Krummacher, Friedrich Wilhelm - Singet dem Herrn ein neues Lied!

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Singet dem Herrn ein neues Lied!

Missionspredigt gehalten in der Friedenskirche zu Sans-Souci am Jahresfeste des Potsdamer Missions-Vereins für China den 18. November 1851.

Ich, der Herr, das ist mein Name; und will meine Ehre keinem Andern geben, noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, das Vorige ist gekommen, und ich verkündige Neues; ehe denn es aufgeht, lasse ich’s euch hören. Singet dem Herrn ein neues Lied, seinen Ruhm an der Welt Ende; die ihr im Meere fahrt, und was darinnen ist; ihr Inseln, und die darin wohnen. Laut rufe die Wüste, und ihre Städte, sammt den Dörfern, da Kedar wohnet. Es jauchzen, die in den Felsen wohnen, und sollen rufen von den Höhen der Berge. Lasset sie dem Herrn die Ehre geben, und seinen Ruhm in den Inseln verkündigen. Der Herr wird ausziehen wie ein Riese, er wird den Eifer aufwecken wie ein Kriegsmann; er wird jauchzen und tönen, er wird seinen Feinden obliegen.
Jesajas 42,8-13.

Mit fröhlichem Schalle, wie ihr höret, begrüßen wir euch, geliebte Festgenossen, zu eurer Jahresfeier. Wie könnten wir doch anders, zu denen es mit stärkerm Nachdruck, und im Blick auf Größeres noch, als damals zu unserm alten Seher, heißen darf: “Siehe, das Vorige (d.i. das früher Geweissagte,) ist gekommen!“ – Längst kam Er, den Jesajas mit sehnsuchtwallendem Herzen nur aus weiter Ferne grüßte; und wie viel näher, nachdem dreitausend Jahre fast dahin geschwunden, sehen wir uns demjenigen gerückt, was von der späteren Zukunft des Königreichs Immanuels in duftigen Bildern an dem entzückten Geiste unsres Propheten vorüberging! Wir erblicken’s schon nicht mehr als eine zarte Luftspiegelung nur, und als ein verschwebendes Gesicht, wie er; sondern sehen’s bereits in frischen und lebenskräftigen Uebergängen zur Verwirklichung begriffen. Dergleichen muß uns ja wohl guten Muthes machen, wenn anders auch wir in unserm Sinne mit Amasai und seinen dreißig Rittern sprechen: „Dein sind wir, David; und mit dir halten wir’s, Sohn Isai!“ –

“Singet dem Herrn ein neues Lied!“ Ja, Freunde, diese Aufforderung nehmen wir heute von des Propheten Lippe, und richten sie an euch. Entgegnet ihr uns, zu einem neuen Liederklange gehöre ein neuer Liederstoff, so bitten wir euch vorab, daß ihr nicht denken wollet, wir kämen zu euch, wie einst zu den trauernden Juden an Babels Wassern die Chaldäer mit ihrem: „Singet uns eins von Zions Liedern!“ – Fordert doch auch der Seher Gottes in unserm Texte nicht eher zu dem “neuen Liede“ auf, als bis der Herr zu ihm gesprochen: “Siehe, Ich verkündige Neues!“ – Fragt ihr aber, auf was Neues wir denn euch hinzuweisen hätten, als auf einen Anlaß für euch, zu neuen Akkorden euer Saitenspiel zu stimmen; so wisset: Es ist 1) ein neuer Kreuzzug, den der König aller Könige ausgeschrieben; 2) ein neuer Sieg, den Er in der Gemüthswelt seiner Freunde davon getragen; 3) eine neue Ehre, die Er unsrer deutschen Kirche zugedacht; 4) ein neues Leben, das Er alter Liebe eingehaucht; und 5) eine neue Reichsaussicht, die Er seinen Freunden eröffnet hat.

Also ein fünffaches Neue. Laßt uns ihm näher treten; und ich denke, das “neue Lied“ steigt, ehe wir es uns versehen, von selbst aus unsrer Brust empor.

1.

