Lobstein, Friedrich - Das Wirken der Gnade an den Seelen - X. Trotz und Einfalt.
Markus 10,15.
15. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt als ein Kindlein, der wird nicht hinein kommen.
In diesem Wort des Herrn findet sich etwas für die Kleinen, und etwas das die Großen angeht. Jesus Christus lässt die Kindlein zu sich kommen: dies zeigt uns, dass schon in den kleinen Kindern sich die Fähigkeit vorfindet, den Heiland aufzunehmen. Man hat das Gnadenwerk in mehr denn einem Kindlein sich offenbaren sehen, noch ehe dasselbe einen regelmäßigen Unterricht genossen hatte. Wir führen hier nur das Kind des Grafen Zinzendorf an, das, noch ganz klein, alle Merkmale einer wahren Bekehrung befundete, ehe es von der Welt genommen ward. Es besteht eine große Verwandtschaft zwischen Jesu Christo und einem kleinen Kind, und mit Recht heißt es von dem Herrn, dass er aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge sich Lob zugerichtet. (Matth. 21.) Auch stellt uns der Herr kleine Kinder als Muster vor, und sagt uns aufs feierlichste: Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt als ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen. Damit behauptet der Herr nicht, dass die Kindlein unschuldige Wesen oder kleine Engel seien, wie man sie in der Welt zu nennen beliebt. Der Keim der Sünde ist schon in dem neugeborenen Kind; lass es heranwachsen und bald wird es alle Arten von verkehrten Anlagen verraten, welche nicht von der Erziehung, noch vom Beispiel, sondern allein von der gefallenen Natur herkommen. Tröstlich ist es, dass der Heiland auch das Kindheitsalter durchlebt hat und so auch über diesen Teil unseres Lebens eine Verklärung gebracht hat. Wenn der Herr uns ein Kind vorstellt, so geschieht es, um uns zur Einfalt zu ermahnen, die gewöhnlich beim Kind zu finden ist.
Ein kleines Kind hat noch keine vorherrschende Richtung genommen; es ist offen, einfach; später wird es anders. Je mehr man zunimmt an Jahren, desto mehr verbirgt sich das aufrichtige Wesen unter äußerlichen Formen. Man zeigt sich nicht wie man ist; man nimmt eine gewisse Art an; ich frage dich, möchtest du, dass Jedermann wüsste, was deine Gesichtszüge zu verdecken wissen? Es gibt ein gewisses Benehmen, das nicht gerade Lüge ist, ohne Wahrheit zu sein, und das wir näher betrachten wollen. Wir können es Schroffheit oder im allgemeinsten Sinn Trotz nennen. Er hat einen gewissen Schein von Wahrheit, und greift in unser inneres Wesen und äußern Beziehungen weit tiefer ein, als wir es nur denken. Er erstreckt sich auch auf unser religiöses Leben, so dass wir von einem natürlichen und von einem geistlichen Trotz werden zu sprechen haben; in der Bibel findet sich manches Beispiel des letzteren vor. Haben wir den Trotz in seiner Wurzel und in seinen Äußerungen erkannt, so werden wir das Kindlein uns vergegenwärtigen, und die Worte des Herrn: Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt als ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen. Weil in dieser Stelle die Rede von der Einfalt ist, welche den Trotz ersehen soll, so werden wir die wahre Einfalt untersuchen. Wir werden sehen, dass es eine natürliche Einfalt gibt und eine vom heiligen Geist bewirkte; nicht der ersten, wohl aber der zweiten verheißt der Herr den Eingang ins Himmelreich.
Fragen wir uns nun, was in seinem Ursprung der Trotz ist. Er ist eine Widerspenstigkeit, die aus einem verborgenen Ekel, Abscheu stammt, den man wohl nicht zeigen mag, oder sogar nicht kennt. Oft sogar hat er einen Grund von Hass, der das abgefallene Herz, seinen Widerwillen, seine Unbeugsamkeit und sein Misstrauen leicht dahin steigert. Ja, überließe uns Gott uns selbst, so würden wir bald, der natürlichen Neigung folgend, in offenem Krieg und Totschlag unter einander uns befinden.
Freilich gibt es eine Menge Schattierungen in unserm Trotz, der gar vielerlei Gewänder anziehen kann. Sprechen wir von einigen scheinbar unbedeutenden Äußerungen desselben.
Er hüllt sich in gewisse steife Formen, die man unter dem Namen der Etiketten begreift. Die Konvenienzen1), die Gesetze der Höflichkeit nehmen den Menschen in Knechtschaft; die Lüge und der Schein werden so früh wie möglich in der Haltung, Bewegung, im ganzen äußern Benehmen einstudiert; in dieser kultivierten, fashionabeln2) Welt kann man wohl sagen: Alle Menschen sind Lügner; sie suchen durch Dressur die Anmut zu ersetzen, welche aus der Gnade Jesu Christi fließt.
