Ruperti, Hans Heinrich Justus Philipp - Bim Jahresfeste der inneren Mission über Luk. 19, 10
von Kirchenrat Dr. theol. Ruperti, Generalsuperintendent in Kiel.
Luk. 19, 10.
Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, das verloren ist.
Was für ein reiches, großes, herrliches Wort ist das! Das Mark des Evangeliums ist darin, die Summa alles dessen, was wir von Glück und Trost und Hoffnung zu sagen wissen. Hier ist das Evangelium. Unser liebes Gotteswort ist ja immer wie der Himmel über der dunklen Erde. Um uns ist alles ungewiss, verdeckt, unheimlich, finster; um uns ist die Nacht. Aber über uns ist der hohe Himmel mit seinen Myriaden glänzender Sterne. Unser Schifflein schwebt über den schaurigen Abgründen, ohne Pfad, ohne Wegweiser; eine Woge wirst es der andern zu; aber der Schiffsmann steht ruhig und sicher, er hat die Hand fest am Steuer, er hat keine Sorge; da droben sind seine alten Freunde, die ihn immer begleiten und ihm sicher den Weg weisen. Und unter den Vielen kennt er einige besonders und grüßt sie mit ihren Namen und sie grüßen ihn. So ist unsere liebe Bibel mit ihren leuchtenden Verheißungen. Was für ein heller, funkelnder Glanz, ein Himmel von Licht, ein Sternlein immer heller als das andre, und alle kreisen sie um den einen großen Polarstern unsers Glaubens, unsrer Liebe und unsrer Hoffnung, um Jesum.
Aber hier unser Gottes-Wort ist der hellsten einer. O, wie manchem armen, gedrückten, vereinsamten, verlorenen Menschenherzen hat es schon den Weg gewiesen aus dunkler Nacht und Sorge zu dem hellen seligen Lichte des Trostes. Ja, ein ganzes holdes Sternbild ist es, ein Siebengestirn des Trostes und der Gnade, jedes Wort ein Sternlein für sich. Es klingt wie eine süße heilige Harmonie, wie Himmelsglockenklang in unser Leid und unsere Not herein. Es ist genug, uns den Weg zu weisen, das Ziel finden zu lassen. Es wirst helle, warme Lichter über unser ganzes Leben und hinein in die Ewigkeit.
Und es ist heute sonderlich für uns wie ein helles Signal, welches für die Arbeit, auf die heute unsere Gedanken, unsere Liebe, unsere Gebete sich zusammenfassen, die rechte Bahn weist. Wir feiern das Jahressest des Vereins für Innere Mission. Von einer Mission redet ja auch der Text. Des Menschen Sohn ist gekommen, Gott sandte seinen Sohn. Zu Verlorenen kam er, suchen wollte er sie, retten, selig machen. O, das ist ja in zwei Worten der Inhalt eurer Arbeit. Sie ist nichts als die Fortsetzung seiner Mission. Er tut jetzt durch uns, seine armen Werkzeuge, was er einst selbst unmittelbar tat am Teiche Siloah und bei Bethesda und in Nain und Kapernaum. Ein Fest feiern wir heute; nicht um Menschenwerk zu rühmen, sondern um alle Ehrenkränze vor dem niederzulegen, welcher auch uns Verlorene gesucht und, Gott sei gelobt! gefunden und selig gemacht hat. Die Feste der Kinder Gottes sind ja anders als die der Kinder dieser Welt. Die suchen sich selbst, die eigene Ehre, den eigenen Ruhm und Genuss. Wir wollen uns heute selbst vergessen und nur einen allein unsere Gedanken fühlen lassen; wollen heute aufatmen, aufjauchzen in der Freude, dass wir den haben, der uns gesucht und gerettet hat. Festtag haben wir Christen ja freilich eigentlich alle Tage. Jeden Morgen lässt der Herr seine liebe Sonne über uns Gottlosen und Ungerechten aufgehen; jeden Tag liegen seine Arme um uns, er herzt uns und segnet uns, erquickt uns und tröstet uns! O, es ist eine Lust zu leben! Wir müssten jeden Tag mit allen Glocken läuten und mit allen Posaunen blasen; so selig ist unser Glück, dass wir Jesum haben!