Der Herr heißt in unserm Text ein “Kriegsmann“. Er trägt diesen Namen mit der That. Er wird nicht ruhen, bis ihm alle seine Feinde zum Schemel seiner Füße liegen. Wie Er, was wider Ihn und Seine heilige Ordnung sich erhebt, zerschmettern und zu Schimpf und Schanden machen kann, davon hat er vor unsern Augen schon manche Probe uns gegeben. Ist Er aber ein Kriegsmann, wen befremdet’s, daß wir von einem “Kreuzzug“ reden, den Er ausgeschrieben. Freilich meinen wir einen friedlichen, in welchem zwar auch Oriflamme und Bundeszeichen das Kreuz; aber nur Sein Wort das Schwert, der Glaube das Schild, die Wahrheit der Gurt, die Gerechtigkeit der Panzer; und nicht Tödtung und Verwüstung, sondern Eroberung für ein Reich des Friedens des Streitens Ziel ist. O, wenn nur dieser unser Josua auf dem Plane sich erblicken läßt, und wir nur Seine Fahnen und Colonnen sich fort bewegen sehen, daß wir sagen können: Seht, da ist Er, und gedenket wohl noch an sein Wort: „Vom Aufgang der Sonne bis zum Niedergang will ich meinen Namen herrlich machen“: - o, dann frohlockt unsre Seele. – Aber wenn die Klage der Kinder Korah ertönen muß: „Warum verbirgest Du so dein Antlitz?“ – oder gar die Jeremiasklage: „Du Hoffnung Israels und sein Nothhelfer, warum stellest du dich als ein Held, der verzagt ist, und als ein Riese der nicht helfen kann?“ – dann geschieht seinen Freunden, als lege sich die Welt über sie her, und drücke ihnen Luft und Athem ab, oder als harreten sie, in stockfinstere Nacht gebannt, des Aufgangs der Sonne, die ihren Tag macht; aber sie bliebe aus, und schiene gar erloschen. Ich sage nicht, daß wir kürzlich eine solche Zeit erlebten. Immer hörten wir durch alles Getümmel der Gottlosigkeit und durch das Triumphgeschrei des Teufels und seiner Rotten hindurch, noch Seine Füße rauschen; und wenn auch minder vernehmbar in nächster Nähe, so doch schon lauter in manchen Gebieten der großen Heidenwüste: an der Westküste und im Süden Afrikas, auf den Eilanden der Südsee, ja selbst in Hindostan, - und wo sonst noch. Aber fast schien es, als hätte Er sich hier auch die Grenzen seiner Eroberungen gesteckt, und als träte sein persönliches Wirken immer mehr hinter menschliches Vornehmen und Thun, Bilden und Gestalten zurück. Es regte sich in Seiner Gemeinde ein lebhaftes und wachsendes Verlangen nach dem Anblick eines neuen Fortschritts in Seinem Welteroberungswerk, nach der Enthüllung neuer göttlicher Operationspläne, und nach einer Erweiterung des Gesichtskreises für das Auge der Hoffnung; und siehe, diesem Sehnen ist seit Kurzem herrlich entsprochen worden.

