Arndt, Friedrich - Das Vaterunser - Die zweite Bitte.

Arndt, Friedrich - Das Vaterunser - Die zweite Bitte.

Dein Reich komme.

Dies ist die kürzeste unter den sieben Bitten des Vater Unser, und. doch lang und reich an Inhalt und Bedeutung. Angeboren ist jedem Menschen bei den mancherlei Unvollkommenheiten des Erdenlebens der Wunsch, daß es besser werden möchte in der Welt, und alle Veränderungen und Neuerungen, alle Empörungen und Kriege, alle Erfindungen und Verbindungen der Menschen unter einander sind zunächst immer geleitet worden und ausgegangen von jenem tiefen Verlangen der Sehnsucht, das der Herr einmal unauslöschlich in unsere Brust gepflanzt hat. Nichts desto weniger kann es durch alle jene äußern Hülfsmittel wahrhaft besser und gut nicht werden mit den Einrichtungen und Verfassungen der Völker, weil das Heil nicht von außen, sondern von innen kommt, und ein für allemal die Erfahrung feststeht: Lasset uns besser werden, gleich wird's besser sein. Geholfen kann der Menschheit und jedem Einzelnen nur werden im Reiche Gottes, und darum ist die zweite Bitte: Dein Reich komme, eine vielumfassende, wahrhaft gewaltige Bitte. Zwei Fragen liegen nahe: 1) was ist das für ein Reich, das Reich Gottes, um dessen Kommen wir bitten? 2) was macht diese Bitte zu einer so dringenden und unabweisbaren?

1.