Aber doch, so besondere Tage, wie unser Fest heute, haben auch ihren besonderen Segen, den Segen des Besinnens, des Stillewerdens, des Sichzusammen-fassens auf das Centrum unsrer Arbeit und Kraft. Es ist allemal ein Fest, wenn wir selbst dienen und helfen, trösten, erquicken können; das ist Himmelsarbeit auf Erden, Engelwerk. Aber über all diesem Glück schwebt die Freude an dem, der uns geholfen hat; und unser Fest ist nichts als ein Hineinfliegen in die offenen Arme Jesu, ein Umfangen und Herzen und Ausjauchzen, damit wir dann mit neuer Kraft und neuem Mute in die gesegnete, selige Arbeit treten, Jesu zu helfen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, ihm an unserm armen, geringen Teile zu dienen bei der Rettung der Verlorenen.
Das sei denn heute der Mittelpunkt unsers Denkens und Redens aus unserm reichen Texte heraus:
Die Rettung der Verlorenen,
und um zwei Worte lasst mich eure Gedanken sammeln, welche den großen Inhalt des Textes in sich zusammenfassen:
1. Verloren,
2. Gerettet.
1. Verloren.
„Was verloren ist,“ mit diesem letzten Worte unsers Textes lasst mich beginnen. Das Wort muss ich erst verstehen, ehe ich eine Ahnung davon habe, was das heißt, dass des Menschen Sohn gekommen ist, das Verlorene zu suchen und selig zu machen.
„Verloren,“ was für ein schweres, hartes Wort ist das! Die Hoffnungslosigkeit, die Verzweiflung klingt uns daraus an. Uns schaudert bei dem Gedanken. Wer ist denn verloren? Die innere Mission arbeitet ja an den Verlorenen, sie will ja suchen und retten. Da wissen wir, wo die Verlorenen sind; da drinnen sind sie, in den Gefängnissen und Zuchthäusern, da draußen in dem wilden Höllentanze der Welt an den Banketten Satans, im Schlamm und Kot der Sünde, in den Kloaken der Schande und Missetaten, die zum Himmel dampfen. Ja, gewiss, da sind Verlorene! Aber sind sie nur da? Sind hier keine? Unter uns keine, die sich sagen müssen, dass sie von Natur und in sich selbst Verlorene sind, ebenso verloren wie der Schächer und Magdalena und die Sünderin und Judas? Schauderst du bei dem Gedanken? Besinnst dich? Empört sich in dir etwas gegen das Bekenntnis, dass du ein Verlorener bist? ja freilich, ein hartes Wort, eine gründliche Vernichtung, eine zerschmetternde Verurteilung! Und ich höre laute Proteste dagegen. Die verlorene Welt will es nicht wissen, dass sie verloren ist. Wir haben doch noch eine Tugend, einen guten Willen, gute Vorsätze, ein gutes Herz, einen guten Namen, haben doch manches Gute getan, viel mehr als tausend andre; wir gehören ja auch zu dem Verein für Innere Mission, der Gutes tun und das Verlorene suchen und retten will. Wir sind doch jedenfalls viel besser als diese Verlorenen.
Meine Geliebten, ist hier einer unter uns, dem solche Gedanken kommen wollen, dem lasst mich vorweg zwei Dinge sagen: zunächst, mein lieber Heiliger, bist du dann hierher in Gottes Haus eigentlich an den verkehrten Platz geraten, denn dies Haus ist nur für arme, verlorene Sünder, welche das Evangelium von der Vergebung der Sünden hören wollen. Jedenfalls ist dann dieser Text nichts für dich, da er nur von den Verlorenen spricht. Und der Herr Jesus selbst ist keiner für dich, denn er sagt ja selbst, er sei für die Verlorenen gekommen; du bist dann zu gut für einen Christen, denn ein Christ ist einer, der bekennt, dass Jesus sei „mein Herr, der mich armen, verlorenen und verdammten Menschen erlöst hat, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels“. Du bist dann entweder ein verkappter Engel, viel zu gut für diese arme Welt, oder - ein Teufel in Menschengestalt! Nicht für die Gesunden kam Jesus, sondern für die Kranken, ihr Arzt zu sein, ihre Arznei, ihr Leben; nicht für die Zufriedenen und Lustigen, sondern für die Elenden und Betrübten, die Mühseligen und Beladenen, als ihr Trost und ihre süße Erquickung.