Fern, „an den Enden der Erde“, im Südosten Asiens, lag abgeschlossen gegen alles andere Festland theils durch die brandenden Wogen des mächtigsten aller Oceane, theils durch himmelhohe Gebirgs- und Felsenrücken, theils, - der bekannten Riesenmauer nicht zu gedenken, - durch unermeßliche und unwegsame Wüstenflächen, eine Welt für sich, in viel tausendjährige Nacht vergraben, das “Reich der Mitte“, aller Erden-Reiche größtes: das alte China, mit seinen unterjochten und tributairen Nebenreichen. Ein ungeheurer Zwinger, um die Hälfte größer, als Europa, in welchem Sünde, Tod und Teufel frei ihr Wesen trieben, und seit undenklichen Zeiten über fast vier Millionen sterblicher Seelen die unumschränkte Herrschaft führen, lag es, und liegt es freilich noch dahin, und schien nicht allein der Macht der ganzen Menschheit, sondern auch Gott dem Herrn selber Trotz zu bieten. Die Missionshoffnung senkte traurig und verzagt an der Schwelle dieses Reiches ihre Flügel. Angesichts dieses ungeheuern Todtenfeldes hatte auf die Frage: „Du Menschenkind, meinest du auch, daß diese Gebeine wieder lebendig werden?“ Niemand eine andre Antwort als ein, wenn auch nur still gedachtes “Nein“. Mit stummer Resignation ließ man’s zur Seite liegen, wenn man die Meßschnur des künftigen Christusreiches über die Erde zog; denn der Herr selbst, so schien es, hatte in seinen Reichsplan es nicht mit verzeichnet. Manchem zwar, der der Sache tiefer nachsann, wollte es undenkbar erscheinen, daß, wenn von Heiden und Heidenbekehrung die Rede sei, der Südosten von Asien unbeachtet bleiben könne, in welchem ja, China und Ostindien als eins gedacht, ungefähr die volle Zahl der noch auf Erden befindlichen Götzendiener zusammenwohne, da die hin und her zerstreuten Negerstämme in den äußerst schwach bevölkerten Wildnissen Afrikas kaum dagegen eine Berücksichtigung verdienten, und was noch von den Indianern Amerikas, so wie an heidnischen Bewohnern der Südseeinseln übrig sei, hinsterbenden Völkern angehöre. Mancher, sage ich, dachte so; aber eine lebendige Hoffnung wollte nirgends Wurzel schlagen. – Da mit einem Male streckte der allmächtige Gott sichtbarlich seinen Arm aus den Wolken, und – China, deine Millionen waren es, auf die er als ein neu in Angriff zu nehmendes Arbeitsfeld hinüberdeutete. Nicht allein in dem unerwarteten Umstande, daß plötzlich, in Folge eines Krieges, nach vieltausendjährigem Verschlusse die alten Pforten des ungeheuern Reichs sich öffneten und durch das apostolische Brudervolk in England eine Verbindung mit jenem weitentlegenen Erdtheil vermittelt wurde, wie man sie nie zu hoffen sich erkühnte; nicht auch in dem Hinzutreten der überraschenden Thatsache nur, daß der Alles vermögende Kaiser seines sogenannten „himmlischen Reiches“, ehe man sich’s versah, zu dem unerhörten Schritte sich bequemte, die allgemeine Religionsfreiheit in seinem Riesenstaate zu proklamiren und dadurch der geistlichen Heeresmacht, die seit Jahren von treuen Männern in lautloser Stille, mit fast beispielloser Ausdauer, in Wort und Schrift, wie in lebendigen Persönlichkeiten, an den Grenzen zugerüstet worden war, das Signal zum Aufbruche und zum Vorwärtsrücken zu ertheilen; sondern insonderheit auch darin, daß der Herr den entschlossensten seiner Boten, der bahnbrechend zuerst durch die kaum geöffneten Schranken die Fahne des Evangeliums in das Innere des Landes hineintrug, und der, wie Wenige, die wahnumnachteten Kinder des Confucius, des Buddha und des Dalai Lama auf liebendem und fürbittendem Herzen trug, mit dem Rufe: „Kommt, und helfet China!“ über die großen Wasser hin durch alle Länder und Gauen des evangelischen Europas entsandte: - in diesem Allem schrieb es „der erhabene Kriegsmann“, der zur Rechten der Majestät sitzet in der Höhe, mit großen, weithin leuchtenden Lettern an die Säulen der Welt, daß die Rettungsstunde Chinas geschlagen habe, und wer bezweifelt’s noch, daß sie schlug, nachdem er mit einem Male nicht allein, wie durch ein Wunder, die Aufmerksamkeit der ganzen Christenheit auf China gerichtet, sondern auch für das bis dahin unbeachtete Volk in wachsendem Maße ein Feuer der Liebe entbrennen sieht, wie es so mächtig und frisch schon lange nicht mehr in der Missionsgemeinde gelodert hat? Ja, “Brachet ein Neues!“ ruft der Herr abermals, wie einst durch des Propheten Jeremias Mund. Einen neuen Friedens-Kreuzzug schrieb er aus, der himmlische Kriegsmann. Und dies, Brüder, ist das erste Neue, welches ein neues Lied der Freude und des Frohlockens von uns fordert.

2.