Was ist das für ein Reich, um dessen Kommen wir den Herrn anstehen im Vater Unser, und von dem es heißt: Dein Reich komme? Offenbar ist es nicht das Reich der Natur, in welchem Gott der Herr ist vermöge seiner Allmacht, und alle Dinge, selbst die Welt, selbst die Hölle, selbst der Satan. Ihm unterworfen sind; denn um dieses brauchen wir nicht erst zu bitten, es ist schon überall; wo wir uns befinden, sind wir in diesem Reiche und können ihm nimmermehr entfliehen. - Ebenso wenig ist es ein Reich dieser Welt, eine irdische Verfassung, eine neue Regierungsform, wie oft der Freiheitsschwindel und die Zügellosigkeit gewähnt hat und die Unheilspropheten der alten und neuen Zeit verkündigten; denn als Pilatus Jesum fragte: so bist Du dennoch ein König? antwortete Er: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden drob kämpfen, daß ich den Juden nicht überantwortet würde, aber nun ist es nicht von bannen.“ Für das Christenthum sind die menschlichen Verfassungen vollkommen gleichgültig; es gedeihet nicht minder da, wo das Volk herrscht, wie da, wo Einzelne, durch ihre Geburt Bevorrechtigte, das Scepter führen, wenn gleich allerdings die Monarchie mehr dem Vorbilde der göttlichen Weltregierung entspricht, als jede andere Regierungsweise. - Selbst die Anstalt der Kirche ist nicht einmal das Reich des Herrn. Wohl ist die Kirche von Ihm und auf Ihn gegründet, wohl predigt sie Seine Ehre und verkündigt Seinen Namen, wohl weiß sie in ihren Lehren, Gebräuchen und Verrichtungen von keinem andern Grund und Eckstein, als von Ihm allein, und ist der Träger und die Geburtsstätte des Reiches Gottes; aber dennoch gilt von ihr nicht, kann von ihr nicht gelten, was der Herr von seinem Reiche sagt: „Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Geberden, man wird auch nicht sagen: siehe, hier oder da ist es; denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ Das Reich Gottes hängt an keiner äußern Form, es lebt in den menschlichen Herzen. Wie es in allen Regionen der Erde Menschen giebt, die nicht fern sind vom Reiche Gottes; Nicodemusse, die in der Nacht nach Wahrheit suchen und forschen; Nathanaele, in denen kein Falsch ist; Corneliusse, die da gottselig sind und gottesfürchtig mit ihrem ganzen Hause, und deren Gebete und Almosen hinaufkommen ins Gedächtniß vor Gott: so sind die Bürger und Genossen des göttlichen Reichs verbreitet unter allen Confessionen und Kirchen der Christenheit, in allen Himmelsstrichen der Welt, und es giebt namentlich in unsern Tagen, wo die Missionsthätigkeit so umfassend geworden ist, kein Volk und kein Land, in welchem nicht Glieder des Leibes Jesu Christi wohnen; unter weißen, braunen, gelben, schwarzen Menschen, im blühenden Morgenlande, wie unter Eis und Schnee, unter Nationen, die noch in ihrer Kindheit leben, wie unter solchen, die es bis zu einem hohen Grade von Verfeinerung und Bildung gebracht, unter Griechen, Katholiken, Lutheranern. Reformirten, Herrnhutern, Methodisten, Quäkern, und wie die verschiedenen Theile und Abschnitte der großen Gemeinde des Herrn alle heißen mögen, unter ihnen Allen giebt es wahre Christen, und keine äußere Form des Bekenntnisses schließt darum die Einen aus und die Andern ein. Nicht darum ist jemand ein Christ, weil er dieser oder jener Confession angehört, und nach ihren Bekenntnißschriften rechtgläubig genannt werden kann; sondern darum, weil er an den Herrn Jesum lebendig glaubt und mit Ihm in so enger Gemeinschaft steht, wie das Glied des Leibes mit dem Haupte, wie die Rebe mit dem Weinstock, wie das Schäflein mit dem guten Hirten. Daraus soll nun keineswegs folgen, als ob es völlig gleichgültig wäre, welchem Bekenntniß und welcher Confession man angehört: im Gegentheil, es wird die eine dem göttlichen Worte und der Urverfassung der Kirche immer näher stehen und daher für's Reich Gottes mehr wirken, als die andere; aber das folgt unwidersprechlich daraus, daß äußere Kirche und Reich Gottes nicht zusammenfällt, daß man der eifrigste Lutheraner, der strengste Reformirte der bigotteste Katholik sein kann, und ist doch kein Christ, kein Jünger und Nachfolger des Herrn; der Name macht's nicht, sondern das Herz und die That; das Herr-Herrsagen und Weissagen und Teufelaustreiben und viele Thaten Thun im Namen Jesu ist nicht die Hauptsache, sondern die Ausübung des göttlichen Willens. (Matth. 7, 22. 23.) Ja, die Geschichte lehrt sogar, daß das Reich Gottes so wenig an eine bestimmte äußere Kirche gebunden ist, daß im Gegentheil, je mehr lchtere vorherrschte und in äußern Glanz und weltlichen Schimmer sich hüllte, desto mehr das Leben in derselben erstickt und ihr wesentliches Licht verdunkelt wurde.