Und noch eins lass mich dir sagen. Ist für dich kein Platz bei Christo, so ist selbstverständlich für dich auch kein Platz in seiner Arbeit. Du bist nicht der Mann, ihm zu helfen, die Verwahrlosesten zurecht zu bringen. Ja, du hast auch nicht die geringste Fähigkeit dazu. Der natürliche Mensch mit all seiner Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit und seinem weichen Herzen hat den Balsam nicht, der die tausend Wunden heilt, aus welchen unser Volk blutet; er hat das Wort nicht, welches die wilden Geister bannt und bändigt, welches die Ketten der Gebundenen zerbricht und die wilden Tiger zu Lämmern und giftige Schlangen zu Tauben macht.
Hier liegt der unterste Grundstein aller Arbeit der inneren Mission, und ebenso der äußeren, ja aller Arbeit an der Rettung der Verlorenen. Wir müssen erst von uns selbst wissen und erfahren haben, dass wir zu den Verlorenen gehören, dass einer gekommen ist, der uns gesucht und unser Herz so selig gemacht hat; dann wird diese selige Gewissheit in uns die Quelle der rechten Kraft, welcher nichts unmöglich ist, des Mutes, der alle Hindernisse besiegt, der Geduld, die alles trägt, der Liebe, die alles hofft. Dann ist uns ein Feuer ins Herz gefallen, das alles in Flammen setzt und wir haben dann die Kraft und den seligen Beruf, zu lieben, wie wir geliebt sind, zu helfen, zu trösten, zu heilen, zu suchen zu retten, wie Jesus uns gesucht und gerettet hat.
Meine Geliebten, es ist so, wir alle gehören zu den Verlorenen. Seit der Mensch ein Sünder ist, ist er ein Verlorener, und wir sind alle Sünder. freilich, es gab eine Zeit, da kannte der Mensch dieses grässliche Wort nicht. In den Armen des Vaters lag er, von Liebe umschlungen, von Wonne umrauscht, das Entzücken seine tägliche Stimmung. Er war daheim in der Heimat der Seele, an dem Herzen Gottes, das Paradies sein eigen. Da wand sich die Schlange aus dem Abgrunde herauf, Gift im Zahn, Wut im Herzen, die Lüge auf der Zunge. Zwischen den Menschen und seinen Gott, zwischen das Kind und seinen Vater schob sie ihre Ringe und mit einer entsetzlichen Bewegung riss sie die beiden auseinander; der Mensch war ein Sünder geworden. Was für eine grauenvolle Veränderung! Hinausgeschleudert, unter Dornen und Disteln, einsam, in Tränen, den Tod im Herzen, in Verzweiflung, ein Verlorener: so stand der Mensch vor der verschlossenen Tür des Paradieses. Dahinter lag all sein Glück, dahin für immer! Fort war er aus der Umarmung der Liebe; verklungen die seligen Zwiegespräche, die heilige, entzückende Gemeinschaft Gottes. Um ihn lag die Wüste, in ihm brannte das böse Gewissen, vor ihm das Gericht, über ihm das Auge des beleidigten Gottes, hinter ihm die Erinnerung an verlorenes Glück, unter ihm die Hölle; er war ein Verlorener. Und das sind wir alle vom ersten bis zum letzten Atemzuge, Sünder von Geburt her, mit dem Brandmal des Verlorenseins. Wir wissen es alle. Die Heilige Schrift sagt es klar und ohne Umschweife und die eigene Erfahrung, das eigene Gewissen bestätigt es. Bei St. Matthäus im 18. Kapitel redet Jesus von den Kindlein, warnt davor, sie zu verachten oder zu ärgern, Gott achte sie so hoch, dass ihre Engel allezeit das Angesicht ihres Vaters im Himmel sehen und, was mehr ist, des Menschen Sohn sei gekommen, selig zu machen, was verloren ist. Da gebraucht der Herr also dieses selbe entsetzliche Wort geradezu von den Kindlein; auch die Kindlein sind Verlorene, nur einer kann auch sie retten, ohne Jesum kann auch kein Kind selig werden. O, wo bleiben dann wir Alten mit unsern tausend Übertretungen! Nicht nur Sünder von Geburt sind wir, sondern Sünder mit ungezählten täglichen Missetaten, die eitel Strafe verdienen. Und je mehr wir die Sünde hassen, je aufrichtiger wir in der Kraft der Gnade mit ihr ringen, desto erdrückender ist die Erfahrung, dass unser ganzes Leben und Wesen von Sünde durchwachsen ist und durchfressen ist und dass nur einer die Verlorenen retten kann, Jesus.
