottes bei den Menschen, und Er wird bei ihnen wohnen und Er wird ihr Gott und sie werden sein Volk sein.“ Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/a/arndt_f/sieben_worte/arnd-dritte_predigt.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain