Thomas von Kempen - Buch 3 - Kapitel 33
Von der Unbeständigkeit des Herzens und der Hauptrichtung auf Gott.
1. Sohn, traue nicht deiner Neigung, die jetzt so ist, aber schnell in eine andere umschlägt.
So lange du lebst, bist du der Veränderlichkeit unterworfen, auch wider deinen Willen: so daß du bald fröhlich, bald traurig, bald ruhig, bald unruhig, bald andächtig, bald ohne Andacht, bald eifrig, bald verdrossen, bald ernst, bald leichtfertig gefunden wirst.
Ueber diese Veränderlichkeit erhaben stehet aber der Weise und Gottselige, der nicht darauf achtet, was er in sich empfindet oder von welcher Seite her der Wind der Unbeständigkeit wehet; sondern darauf, daß die gesammte Richtung seines Gemüths auf das rechte und beste Ziel gehe.
Denn nur so vermag er immer derselbe zu bleiben, wenn das einfältige Auge seiner Absicht unter so mannigfaltigen Veränderungen unverrückt auf mich gerichtet ist.
2. Je reiner nun das Auge der Absicht ist, desto standhafter wandelt man durch so mancherlei Stürme.
Aber in Vielen verdunkelt sich das Auge der reinen Absicht, weil es sich schnell auf etwas Ergötzliches heftet, was ihm begegnet.
Ach, selten findet sich Einer, der von den Flecken der Selbstsucht ganz frei wäre.
So kamen einst die Juden nach Bethanien zu Martha und Maria, nicht ausschließlich um Jesu willen, sondern auch, daß sie den Lazarus sähen.
Darum muß man das Auge der Absicht reinigen, daß es einfältig und klar sei und sich über alle die verschiedenen Mitteldinge hinweg auf mich richte.