Unzweideutig war des Herrn Weisung; aber nicht so entschieden von vorneherein die Willigkeit seiner Freunde, ihr nachzukommen. Jona tauchte wieder auf, der Sohn Amithai, zu welchem das Wort des Herrn geschah: „Mache dich auf in die große Stadt Ninive, und predige ihr!“ Jona aber schüttelte den Kopf, that, als hörete er nicht, und machte Anstalt, dem Herrn bei Nacht und Nebel zu entspringen. Ebenso tausende unsrer Brüder. Es ist aber der Leviathan leichter zu bezwingen, als des menschlichen Herzens Trotz. Wer indeß widerstehet dem Geist des Herrn? Er hat einen herrlichen Sieg in der Gemüthswelt seiner Freunde davongetragen; und seien Siegen gehet fort von Tag zu Tage.

Man wollte nicht nach China; überall hin, nur nach China nicht. Was war der Grund? – Zuerst schreckte die Größe des unermeßlichen Gebiets. „Herr Gott“, dachte man, „dreihundert Millionen und noch mehr; und der Bettel unsrer Kräfte, unsrer Mittel!“ – Aber der Herr neigte sich langmüthig zu den Verzagten hernieder und beschwichtigte sie, vorab durch die einfache Frage, wo Er denn, vorausgesetzt, daß er wirklich der “Erbherr“ der Heiden sei, sein Erbtheil finden solle, wenn nicht in China? – sodann durch Erinnerung an den Funken Jakobi, der einen Wald anzündet, und an sein eignes Körnlein Sauerteigs, das allmälig den ganzen Teig durchsäuert; und endlich durch Hinwirkung auf den Mann von Tarsen, der, trotz des Pfahls in seinem Fleische, und des Satansengels, der ihn mit Fäusten schlug, mit einem „thörichten Wort“ die ganze alte Welt sammt all ihrer Götter- und Menschenherrlichkeit aus Fugen und Angeln hub, und als willkommene Beute Ihm zu Füßen legte. Solches führte er ihnen vor; und wie haben sie beschämt ihr Haupt gesenkt und sind verstummt! – Es schreckte zum andern der entsetzliche Irrwahn, in welchem China erstarrt und versteinert sei. Man sagte: „Der Rost von Jahrtausenden haftet wie an dem ganzen Sein und Leben, so an dem Aberglauben dieses Volks.“ – „Nie“, sagte man, „ist in dieser verknöcherten Masse auch nur eine Spur von geistiger Bewegung wahrgenommen worden; und diese Mumie, diese Salzsäule, ja, dieser Petrefakt soll noch lebendig werden?“ – Aber der Herr neigte wieder freundlich seinen Mund zu ihrem Ohr und sprach: „Was, Freunde, soll mein China denn? Zu ewiger Erstorbenheit verurtheilt sein? Wo bliebe dann das Wort: Gott will, daß allen Menschen geholfen werde? Und wo meines Vaters Testament: Heische von mir, so will ich dir die Heiden zum Erbe geben, und der Welt Ende zum Eigenthum? – Und wo meine eigne Versicherung: Wenn ich werde erhöhet sein, so will ich sie Alle zu mir ziehen?“ – So flüsterte er in unendlicher Gelindigkeit den Ungestümen zu; und was blieb denselben übrig, als wieder schamroth den Blick zu senken, und ihre Einsprüche demüthiglich zu widerrufen? – Was drittens abstieß, war die ganze Volksthümlichkeit der chinesischen Nation; und wahr ist’s, des Anziehenden für den natürlichen Sinn bietet die Nationalität der Chinesen wenig. Wären sie noch ein heroisches Volk, wie selbst die Kaffern, oder ein gemüthvolles und sinniges, wie manche Indianerstämme Amerika’s und die Bewohner einiger Südseeinseln, oder ein poetisches, wie die Araber