Thomas von Kempen - Buch 3 - Kapitel 55
Von dem Verderben der Natur und der Wirksamkeit der göttlichen Gnade.
1. Herr, mein Gott, der du mich geschaffen hast, nach deinem bild und Gleichniß, verleihe mir diese Gnade, die du mir als so groß und so nothwendig zum Heile gezeigt hast, damit ich meine ganz verderbte Natur überwinde, die mich zu Sünden und in’s Verderben fortreißt.
Denn ich fühle in meinem Fleische das Gesetz der Sünde, das dem Gesetze meines Geistes widerspricht und mich gefangen führt, der Sinnlichkeit zu gehorchen in vielen Dingen; und ich vermag den Begierden keinen Widerstand zu leisten, wenn mir nicht deine heiligste, meinem Herzen glühend eingegossene Gnade beisteht.
2. Ich bedarf deiner Gnade, und großer Gnade, damit die Natur bezwungen werde, die von Jugend auf stets zum Bösen geneigte.
Denn nachdem sie durch den ersten Menschen Adam gefallen und durch die Sünde verderbt war, ging die Strafe dieser Verderbniß auf alle Menschen über, so daß die Natur selbst, welche gut und recht von dir erschaffen wurde, jetzt für das Gebrechen und für die Schwachheit der verderbten Natur gewonnen wird, weil ihre Regung, sich selbst überlassen, zum Bösen und Niedrigen hinzieht.
Denn die geringe Kraft, die ihr noch übrig geblieben, ist wie ein Fünklein, das unter der Asche sich verbirgt.
Dies ist die natürliche Vernunft selbst, die, obwohl von großer Finsterniß umgeben, doch noch das Urtheil über Gutes und Böses, Wahres und Falsches hat, aber nicht im Stande ist, Alles zu erfüllen, was sie billigt, und jetzt weder das volle Licht der Wahrheit, noch die Gesundheit ihrer Neigungen genießt.
3. Daher kommt es, mein Gott! daß ich Freude habe an deinem Gesetz nach dem inwendigen Menschen, da ich weiß, daß dein Gebot gut, gerecht und heilig ist, auch alles Böse straft und daß man die Sünde fliehen muß.
Dem Fleisch nach aber diene ich dem Gesetz der Sünde, indem ich mehr der Sinnlichkeit gehorche, als der Vernunft.
Daher kommt es, daß in mir zwar das Wollen des Guten liegt, das Vollbringen aber finde ich nicht. (Röm. 7,18.) – Daher nehme ich mir oft viel Gutes vor, aber weil die Gnade fehlt, die meiner Schwachheit aufhilft, so weiche ich bei geringem Widerstande zurück und lasse ab. – Daher geschieht es, daß ich den Weg zur Vollkommenheit erkenne, und wie ich handeln soll, klar genug sehe; aber von der Schwere des eigenen Verderbens niedergedrückt, erhebe ich mich nicht zum Vollkommenen.
4. O wie höchst nöthig ist mir deine Gnade, Herr, um das Gute anzufangen, fortzusetzen und zu vollenden!
Denn ohne dieselbe kann ich nichts thun; Alles aber vermag ich in dir, wenn mich die Gnade stärkt.
O du wahrhaft himmlische Gnade, ohne welche die eigenen Verdienste nicht sind, auch die Gaben der Natur kein Gewicht haben.
Nichts gelten Künste, nichts Reichthum, nichts Schönheit oder Stärke, nichts Scharfsinn oder Beredsamkeit bei dir, o Herr, ohne Gnade.
Denn die Gaben der Natur sind Guten und Bösen gemein, die besondere Gabe der Auserwählten aber ist die Gnade oder die Liebe, wodurch sie des ewigen Lebens würdig werden.
So hoch steht diese Gnade, daß weder die Gabe der Weissagung, noch die Kraft Wunder zu thun, noch die tiefste Erkenntniß irgend einen Werth hat ohne sie.
Ja, weder Glaube, noch Hoffnung, noch andere Tugenden sind dir angenehm ohne Liebe und Gnade.
5. O holdselige Gnade, die du den Armen im Geist reich an Tugenden und den an vielen Gütern Reichen demüthigen Herzens machst, komm, steige herab zu mir, erfülle mich frühe mit deinem Troste, damit meine Seele nicht vor Mattigkeit und Dürre des Geistes verschmachte!
Ich flehe zu dir, Herr, laß mich Gnade finden vor deinen Augen; denn deine Gnade genügt mir, wenn ich auch das Uebrige, was die Natur verlangt, nicht erhalte.
Ob ich gleich durch viele Trübsale versucht und geängstiget werde, so fürchte ich doch kein Uebel, so lange deine Gnade mit mir ist.
Sie ist meine Stärke, sie gibt mir Rath und Hülfe.
Sie ist mächtiger als alle Feinde, weiser als alle Weisen.
6. Sie ist die Lehrerin aller Wahrheit und der Zucht, das Licht des Herzens, ein Trost in Bedrängniß, sie verscheuchet die Traurigkeit, treibet die Furcht aus, nähret die Andacht, locket Thränen hervor.
Was bin ich ohne sie, als dürres Holz und ein nutzloser Stamm zum Wegwerfen?
Darum, o Herr! laß deine Gnade mir stets vorangehen und folgen, sie mache mich fleißig zu guten Werken durch Jesum Christum, deinen Sohn! Amen.