Das Reich Gottes, von dem der Herr redet in seinem Gebete, ist nicht die äußere, sichtbare Kirche oder die Gemeinschaft der Gnadenmittel; sondern es ist die innere, unsichtbare Kirche, die in der Gemeinschaft der Gnadenwirkungen sich äußert, die Gemeinschaft der Heiligen, wie sie im apostolischen Glaubensbekenntniß genannt wird; es ist das Reich der Gnade in den Herzen der Menschen. Die heilige Schrift sagt von diesem Reiche: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde aus dem Wasser und Geist, kann er in das Reich Gottes nicht kommen. (Joh. 3, 5.) Es sei denn, daß ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. (Matth. 18, 3.) Die Zeit ist erfüllet, und das Reich Gottes ist herbeikommen: thut Buße und glaubet an das Evangelium. (Marc, 1,15.) Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude in dem heiligen Geist. (Röm. 14, 17.) Das Reich Gottes stehet nicht in Worten, sondern in Kraft.“ (1 Cor. 4, 21).) Wo also ein Menschenherz sich arm fühlt am Geiste, wo es Leide trägt über seine Sünden, wo es die zahllose Menge seiner Sünden und Uebertretungen füllt, seinen ganzen Unwerth erkennt, wie der verlorne Sohn ausruft: „Vater, ich habe gesündigt in den Himmel und vor Dir, und bin hinfort nicht werth, daß ich Dein Sohn heiße,“ wie der Zöllner an seine Brust schlägt und seufzt: Gott, sei mir Sünder gnädig wie ein aus dem Schlafe Aufgeweckter fragt: was muß ich thun, daß ich selig werde?: da geht das Morgenroth des Reiches Gottes auf, da wird der erste saure Schritt in dasselbe gethan; die enge Pforte ist gefunden; arm, nackt, jämmerlich, blind und bloß dringt man hindurch. Wo dann ein Menschenherz den Frieden, der höher ist, denn alle Vernunft, in Christo findet, und Vergebung seiner vorigen Sünden, Kindschaft bei Gott erhält, seine unvollkommne Gerechtigkeit mit der vollkommnen Gerechtigkeit Christi vertauscht und jubelt: „Freuet euch mit mir, denn ich, verlornes Schäflein, bin wiedergefunden, ich bin in Christo ein Kind Gottes geworden, ich Armer bin über alle Maßen reich, die ganze Welt ist mein, weil sie meines Gottes (1 Cor. 3, 22. 23.) und Gott mein Vater ist:“ da scheint die Sonne helle, und das Reich Gottes entwickelt seine Herrlichkeit. Wo endlich eines Menschen Glaube in Liebe thätig ist, wo die Werke davon zeugen, daß man eine neue Kreatur geworden, daß der gute Baum auch gute Früchte bringt, wo man allen Fleiß anwendet und im Glauben darreicht Tugend, in der Tugend Bescheidenheit, in der Bescheidenheit Mäßigkeit, in der Mäßigkeit Geduld, in der Geduld Gottseligkeit, in der Gottseligkeit brüderliche Liebe, in der brüderlichen Liebe allgemeine Liebe (2 Petri 1, 5 - 8.); wo man vor allen Dingen unablässig trachtet nach dem, was droben ist, und nicht nach dem, was auf Erden ist, und sich sehnt nach gänzlicher Vollkommenheit und Schauen des Herrn von Angesicht: da ist das Reich Gottes völlig gekommen und offenbar geworden; da schmeckt man das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt; da ist man Genosse des auserwählten Volkes Gottes, des königlichen Priesterthums, und verkündigt die Tugenden deß, der uns berufen hat von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Lichte. Mit einem Wort, wo Gottes Name erkannt, anerkannt und bekannt wird: da ist das Reich Gottes. - Dieses Reich befriedigt alle Bedürfnisse der menschlichen Natur, und läßt keines an sich herankommen, ohne es zu stillen. Vollen wir göttliche Gesinnungen: die Genossen dieses Reichs tragen die Gesinnungen ihres göttlichen Königs an sich, Demuth und Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit, Redlichkeit und Treue, Geduld und Warten; vor allem die Liebe, die da ist des Gesetzes Erfüllung, das Band der Vollkommenheit, die Frucht des Geistes und der Himmel auf Erden. Wenn die Gestalt des Heidenthums Vergnügungslust, die Gestalt des Muhamedanismus Stolz und Rachsucht, die Gestalt des Judenthums Hoffnung ist: so ist die innerste Schönheit des Christenthums und aller seiner Genossen die Liebe. Begehren wir Stärkungsmittel im Guten und Bewahrungsmittel vor dem Bösen: die Waffen der Reichsgenossen sind der Harnisch Gottes, der Panzer der Gerechtigkeit, der Schild des Glaubens, der Helm des Heils das Schwert des Geistes und das Gebet. (Eph. 6.) Sehnen wir uns nach Freiheit und Gleichheit: im Reiche Gottes sind Alle unter einander Brüder, und die Unterschiede derselben bestehen nicht in Rang und Stand, in Geld und Gut, in Orden und Titeln, in Adel und Ritterschaft, in Scepter und Krone; ihre Unterschiede bestehen in der Art und Weise, wie sie einander dienen; wer am meisten den Andern dient, der ist der Größte und Gewaltigste im Himmelreich, und wer seiner Brüder Knecht ist, der ist der Vornehmste. (Matth. 20, 26. 27.) Die Auszeichnungen, welche ausgetheilt werden, sind das einfache Kreuz, welches in der Brust lebt und äußerlich dem Herrn nachgetragen wird. Verlangen wir nach lebendigem Geist und nicht nach todtem Buchstaben, nach Friede und Eintracht bei aller Eigenthümlichkeit: unter den Genossen dieses Reiches herrscht die denkbar größte Einheit im Wesentlichen, in dem gleichen Zuge ihres Herzens zu Christo, ein Glaube, eine Hoffnung, eine Taufe, ein Blut, das sie Alle erlöst, ein Brod, das sie Alle speist, ein Haupt und Herr, von dem Alle abhängig sind - und doch zugleich die mannichfaltigste Verschiedenheit im Unwesentlichen und Aeußerlichen, in den Stufen und Graden der Entwickelung und Führung. Wie es in der Natur nicht zwei durchaus gleiche Blätter giebt, so giebt es auch im Reiche Gottes nicht zwei durchaus gleiche Christen. Der Eine hängt dem Herrn mehr an in seiner Erkenntniß, der Andere mehr im Gefühl, der Dritte mehr im Thun. Dieser ist von Herzen Christ, aber besonders ein freudiger Bekenner; jener auch, aber besonders ein tiefer und gläubiger Beter. Der Eine ist ein Kind in Christo, der Andere ein Jüngling, der Dritte ein Vater. Jeder hat sein eignes Maaß, seine besondere Empfänglichkeit und seine ihn unterscheidende Gestalt des innern Lebens. Suchen wir endlich eine große Vielheit an Unterthanen und eine weite Ausdehnung des Reichs: die Zahl der Genossen dieses Reichs ist unermeßlich, und seine Räume dehnen sich aus über Himmel und Erde, über Zeit und Ewigkeit. Freilich von der einen Seite könnte uns bange werden, wenn wir denken an die sechshundert Millionen Heiden und an die ungezählten Schaaren derer in der Christenheit, welche wohl den Namen tragen, daß sie leben, aber innerlich todt sind; wenn wir das Wort der Schrift lesen: „die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und ihrer sind wenige, die ihn wandeln; Viele sind berufen, aber Wenige sind auserwählt;“ aber doch athmen wir wieder auf, wenn wir an die Siebentausend uns erinnern, die zu Elias Zeit ihre Knie nicht gebeugt hatten vor Baal, wenn wir der Verheißung gedenken: „Deine Kinder werden dir geboren wie der Thau aus der Morgenröthe; die Heiden werden in deinem Lichte wandeln und die Könige im Glanz, der über dir aufgeht; deine Söhne werden von ferne kommen, und deine Töchter zur Seiten erzogen werden. (Pf. 110, 3. Jes. 60, 4.) Danach sahe ich, und siehe, eine große Schaar, welche niemand zählen konnte, aus allen Heiden und Völkern und Sprachen, vor dem Stuhl stehen und vor dem Lamm, angethan mit weißen Kleidern und Palmen in ihren Händen, schrieen mit großer Stimme und sprachen: Heil sei dem, der auf dem Stuhl sitzt, unserm Gott und dem Lamme.“ (Offenb. 7, 9. 10.)

2.

Indeß wie herrlich und herzentzückend auch das Reich der Gnade ist: es bleibt doch immer nur Mittel für einen höhern Zweck, nur Vorbereitung auf einen ganz vollendeten Zustand, der da angemessen ist den himmlischen Geistern und vollendeten Gerechten, auf das ewige Reich der Herrlichkeit. Jetzt ist dieses Reich noch unsern Augen verborgen; denn hienieden sind wir nur selig im Glauben und noch nicht im Schauen; hienieden ist die innere, unsichtbare Kirche des Herrn nur eine streitende und noch keine triumphirende; das ganze Leben ist ein Werden und Suchen, noch kein Sein und Haben, und wir warten insgesammt auf die völligere Offenbarung der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Einst wird aber auch diese Zeit für uns anbrechen, das Reich Gottes in seiner Vollendung sich aufthun, und die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, zubereitet als eine geschmückte Braut ihrem Manne. Dann wird der Herr der Herrlichkeit umgeben sein von seinen heiligen Engeln und von seinen entsündigten, in den ursprünglichen Stand der Unschuld wiederhergestellten Menschen; dann wird der Kampf in Sieg, die Niedrigkeit in Erhöhung, die Trauer in Freude sich verwandeln, das Paradies seine Thore öffnen, und das Gebet der Kirche: „Komm, Herr Jesu“ selige Erfüllung werden. Von diesem Reiche der Herrlichkeit redet der Herr, wenn Er spricht: „Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt.“ (Matth. 25 34.) „Ich sage euch: ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken, bis an den Tag, da ich's neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.“ (26, 29.) „Ich will euch das Reich bescheiden, wie mir's mein Vater beschieden hat.“ (Luc. 22, 29.) Selig, wer nach dem Reiche der Herrlichkeit sich sehnt und im Reiche der Gnade Bürger und Hausgenosse ist! Ihm ist das Loos gefallen aufs lieblichste und ein schön Erbtheil worden. Er allein ist in, Stande, das Gebet vollkommen zu fassen und nachzusprechen: Dein Reich komme!

So viel ist wieder klar, nur ein gläubiger, wiedergeborner Mensch kann beten: Dein Reich komme! ein Anderer spräche sich mit solchem Gebete das Todesurtheil. Denn wo das Reich des Herrn kommt, da hört das eigne Reich der Selbstsucht und der Sünde auf, da stirbt der Mensch sich selbst und allem ungöttlichen Wesen, und kündigt der Obrigkeit der Finsterniß allen und jeden Gehorsam auf. Man hat manchmal gesagt: das Vater Unser rede von Christo gar nicht und könne daher von Jedem gebetet werden; aber mit Unrecht, es setzt überall den Glauben an Christum voraus, namentlich zielt die zweite Bitte ganz auf Ihn; das Reich, um dessen Kommen wir bitten, ist das Reich Jesu Christi, und wir rufen darin Gott an, daß Er alle Juden, Heiden und Muhamedaner zu Christen und alle falschen Christen zu wahren und ächten machen wolle. - Zu solchem Gebet: „Dein Reich komme,“ fordert aber Dreierlei auf. Zuerst die felsenfeste und unumstößliche Verheißung des Herrn, daß es kommen solle. Er hat es ja versprochen: „Die Erde soll voll werden von Erkenntniß der Ehre des Herrn, wie der Meeresgrund mit Wasser bedeckt ist; es soll Alles ein Hirt und eine Heerde werden; das Evangelium vom Reich soll gepredigt werden in der ganzen Welt zu einem Zeugniß über alle Völker“ (Joh. 10. 16. Habak. 2, 14. Matth. 24, 34.); - und die Geschichte der Welt bewährt die Wahrheit dieser Verheißung. Eigentlich ist das Kommen des göttlichen Reichs ein immerwährendes und ununterbrochenes; wie der Herr immer kommt, so kommt auch immer sein Reich; aber doch hat es in der Geschichte der Welt Zeitpunkte gegeben, wo Christus mit seinem Reiche nachdrucksvoller und kräftiger kam als zu andern Zeiten, und man sein Dasein und Wirken nicht verkennen konnte.