und Perser, oder ein hintergründiges, ahnungsreiches und theosophisch gerichtetes, wie die Hindu’s! Aber von dem Allem sind sie nichts. Ihr Gemüthsboden ist ein plattgetretenes Land, auf welchem nur die Kobolde der niedrigsten Habsucht und des schmutzigsten Geizes hausen. Und nun die Art ihrer Bildung, diese ungeheuerliche Vereinigung der zuspitztesten Verstandeskultur mit der alleräußersten Verkommenheit nach der sittlichen und religiösen Seite hin, und diese, so nirgends wieder vorkommende Verschmelzung des vollendetsten atheistischen Unglaubens und des rohesten Materialismus mit der auschweifendsten Bigotterie in den sinnlosesten und abgeschmacktesten Cultusceremonien! Was kann es Anekelnderes geben, als Dies? „Nein“, riefen unsre Freunde, „lieber zu den Buschmännern und Irokesen, als nach China!“ Doch der Herr half auch über diesen Berg hinweg. „Warum nach China nicht?“ sprach er in ihr Gewissen hinein, und trat ihnen dann mit der Frage nah, ob die Mission denn als Geschmackssache zu behandeln sei, und mit der andern, was aus ihnen geworden sein möchte, wenn Gott nach Maaßgabe persönlicher Liebenswürdigkeit seine Gnaden spende, und mit der dritten, ob nicht, je geistig verkrüppelter ein Volk sei, es um so mehr zum Leuchter tauge, auf welchem der Herr die Glorie seiner freien Erbarmung, und seiner wiedergebärenden und umbildenden Geistesmacht entfalten könne. Und siehe, auch dieses Hinderniß ihrer Betheiligung an der Rettung China’s war überwunden. Sie schlugen das Auge nieder, und sprachen: „Du redest recht, Herr; wir aber müssen uns schämen.“ Nun kamen sie zwar noch mit dem Bedenken, wie bei einem so verlogenen Volke, wie das chinesische sei, jemals die Himmelstochter Wahrheit Herberge finden solle; aber der Herr entkräftete auch diesen Vorwand, und zwar durch Hinweisung auf sein Wort bei Sacharja: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehn. Wer bist du denn, du hoher Berg, der du doch vor Serubabel eine Ebene sein wirst? Man wird aufführen den Grundstein, daß man laut rufen wird: Glück zu, Glück zu!“ – Zuletzt wollte die Abneigung gegen die China-Mission auch noch an dem sich nähren, was man von Mißgriffen hatte läuten hören, die Gützlaff in der Wahl seiner Nationalprediger sich habe zu Schulden kommen lassen; aber wie wundersam hat sich durch des Herrn Führung auch dieser die Liebe dämpfende Scrupel lösen müssen! Es ist freilich der widerhaarige Jona – (wir warnen ihn mit dem Schicksal seines alttestamentlichen Urbilds!) – noch nicht überall vom Schauplatz abgetreten; vielmehr kehrt er noch in manchem unsrer Brüder – (möge er nicht mit ähnlichen Mitteln, wie der Sohn Amithai’s, zum Gehorsam genöthigt werden müssen!) – uns und unsrer Sache kopfschüttelnd den Rücken. Aber in den allermeisten hat er bereits sich vor dem Herrn überwunden erklärt und ergeben. Unzähligen schlägt jetzt das Herz für China, für das sie vor Kurzem noch so gar nichts fühlten. Dieser neue Sieg aber, welchen der Herr in seinen Freunden über ihr widerspenstiges Ich davongetragen, ist das zweite Neue, dem unsrerseits ein neues Lied gebührt; und wie, daß wir es schuldig bleiben könnten, das Lied der Bewundrung und des Preises?!