Verloren sind wir. Gott hat uns verloren. Er hat uns nicht mehr, hat unser Herz verloren. Das liebt die Welt, die Sünde; es schlägt nicht mehr für den, der es schuf, dass es ihn lieben sollte. Unser Vertrauen hat er verloren; wir liegen nicht mehr in seinen Armen, wir verlassen uns nicht auf ihn, hängen nicht an ihm. Unsern Dienst hat er verloren. Kein Glied sollte in eines andern Dienst sich rühren; kein Wort über die Lippen, als ihm zu Ehren; kein Blutstropfen in den Adern, der ihm nicht gehörte; jeder Gedanke, jede Tat sollte für ihn allein sein. Der Himmel hat uns verloren, unser Platz ist leer, die Hölle hat uns. Und wir haben alles verloren, alles, was das Herz reich und glücklich und selig macht, Friede, Freude, Licht, Leben; wir sind verlorene Menschen!
Verloren! Verstehst du das Wort ganz? Alle Angst, alles Grauen und Entsetzen dieses Gedankens? O, wir unter dem Schatten des Kreuzes, in der Umarmung Jesu, unter dem süßen, täglichen Klange seiner Stimme, auf der Schwelle des Himmels o nein, wir haben keine Ahnung von dem Abgrunde, aus dem wir gerettet sind. Meine armen kleinen Gedanken würden mir vergehen, wollten sie versuchen, dieses Entsetzen auszudenken; es würde mich wahnsinnig machen. In diese Abgründe blicken wäre ja ein Blick in die offene Hölle, und das wäre genug, das Herz zu brechen. Die Hölle ist tiefer, ihr Grauen ist fürchterlicher, als unser Herz es denken kann.
Was heißt das, verloren sein? Komm her, ich will dir Verlorene zeigen. Siehst du das Schiff dort auf den Wogen des Ozeans? Der rasende Sturm heult durch die zerbrochenen Masten, die Planken krachen, das Wasser bricht herein, das Schiff ist leck, es sinkt in die Tiefe; der Kapitän tritt unter die entsetzten Passagiere und sie hören es von ihm, sie sind verloren. Man lässt die Boote hinab, mit äußerster Gefahr verlässt man das sinkende Schiff. Wie Nussschalen treiben die Boote zwischen berghohen Wellen; tagelang treiben sie, die Hoffnung schwindet, die Kraft ist dahin. Da erscheint ein Segel am Horizont; alle Anstrengungen werden gemacht, um gesehen zu werden; alles vergebens; ihre flatternden Fetzen sieht niemand, ihr Angstgeschrei wird vom heulenden Sturm verschlungen. Und bald ist die letzte Brotrinde verzehrt, der letzte Tropfen süßen Wassers dahin, der Wahnsinn ergreift die Unglücklichen, die grässliche Gewissheit, sie sind verloren. Man fand vor einiger Zeit auf dem atlantischen Ozean ein Boot mit einer Leiche; der Unglückliche hatte es erfahren, was das heißt, verloren sein. Drüben an den wilden, rasenden Stromschnellen des Niagara entschlossen sich neulich ein paar übermütige Männer, mit einem Boote über diese schäumende, fürchterliche Brandung zu setzen. Alles Mahnen und Warnen ist vergeblich. Die Tollen stoßen vom Lande. Aber bald fassen sie die wilden Wirbel und hilflos, rettungslos fliegt das unglückselige Boot dem Untergang entgegen. Entsetzt sahen es die Leute am Ufer, niemand kann retten, man mag kaum hinsehen. Das Boot hat die Fälle erreicht, weit schießt der Kiel in die Luft hinaus und dann hinab in die unendliche Tiefe, es war alles verloren.