Andere verbergen ihren Trotz weniger in steife Formen. Sie haben im Gegenteil etwas Schroffes in ihrer Sprache, einen trockenen Ton, etwas Absprechendes, wodurch sie sich ein Ansehen geben möchten. Der wahre Ernst fehlt ihnen, denn sie fühlen weder die Wichtigkeit des Lebens, noch das Gewicht der göttlichen Dinge; sie fühlen bloß die Wichtigkeit ihrer eigenen Person. Dieses Gefühl möchten sie von Andern geteilt sehen, und daher ihr feierlich Einherschreiten und ihre hochtrabende Sprache.
Auch in die Ansichten steckt sich gern der Trotz. Du begegnest solchen hartnäckigen Menschen, die, von ihrer eigenen Unfehlbarkeit angefüllt, nie einen Irrtum ihrerseits für möglich halten, und darum nie eine Belehrung annehmen. Versuche nicht, sie eines bessern zu überzeugen, sie haben immer recht, immer das letzte Wort und leiden keinen Widerspruch. Sie haben das Monopol der Wahrheit, die sie mit ihren persönlichen Ansichten verwechseln. Wie Ludwig der XIV. sprach: Der Staat, das bin ich, so meinen sie, die Wahrheit, das bin ich.
Der gleiche natürliche Trotz lässt sich in den Entschlüssen nachweisen. Es gibt Leute, welche wollen, weil sie eben wollen, ohne einen vernünftigen Grund. Wenn sie was beschlossen haben, so soll es geschehen, und wäre es selbst widersinnig; sie haben sich's in den Kopf gesetzt; ein Engel vom Himmel würde sie nicht davon abbringen. Das heißen sie dann noch Energie, Charakterstärke, Willenskraft.
Dieselbe Schroffheit tritt denn auch in dem Geschäftsverkehr hervor. Da ist man unerbittlich; gestützt auf den Buchstaben des Gesetzes gehen solche Leute rücksichtslos vorwärts; da gilt nicht mehr irgend eine Verwandtschaft, irgend ein Band; von Schonung und Billigkeit ist keine Rede.
Der natürliche Trotz ist auch wirksam in den Menschen, welche in ihrem Umgang mit Zurückhaltung immer warten, bis Andere den ersten Schritt zu ihrer Annäherung getan haben. Sie achten sich selbst zu sehr, um nicht immer Andern den Anfang zu überlassen. Sie umgeben sich feierlich mit einem Nimbus und lassen sich, Halbgöttern ähnlich, Weihrauch streuen. Man ziert diese Verkehrtheit mit dem schönen Namen der Charakterwürde.
Auf jede mögliche Weise äußert sich der verborgene Trotz des eigenen Wesens. Die steifen Worte und Briefe, das Berechnete und Diplomatische sogar zwischen Verwandten und Freunden hat Alles keine andere Quelle.
Dieselbe verkehrte Art zeigt sich auch auf geistlichem Gebiet. Auch in unserm Christentum will das Ich sein Recht haben. In der Bibel selbst finden wir einige Beispiele dieser Natur. Wie oft scheint man um die Ehre Gottes sich zu ereifern und man meint nur sich selbst! Wenn dort die Söhne Zebedäi das Feuer vom Himmel herabbringen möchten, da war es doch wohl ebenso sehr, weil sie in ihrem Ich durch jene Samariter sich beleidigt fühlten, als wegen ihres Herrn Ehre. Oder wenn die Jünger jenen Menschen, der, ohne zu ihnen zu gehören, die Teufel austrieb, verhindern wollen, war das nicht etwas von dem trotzigen, pfäffischen Geist? Was war denn wohl zwischen jenen zwei Frauen vorgefallen, an welche Paulus die Worte richtet: Ich bitte Evodia und Syntiche Eines Sinnes zu sein in unserm Herrn? (Phil. 4,2.)
Woher kommt die Empfindlichkeit, der Amtsneid, der Pfaffenstolz, die Versessenheit auf unwesentliche Punkte der Lehre, das Ultra-Luthertum, der Ultra-Calvinismus und alle die Spaltungen und Verschiedenheiten wegen Nebensätzen der Wahrheit? Aus dem trotzigen, schroffen, steifen Wesen, in das der Mensch seit dem Sündenfall mit seinem Ich verpflanzt ist und in dem er denkt, spricht, handelt, auch in seinem Christentum, und welchem gegenüber Jesus Christus die Worte erschallen lässt: Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt als ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen.
Einfalt tut uns not, viel Einfalt und die wahre Einfalt.
Es gibt eine natürliche und eine vom Geist Gottes gewirkte Einfalt. Die erste können wir unter einigen Formen nachweisen.
Es gibt eine Freiheit in den Bewegungen, ein Sich-gehen-lassen, wodurch ein Mensch sich's bequem macht im Verkehr mit Andern, ohne weiter auf die Meinung, die günstige oder ungünstige, der Leute besondere Rücksicht zu nehmen. Solche Einfalt geht oft bis zu einer Derbheit, die man vielleicht noch lieber in Schroffheit würde umschlagen sehen. Gewiss besteht keine besondere Beziehung zwischen solcher Einfalt und dem Himmelreich.