Es kam das Reich Gottes vor allem zu der Zeit, wo der Sohn Gottes Mensch ward und unter seinen Brüdern umherwandelte, ihnen zu verkündigen die himmlische Botschaft und zu erwerben den ewigen Frieden. Es kam am Tage der Ausgießung des heiligen Geistes, als die Apostel voll wurden seiner Kräfte und mit neuen Zungen die großen Thaten Gottes verkündigten und Dreitausende sich taufen ließen auf den Namen des Herrn Jesu! Es kam, als die Fackel des Verderbens über Jerusalem geschwungen und Israel zerstreut wurde in alle Länder, die Christen aber gerettet wurden. Es kam unter den Verfolgungen und Martern der Blutzeugen, als Tausende starben um des Bekenntnisses des Evangelii willen, ihr heldenmüthiger Glaubenstod tausend andere bekehrte, und ihr Blut der Saame der Kirche wurde. Es kam wieder in den Sekten des Mittelalters, die von den Menschensatzungen zur reinen evangelischen Lehre zurückkehrten; in den Tagen der Reformation, als Licht und Freiheit wie eine neue Sonne aufging der verdunkelten Kirche; in den Anregungen und Belebungen, die in den letzten Jahrzehnten uns Allen zu Theil wurden; in dem neuerwachten Missionseifer, in dem Suchen und Forschen nach dem Worte des ewigen Lebens heut zu Tage. Und wie es im Ganzen zur Kirche kommt in der einen Zeit mehr als in der andern: so kommt es auch zu den Einzelnen, bald in dieser, bald in jener Zeit; bald so schnell und urplötzlich, als wäre das Heil das Werk einer Stunde; bald so langsam und allmälig, als sollten Jahre dazu gehören, um es zu vollenden; bald unter dem Brausen eines gewaltigen Windes, bald im stillen, sanften Säuseln; hier mit dem Worte: „des Menschen Sohn ist nicht gekommen zu richten, sondern selig zu machen“ (Joh. 3, 17.), dort mit dem andern: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwerdt“ (Matth, 10, 34.); diesem auf dem Wege des Glaubens zur Buße, jenem auf dem Wege der Buße zum Glauben. Aber überall kommt es! An keiner Herzensthür geht es vorüber! Kommen ist seine Natur und sein Leben! Darum ziemt uns die Bitte, sofern wir den Verheißungen Gottes Glauben schenken: „Dein Reich komme.“

Dazu fordert uns sodann auch auf die Sehnsucht unseres eigenen Herzens. Wissen wir doch Alle, die wir den Herrn kennen gelernt haben: wohl ist der Menschheit nur im Reiche Gottes, und alle andern Hülfsmittel, die man darbietet und anpreist für den Leib und für die Seele, fördern keinen Schritt weiter, wenn das rechte Mittel nicht benutzt wird, Eintritt ins Reich des Herrn. Was können wir ihr daher Besseres wünschen, als: „Dein Reich komme?“ Sehen wir doch alle Tage, wie traurig es um uns her noch aussieht, und wie Vieles noch fehlt, daß wir sagen könnten: unser Staat, unsere Kirchen, unsere Häuser, unsere Gesellschaften, unsere Schulen sind christlich geworden, vom Geiste des Herrn beseelt und regiert: wie sollten wir nicht stehen: „Dein Reich komme?“ Gewahren wir doch alle Tage, wie sechshundert Millionen Heiden in Finsterniß und Todesschatten dahinleben und dahinsterben, wie Israel noch immer in vergeblichen Hoffnungen und Gesetzesdruck schmachtet, wie der Halbmond Muhameds noch weite Länderstrecken bedeckt, wie in der Christenheit ein neues Heidenthum sein stolzes Haupt erhebt, und theils in der Wissenschaft die Persönlichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seele läugnet, theils im Leben als Abfall von Christo, als Vergötterung des Sinnenlebens und Losgebundenheit von aller Sittlichkeit auftritt und daher der Fürbitte mehr als je bedarf: wie sollten wir nicht stehen: „Dein Reich komme?“ Können wir es doch endlich nicht in Abrede stellen, daß wir selbst noch gar nicht so nahe dem Herrn stehen, wie wir sollten, daß wir oft das Gute durch Verkehrtheit hindern, statt es zu fördern; daß wir niederreißen, statt aufzubauen; daß wir reden, wo wir handeln, und schweigen, wo wir reden sollten; daß zwischen dem Wollen und Vollbringen des göttlichen Willens bei uns noch eine große Kluft befestigt ist: wie sollten wir da nicht flehen: „Dein Reich komme?“ Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, die Gemeinschaft des heiligen Geistes komme zu uns allen? unser Name werde im Himmel angeschrieben und eingetragen unter die Hausgenossen, Bürger und Kinder des Gottesreichs, daß der Rathschluß Gottes sich vollende, die Reiche der Welt unseres Herrn und seines Christus werden, und Er regiere von Ewigkeit zu Ewigkeit? (Offenb. 11, 15.)