Als vor einigen Jahren die Engländer jene große Rebellion in Indien zu dämpfen hatten, bei der alles auf dem Spiele stand, hatten sie die grausame Weise, die gefangenen rebellischen Soldaten vor die Mündungen der Kanonen zu binden. Das waren verlorene Leute; ein Kommando, eine Handbewegung und die Unglücklichen waren in Stücke gerissen.
Gewiss, das waren Verlorene! Aber was ist der Sturz über den Niagara gegen den entsetzlichen Sturz über die Abgründe der Hölle! Und was ist der Platz vor der Mündung der Kanonen gegen den Platz vor dem Richterstuhle Gottes, dessen Blick wie Feuerflamme uns verzehren wird, und dessen Wink uns in Nichts zermalmt!
O, das grauenvolle Wort, „verloren“, das Grab der letzten Hoffnung! Und wir sind es alle von Natur, und wissen es auch, obgleich wir Meister sind in der Kunst, uns über unsere Lage zu täuschen. Wir wissen es; nichts ist dem Menschen so in all seine Empfindungen und Erfahrungen hineingedrückt, als das Gefühl der Verlorenheit. Die tiefe Sehnsucht, der Unfrieden der Seele, das Suchen nach Glück, welches wir nicht finden, das alles erinnert uns daran, dass wir etwas verloren haben und dass uns einer verloren hat. Die Wehmut, das Heimweh ist doch die tiefste Stimmung des Menschenherzens und die allerallgemeinste. Der edelste Grundton darin ist die Sehnsucht und was in der Sprache der Menschenkinder, in ihren Worten und Liedern am tiefsten und mächtigsten die Herzen ergreift, ist die Sprache des Leides, die wir alle verstehen, weil sie in uns allen ein Echo findet. Wir stehen wie der Mann auf der Sandbank in der steigenden Flut. Die Wogen schwellen, immer unheimlicher wälzen sie sich heran; bald haben sie uns erreicht, sie schäumen über unsere Füße, sie steigen bis zu den Knien, um den Gürtel schlingen sie sich, sie rauschen über die Schultern, über dem Haupte endlich schlagen sie zusammen! Ich elender Mensch, wer wird mich erretten von dem Leibe dieses Todes! Herr hilf uns, wir verderben! Rette uns, wir sind verloren!
2. Gerettet!
Gott sei Dank, es gibt eine Rettung! Es gibt einen, der Macht und Liebe genug hat, uns zu suchen und selig zu machen! Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist! O, das goldene, reiche, selige Wort! Der Rettungshafen für die Schiffbrüchigen, tief genug für alle Schiffe, sie aufzunehmen und zu bergen. Wir bedürfen eines Ozeans von Gnade; o wahrlich, wir werden nie den Grund dieses Wortes finden: „Des Menschen Sohn ist gekommen, zu retten und selig zu machen, was verloren ist!“
„Des Menschen Sohn“ eine wunderbare Bezeichnung! Wir begegnen ihr oft in der Bibel; aber nur einer trägt diesen Namen, Jesus. Warum nennt er sich des Menschen Sohn? Weil er ein Mensch war, wie wir? Gewiss, er ist wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren. Aber nicht deshalb allein trägt er jenen Namen. Außer ihm kann sich niemand so nennen. Oder heißt er so, weil er ein außerordentlicher Mensch war, ihrer Größten einer, der Allergrößte, mehr als Moses, Elias, Paulus, Luther? Manche haben es sich so gedacht; aber wir haben das Gefühl, es würde nicht passen, wenn etwa irgendein anderer außer Jesu sich „des Menschen Sohn“ nennen wollte. Jesus allein hat das Recht zu diesem Namen. Wir sind eines Menschen armselige Kinder, des Menschen Sohn ist allein Jesus. - Gewiss, dann muss seine Natur eine andre noch sein, als die unsrige. Dann ist er mehr noch, als nur ein Mensch wie wir. Er ist gekommen. Also er war nicht bei den Verlorenen, nicht unter den Menschenkindern. Er war, ehe er kam, ehe er Mensch wurde. Und wir wissen, wo er war und wer er war; wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren. Weit, fern von uns war er in der Herrlichkeit Gottes, durch die ungeheure Entfernung der Sünde von uns getrennt. Im Schoße des Vaters war sein Platz, um sein Haupt das Diadem der göttlichen Majestät, in seiner Hand das Zepter der Welt, auf seinen Lippen die allmächtigen Befehle, welche die Welt schufen und Sonnen ihre Bahnen wiesen; Engel anbetend um seinen Thron, alle Seligkeit des Himmels in seinem Herzen.