3.

Brüder, unserm Vaterlande ist eine neue Ehre zugedacht; freilich sehr, sehr unverdientermaßen; aber Gott ist groß und frei in seiner Gnade. Denkt, mehr und mehr tritt es zu Tage, daß die Evangelisation China’s vorzugsweise eine deutsche Sache sein soll. Die Engländer haben durch den unglückseligen Opiumkrieg das unbedingte Vertrauen der Chinesen eingebüßt; die Deutschen sind bei diesem Handel unbetheiligt und völlig vorwurfsfrei. Die Engländer sind zu gewohnt, mit dem Bewußtsein der Herren daherzutreten; ein Bewußtsein, zu welchem wir Deutsche schon überhaupt nicht neigen, und wozu für uns in diesem Falle vollends ein Grund nicht vorliegt. Die Engländer vermögen schwer, wie in Anspruch, so in Sitte, ihre Nationalität zu verleugnen; wir Deutsche, fast zu geschmeidig und fügsam fremden Nationalitäten gegenüber, können viel leichter Allen Alles, und wenn es sein muß, wie unser seliger Bruder, unter Chinesen auch Chinese werden. Die Engländer sind in gar zu viele Religionsgesellschaften und Sekten gespalten und zerklüftet und der Chinese fordert die Majestät der Einheit; in der deutschen Missionsthätigkeit aber wird sich, wie man auch Sturm dawiderläuft, die wahre Union auf dem Gebiete der kirchlichen Bekenntnisse nicht mehr verkümmern, noch verwischen lassen. Ein Deutscher war von Gott ersehn, in der Mission China’s die Bahn zu brechen. Ein Deutscher, derselbe, gab den Chinesen Gottes Wort verständlich in ihrer Muttersprache. Sein Fahnenruf zu China’s Rettung fand nirgends so mächtigen Anklang, wie auf deutscher Erde; und auf Deutschland kam, nach Gottes unzweideutig kundgewordenem Willen, nachdem der treue Streiter abberufen war, sein Evangelisten-Nachlaß. – Auf Berlin, - ja groß ist Gott, und langmüthig, und unermeßlich frei in seinen Gnadenspenden! – ich sage, auf den Missionsverein zu Berlin ging das Erbe über. Unser sind seine Bibeltypen; unser seine vierzig Nationalgehülfen, (der von uns entsandte Bote pflegt und leitet sie,) - unser seine werdenden Gemeinlein da und dort. Berlin war es, von wannen einst durch unseres wahrhaft hochseligen und unvergeßlichen Königs Majestät Gnade der Apostel der Chinesen, Gützlaff, ausging; und auf Berlin legt, gleichsam zu gnädiger Vergeltung, der Herr des Heimgerufenen Hirtenstab. Ja, wir überkamen ihn nach göttlicher Testaments-Bestimmung; freilich nicht für uns, sondern für das deutsche Zion, das aber schon uns zuzurufen anhebt: „Euch Berlinern gebührt der Vortritt!“ – Welche Ehre! Mit niederbeugendem Gewichte lastet sie auf uns. Aber wie unwerth immer, wir sind ihrer in der That gewürdigt. Und diese Ehre ist das dritte Neue, von dem wir heute euch zu sagen haben. Ein neues Lied gebeugten Lobes schwinge sich aus unsrer Brust empor gen Himmel!

4.

Brüder, eine wehmuthreiche Scene entschleire ich jetzt vor euren Blicken. In eine Sterbekammer führe ich euch; ihr errathet schon, in welche. Da liegt er, der Streiter Gottes. Sein Lauf ist vollendet. Dichter und dichter seh’ ich’s um sein Bette sich schaaren. Sind sie im Leibe nicht da, die Hunderte, so doch im Geiste. Es fließen viele Thränen; nur er schauet heiter. „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt!“ – „Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein!“ – „Herr Jesu, nimm meinen Geist auf!“ – so lauten die letzten Worte, die von seiner erblassenden Lippe tönen. Triumphirend schwingt er sich in das himmlische Jerusalem hinüber. Und siehe, unter den Umstehenden gewahre ich im Geiste auch der Brüder viele, welche unsrer Gemeinschaft halber mit dem nun Vollendeten und um unsres Anschlusses willen an sein Werk sich uns entfremden wollten; sie, die uns beschuldigten, wir gingen eigne Wege, ja, den Vorwurf auf uns luden, daß wir die Einheit der Missionsbestrebungen störten, und überhaupt einem thörichten Unternehmen uns unterzogen hätten. Jetzt reichen sie uns über der Leiche des entschlafenen Gotteskämpfers die Bruderhand, und sprechen mit uns wie aus einem Munde: „Ja, er ist ein apostolischer Mann gewesen;“ und gestehen zu: „Der Herr hat ihn mächtiglich beglaubigt, und auf seinem Sterbelager ein strahlend Siegel seiner göttlichen Kindschaft ihm aufgedrückt; - „ und räumen ein, daß, wenn er auch manchen Täuschungen unterworfen gewesen sei, er selbst doch nimmer habe täuschen wollen; und bekennen, daß sie in mancher Beziehung sich selbst geirrt, und vielfach allerdings zu rasch geurtheilt; und rufen uns zu: „Sind es einstweilen auch andre Missionsplätze, die wir ausschließlich zu pflegen haben, führt ihr nur China’s Sache fort: denn, sie ist des Herrn Sache!“ Sie rufen’s und verheißen uns, daß sie für China mit uns beten, und, so weit es in ihren Kräften stehe, auch mit uns wirken wollen. Und ein Versöhnungsfest – o gebe Gott, daß ich richtig sehe! – bahnt sich an bei Gützlaff’s Bahre. Es wirft kein Bruder uns mehr vor, wir vergeudeten unbedachtsam unsre Bestrebungen und Mittel an eine zweideutige Sache. Ja, durch Gützlaff’s Tod knüpfte der Herr gelockerte Bande wieder fest, und hauchte alter Liebe neues Leben ein. Seht hier ein viertes Neue. O Brüder, ein neues Lied wehmüthiger Freude drum auch dem Herrn!