Die Einfalt, welche aus einer gewissen Stumpfheit des Geistes, Unempfindlichkeit des Gewissens kommt, ist nicht mehr wert. Es gibt Leute, die sich keinen rechten Begriff von den Dingen, und so auch nicht von der Wahrheit und dem wahren Leben machen können. Sie scheinen gutmütige, wohlmeinende Menschen zu sein, aber unter dieser Gutmütigkeit lauern viele Gefahren, und solche Menschen stehen auf glattem Boden und können Werkzeuge werden zum Bösen und leicht von einem Fall zum andern gehen.
Was sollen wir noch weiter sagen von jener gepriesenen Tugend der Einfalt, die man in dem Geschmack, den Gewohnheiten solcher Leute hervorhebt, die des vielen Überflüssigen, Unnötigen sich entschlagen und in Verhältnissen, die sogar Entbehrungen ihnen auferlegen, gleichen Muts und unangefochten sich bewegen? Werden wir darein den kindlichen Sinn verletzen, der zum Reich Gottes tüchtig macht?
Oder sollen wir diejenigen anempfehlen, welche die Einfalt affektieren3) und natürlich und naiv sein wollen, als ob nicht das Haschen nach solcher Tugend eben dieselbe unmöglich machte? Muss nicht die Einfalt ursprünglich sein? Kann sie das Werk vorbedachter Berechnung sein? Wie stimmte mit ihr die Freiheit in den Bewegungen? Wahrlich, nicht anstudiert kann die Einfalt werden; sie muss aus dem tiefen Innern ungekünstelt hervorsprossen; sie muss eine Wirkung des lebendigen Gottesgeistes sein.
Die wahre Einfalt, welche das Himmelreich öffnet, leuchtet uns in Jesu Christo entgegen; in ihm sehen wir den einfachsten Menschen, der je gelebt hat. Das Herz Jesu Christi, wie sein ganzes Leben, ist lautere Einfalt. Da ist Alles wahr, ursprünglich, ohne Schroffheit noch Trotz. In ihm siehst du die ganze Anmut, die ganze Wahrheit des Kindes in ihrer Vollendung; wie das Gesetz durch Mose gegeben, so ist Gnade und Wahrheit durch Jesum Christum gekommen (Joh. 1).
Du fühlst eine Rührung, wenn du siehst, wie der Heiland die Kindlein zu sich kommen lässt; wenn er sie herzt; aber auch dir steht ein solcher Empfang bereit, und die Kindeseinfalt ist der Weg dazu. Die Einheit, welche der Einfalt zu Grunde liegt, ist gefunden, sobald du alle Dinge in Christo einschließt, und von ihm aus, von diesem einen, höchsten Interesse aus Alles ansiehst und angreifst. Da weicht die Eigensucht mit ihrem trotzigen Wesen, ihren kindischen Prätensionen4), ihrem Dünkel und Neid, und ein Geist der Sanftmut, der Geschmeidigkeit bringt Ruhe, Frische und Weihe in das Herz und in alle Beziehungen. Mache dazu den Anfang im Gebet. Bete wie an der Schwelle der Ewigkeit und lege da nieder und lasse da fallen alle vergängliche Sorgen; die Welt wird mehr und mehr abnehmen, Jesus Christus wird wachsen, und mit der Gemeinschaft mit ihm wird auch Ruhe und Einfalt, Kindeseinfalt sich einstellen. Eine himmlische Macht wird in deiner Seele, in deinen Handlungen und Worten sich fühlbar machen. Die Salbung von oben wird dein Leben beherrschen, dich alle Dinge lehren und dir sie mitteilen, und also wird euch reichlich dargereicht werden der Eingang zu dem ewigen Reich (2 Pet. 1). Es wird die Einfalt gleichen Schritt halten mit dem innern Leben. Je vorgerückter ein Christ, desto einfacher; Jedermann fühlt sich wohl und glücklich bei ihm. Solch ein natürliches, wahres Wesen wird über Alles geschätzt. Aber um diese Kindlichkeit zu erlangen, muss man vom Herrn selbst erzogen sein; man muss oft eine lange, eine schmerzliche Schule durchmachen, um zu solchem Ziel zu kommen. Das trotzige, steife, schroffe Benehmen kommt aus einem trotzigen Herzen; ist aber einmal das Herz durch die Gnade erweicht, so lässt von den Einfältigen sich sagen, wie von den Sanftmütigen, dass sie werden das Erdreich besitzen (Matth. 5). Sie gehen von einem Sieg zum andern, sind schwach und doch stark, arm und doch immer reich; lass die Welt sich empören, Satan sie bedrohen, der Herr spricht zu ihnen: Lasst die Kindlein zu mir kommen und wehrt ihnen nicht, denn solcher ist das Himmelreich.