Zu solchem Gebet fordert uns endlich auf der gute Wille, der bei allen, die den Herrn fürchten und lieben, ja vorhanden sein muß, selbst zu helfen, daß das Reich Gottes komme. Denn jedes Gebet im Vater Unser ist ja zugleich ein Gelübde. Ich kann nicht beten: Vergieb uns unsere Schuld, ohne hinzuzusetzen: wie wir vergeben unseren Schuldigern. So kann ich auch nicht beten: Dein Name werde geheiliget, ohne zu geloben: Auch ich will dazu beitragen, daß er von mir und an mir geheiligt werde; und nicht beten: Dein Reich komme, ohne zu geloben: Auch ich will nach meinen geringen Kräften helfen, daß es komme. Wiederum ist die Erfüllung dieser Gelübde an die Gnade des Herrn gebunden, und diese den Betenden verheißen. Sind wir Christen und wissen wir, was wir am Reiche Gottes haben, so werden wir sein Kommen zunächst zu befördern suchen bei uns selbst; also uns täglich prüfen, wo es noch fehle; täglich Fleiß thun, unsern Beruf und unsere Erwählung fest zu machen; täglich uns strecken nach dem himmlischen Kleinod, das uns vorhält unsere himmlische Berufung in Christo Jesu; - aber können wir solche Selbst-Prüfung anstellen, solchen Eifer nähren, ohne zu beten zum Herrn, daß Er uns erleuchte und stärke, und Lust und Kraft verleihe, zu thun, was Er verlangt; ohne zu seufzen: „Dein Reich komme?“ Dann bei Andern, daß wir Hand anlegen, wo wir können, daß es besser werde, im Hause, in der Gemeinde, in der Stadt, im Lande, in der Welt, durch Geld, Ermahnung, Anweisung, Vorbild; - aber können wir besser, treuer, umsichtiger, wirksamer solche Hand anlegen, als wenn wir unsere Geschäfte beginnen und enden mit der Zufluchtnahme zum allmächtigen und allbarmherzigen Herrn? können wir unsern Missionseifer für die Bekehrung der Heiden und Juden wirksamer unterstützen, da an Gottes Segen Alles gelegen ist, als wenn wir die Missionsbitte beten: Dein Reich komme? Wer irgendwie sich selbst und seine Mitmenschen lieb hat, wer ihnen gönnt den Eingang in das Reich der Herrlichkeit^ wer sie einst sehen möchte unter der Schaar der seligen Geister, der hebe Haupt und Hände empor und flehe: „ Dein Reich komme!“ Je mehr der Fürst der Finsterniß um uns her wüthet; je mehr neues Unkraut auf dem Boden der Herzen aufwuchert und den Weizen zu ersticken droht; je größer die Lockungen der Versuchungen der Welt und der Zeit zur Sünde werden; je näher der Kampf an uns selbst heranrückt und es gilt, auf Tod und Leben zu kämpfen: desto eifriger und brünstiger gilt es zu beten: „Dein Reich komme!“

Wohl kommt Gottes Reich auch ohne unser Gebet, dafür bürgen ja seine Verheißungen; aber kommt es schon ohne unser Gebet, wie muß es erst kommen, wenn wir ringen und flehen: Herr, wir lassen Dich nicht, Du segnest uns denn; wenn wir dem Himmelreich Gewalt anthun und es an uns zu reißen suchen! Wohlan, so laßt uns beten und nicht müde werden. Herr, Dein Reich komme! Sende Zeugen und Reichsboten, die predigen auf den Dächern unerschrocken und laut, daß es töne hinein in die Paläste der Reichen, in die Lustgelasse der Schweiger, in die Kammern der Sterbenden. Oeffne Dir die Herzen und reiß sie auf, daß sie Deine Stimme hören und nach Dir fragen lernen, und es besser werde mit uns und unsern Brüdern. Dein Reich komme! Herr, sei mit unsern Missionaren unter Israel und den Völkern der Heiden, daß ihr Wirken nicht vergeblich und der Schweiß ihrer Arbeit nicht verschwendet werde. Dein Reich komme! Komm bald, Herr Jesu, mit Deinem herrlichen Reiche vom Himmel, und wenn Du erscheinst in Deiner Herrlichkeit und die Deinen um Dich sammelst von aller Welt Ende, dann laß auch uns unter der Zahl der Deinen nicht fehlen, dann sprich zu uns das Wort des Erbarmens: „Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt.“ Amen.

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