5.

Aber sollte die Hoffnung für Chinas Bekehrung wirklich mehr sein, als ein süßer Traum? – Der Herr schelte dich, der du also fragest; denn du zweifelst, ob Christus zur Rechten Gottes sitze, und der Vater sein Wort ihm halten werde, nach welchem er alle Völker der Erde unter seinen Hirtenstab vereinigen soll. Doch das Glauben ist nicht jedermanns Ding. Schaubares findet leichter Eingang. Gott aber sei gedankt, daß eure Frage auch nach Solchem uns nicht verlegen macht. Seht zuerst, wie zur geistlichen Eroberung Chinas im Namen des Herrn die Brücken schon geschlagen, die Sturmleitern angelegt sind. Gottes Wort ist bereits vollständig und verständlich in die Sprache des Riesenreiches übertragen. Neben ihm durchkreuzen Tausende von Traktaten das Land, wider deren gegen die Nichtigkeit des Götzendienstes gerichteten Stachel ein Ausschlagen kaum mehr möglich sein wird. Zugänglich sind diese Schriften Jedem, denn die Schriftsprache ist durch ganz China nur eine, und auf’s Lesen und Schreiben versteht sich fast jeder Chinese. Mit den Schriften ziehn durch alle Provinzen schon, wenn auch nur wie vereinzelte Stimmen in der Wüste erst, bekehrte Nationalprediger mit der Botschaft vom Kreuze; und nachdem die Riegel der eisernen Landespforte gefallen sind, scheinen mehr und mehr auch diejenigen der Herzensthüren vor diesem Wort zu weichen. Das lächerliche Selbstvertrauen der Nation hat, nachdem sich die Uebermacht der sogenannten „englischen Barbarei“ ihr fühlbar machte, einen gewaltigen Stoß erhalten. Eine große geistige Aufregung geht durch’s Land. Der Zweifel an der Wahrheit der von den Vätern überkommenen Religion gewinnt immer weitern Spielraum. Ganze Volksschichten schon nennen es albern, daß man in die götzendienerischen Gebräuche, welche sie freilich noch in mechanischer Gewohnheit äußerlich mitzumachen pflegen, irgend ein Gefühl, eine Andacht, eine Emphase lege. Unter dieser religiösen Gleichgültigkeit aber macht sich tausendfältig ein lebhaftes Bedürfniß nach Besserm und Gegründeterm geltend, dem hier wenigstens nicht, wie in Ostindien, ein starrer Kastengeist den Weg versperrt. – Die Bekehrungsfähigkeit des chinesischen Volkes steht außer Frage. Es beweisen sie, nebst mehreren bereits lieblich knospenden Gemeinlein, auch unsre Evangelisten, die mehr und mehr als ächte Jünger des Herrn und als brauchbare Leute bei der Ausbreitung Seines Reiches sich bewähren werden. Und mit wachsender Zuversicht glauben wir sogar, daß die Kirche Christi in den Chinesen zu einer selbstständigen Entfaltung gelangen, und zu einer eigenthümlichen Gestalt sich herausbilden werde. Das Evangelium ist das Saatkorn neuer Schöpfungen; doch vernichtet es die Grundsubstanz des Menschen nicht, den es erfaßt, sondern heiligt sie. Es taucht die nationalen Eigenthümlichkeiten der einzelnen Völkerschaften in den Quell göttlicher Verklärung, aus welchem die ursprünglichen Charakterzüge unversehrt, nur wiedergeboren, wieder zum Vorschein kommen. Der zu theosophischer Beschaulichkeit neigende Brahmine wird so zum Schauer Gottes; der fröhliche Südsee-Insulaner singt dem Herrn liebliche Kirchenlieder; der bedächtige Hottentotte macht sich seinen Katechismus, und lebt in dessen Artikeln nüchtern und gelassen, u.s.w. – Gewiß bildet der Heilige Geist auch aus dem Chinesen etwas Eigenthümliches heraus; denn einen Stoff für seine schöpferischen Bildungen findet er auch hier. Die Chinesen sind kein ausgelebtes Volk, wie sehr es so auch scheinen mag. Sie tragen noch einen reichen Schatz von Geistes-Energie in sich, die nur der Weckung und Heiligung bedarf. Als Beläge hiefür dienen ihre Gelehrten, und namentlich die unter ihnen bereits zum Glauben an Christum geführten, die jetzt entweder dem Herrn feurige Oden singen, oder in wissenschaftlichen Werken die Wahrheit des Christenthums verfechten, und nicht selten, wenn sie zu uns reden, uns vergessen machen, daß wir’s mit Chinesen, und nicht mit religiös, ja theologisch gebildeten Bewohnern unseres civilisirten Welttheils zu thun haben.