Aber sein Herz war bei der armen, kleinen Erde, der kleinsten fast unter den Myriaden der Welten, dem Stäublein im Sonnenstrahl. Dort sah er ein armes, elendes, hilfloses Geschlecht, eine Rasse von Sündern, Feinde Gottes, Rebellen, Verbrecher, im Herzen Hass und Wut, auf den Lippen Hohn und Spott, durch Sünde und Schande ihr Weg. Aber sie waren ja zugleich unglücklich, ohne Frieden, ohne Hoffnung, eine herzzerreißende Totenklage klang zu ihm hinauf; alle Tränen sah er, alle Seufzer hörte er. Und siehe, er hielt es nicht aus. Er steht auf von seinem goldenen Thron, legt das Kleid seiner Herrlichkeit ab, die Krone seiner Ehren, verlässt den Himmel, steigt herab zu uns Elenden, wird ein Mensch wie wir, liegt in der Krippe, wächst auf wie andre Menschen, gehorsam, geduldig, sanftmütig, demütig. Ja wahrlich, er war unter uns, diese arme Erde trug ihn, diese selbe Lust atmete er, unsere Sprache redete er. Wo es Tränen gab, da fand man ihn; wo das Elend ihn rief, da folgte er; die Einsamen, Elenden, Vergessenen, Verstoßenen, Verlorenen suchte er! Ach, und sein Weg sollte ja noch ein ganz anderer werden, noch viel tiefer hinab sollte er gehen, nach Gethsemane, nach Golgatha, ans Kreuz in den Tod, in die Hölle hinab, damit er zu den zu allerunterst liegenden Elendesten kommen könnte, zu mir und zu dir, und die Arme unter uns legen und uns retten könnte. So kam Jesus, so wurde er des Menschen Sohn, unser Stellvertreter, der Erbe unser aller, der all unsere Sünde, unsere Strafe, unser Elend erbte und sein eigen nannte. In ihm sind wir alle zusammengefasst, wie in Adam zum Verderben, so in Christo zum Heile und zur Seligkeit.
O ja, Jesus, des Menschen Sohn ist gekommen, das ist das größte Faktum der Weltgeschichte, die Zentralsonne unsers Lebens, die wichtigste, größte ungeheuerste Tatsache, und die gewisseste, welche je gewesen ist. Des Menschen Sohn, nicht nur Marien Sohn ist er geworden; den Menschen gehört er, allen ohne Ausnahme ebenso gewiss, wie der Gebenedeiten unter den Weibern, auch dir und mir Glücklichen. O, dieser gesegnete Name! des Menschen Sohn! Dieser unaussprechliche Reichtum, dieser seligste Besitz! Jesus ist mein, denn ich bin ein armer, sündiger Mensch und der Name, den er sich gab, ist: des Menschen Sohn. Er ist gekommen. O, die Glücklichen, zu denen er kam! Da geht er in das Haus in Bethanien; Maria kann zu seinen Füßen sitzen, Martha darf ihm dienen. O, ich möchte mir nichts wünschen, als nur wie ein Hündlein zu seinen Füßen zu liegen und die Brosamen zu essen, die von seinem Tische fallen! Seine Füße möchte ich waschen, die Riemen seiner Schutze möchte ich auflösen, obgleich ich glaube, ich würde es kaum fertig bringen, so würden meine Hände zittern vor Freude! Die Glücklichen, die ihn herbergen durften, deren Hütte er durch seine Gegenwart zu einem Himmel auf Erden machte! Aber ich soll ja niemanden neiden, ich brauche es nicht; er ist auch zu mir gekommen; ich war verloren und sein Weg ist zu den Verlorenen; ich habe ihn und halte ihn, er ist für mich, er ist mein, denn er ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. - Draußen in den engen Gewässern zwischen den Inseln, an den Mündungen unsrer großen Ströme kommt es wohl vor, dass im dicken Nebel die Schiffer still liegen müssen, weil sie nicht wissen, wo sie sind. Da liegen sie oft halbe, ganze Tage lang, der Nebel will nicht weichen. Aber horch! durch die dicke, nebelige Luft klingt plötzlich vom Lande her silberhell ein Glockenklang. Sie lagen schon ganz nahe der Heimat, und wussten es nicht, und erst der helle Glockenton sagt ihnen, wo sie sind. So klingt unser Sprüchlein in unser Herz wie Glockenklang, silberhell, aus der liebsten Heimat durch alle Nebel und Ungewissheiten und Sorgen und Ängste des Lebens: „des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist?“