Ihr seht, Geliebte, Anhaltepunkte genug für unsre Hoffnung zu Chinas einstiger Bekehrung. Und wenn sie uns in der Erscheinung auch noch nicht so reichlich und handgreiflich entgegenträten; so kennen wir doch Den, der in unserm Texte zu uns spricht: “Ich, der Herr, das ist mein Name; und Ich will meine Ehre keinem Andern geben, noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, das Vorige ist gekommen, und Ich verkündige Neues. singet dem Herrn ein neues Lied; Seinen Ruhm an der Welt Ende!“ - - Ja, eine neue Reichs-Perspektive, und zwar der großartigsten Natur, hat sich vor uns aufgethan: die Evangelisation Chinas. Wird China bekehrt, dann kann es nicht mehr fehlen, daß auch das benachbarte Ostindien, welches schon lange, auf uralte Ueberlieferungen gestützt, des “Reiters auf dem weißen Rosse“ harrt, mit seinen zweihundert Millionen in die Strömung des göttlichen Lebens mit hineingerissen wird. Nicht weniger werden dann die mächtigen Inselgruppen des indischen Oceans Licht werden im Glanze der in ihrer Nähe aufgegangenen Ostersonne; und wie, daß alsdann nicht auch allmälig der Halbmond des falschen Propheten sollte erbleichen müssen? – Ja, es wird die Bekehrung Chinas nichts Geringeres, als das nahe Ende aller heidnischen Finsterniß auf Erden signalisiren. – Denkt, welche Aussicht dies! Und sie ist das fünfte und letzte Neue, das wir euch für diesmal zu entschleiern haben. Und wahrlich, sie verlangt von uns ein neues Lied, ein Lied der Hoffnung, ein Jubellied im höhern Chor!

O, so stimmt dies Lied denn fröhlich mit uns an, ihr theuern Freunde, und nehmt auch ihr zu unsrer geistlichen Chinafahrt das Kreuz, der Ordenszeichen allerschönstes, an eure Brust. “Der Herr“, ruft uns der Prophet ermuthigend zu, “zieht euch voran, wie ein Riese; Er wird den Eifer erwecken wie ein Kriegsmann.“ Was wollen wir mehr? – Erwecke Er denn einen heiligen Eifer der Liebe zu unsern Brüdern in den Todesschatten auch in uns; würdige Er uns der hohen Ehre, auf seinem friedlichen Eroberungszuge als Schild- und Waffenträger Ihm zur Seite geh’n zu dürfen, und schaffe in Gnaden, daß wir einst nicht bestürzt und zitternd zurück treten müssen, sondern freudigen Muths und guten Gewissens mit einstimmen können, wenn der große, nimmer endende Schlußgesang ertönen wird: “Nun sind die Reiche dieser Welt unsres Gottes und Seines Christus worden!“ – Amen.

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