Was will denn der geliebte Heiland? Wozu ist er gekommen? Wozu sein weiter mühseliger Weg durch Leid und Blut und Tränen? Er will suchen und selig machen. Suchen will er. Er hat uns ja verloren. Aber was ist denn an uns gelegen? Warum vergisst er uns nicht? Warum ruft er nicht seine Legionen, dass sie mit feurigen Ruten das Rebellengeschlecht von der Erde wegfegen, die sie mit ihren Sünden besudelt haben! Warum lässt er nicht die Hölle ihren Rachen aufsperren und die Missetäter verschlingen? Warum nicht? O, ich weiß es, Gott sei Dank, obgleich ich es nicht begreife! Weil er die Welt geliebt hat! Wie der Hirte die Schafe, so liebt Jesus das Verlorene: darum sucht er uns mit so unsäglicher Mühe und Geduld. In das dichteste Dorngestrüpp griff er, dass Hände und Haupt ihm bluteten und die Dornen und Stacheln unsrer Sünden scharf und spitz in seinem Haupte hängen blieben. Die weiten Wüsteneien der Welt durchsuchte er, die hohen Klippen des Stolzes und die schaurigen Abgründe und Sümpfe des Lasters und der Verkommenheit. Wo es Menschen längst aufgaben, sucht er unermüdlich. Wo der eigene Vater verzweifelnd sich abwandte und die Mutter nur noch Tränen und Seufzer hat, weil das Herz bricht, ist er unverdrossen an der Arbeit bis in die offenen Höllentüren hinein, bis in Satans Rachen sucht er; und wie viele hat er schon aus der Hölle gerissen, wie einen Brand aus dem Feuer! Siehst du die Fußspuren Jesu nicht auch in deinem Leben? Er sucht dich in tausend Weisen. In Glück und Freude, die er dir schickte, steht er still vor deiner Türe und wartet, dass du ihn austun möchtest. Er gibt Leid und Trübsal und will dich zu sich ziehen aus lauter Güte. Hat deine Seele ihn nie gesehen? Hast seine liebe, freundliche Stimme nie gehört? Nicht in jener dunklen Stunde, da dir die Augen voll Tränen standen und niemand trocknete sie? nicht in jener stillen Nacht, da du am Krankenbette wachtest und das Herz wollte dir springen vor Sorge und Angst? nicht da du am Sarge standest und schluchztest tief auf vor Herzeleid? Hast nicht gemerkt, wie er über den Sarg hinüber dir die Hand reichte und so leise und lind dir sagte: Weine nicht, ich will dich trösten! O ja, wir wissen es, wir haben es selbst erfahren, Jesus hat uns gesucht!
Aber wenn er uns nun gefunden hat, was will er dann mit uns tun? Will er uns klug machen, oder ein wenig tugendhafter machen? Oder will er uns gar etwa, wie wir es verdient haben, vor das Gericht ziehen und vernichten? Gott sei Dank, er will uns selig machen! Aber was ist denn die Seligkeit? Ach, wer kann sie beschreiben, wer kann sie malen. Wer kann in Worte fassen, was größer ist als unser Herz! Selig soll ich sein, also frei und ledig von aller Sünde, denn die ist mein Fluch, meine Unseligkeit, ist die Kugel an der Kette, die ich schleppe. Frei soll ich sein von aller Schuld, niemand, soll mich verdammen; alle Sünde ist vergeben, alle Flecken getilgt durch Christi teures Blut. Jesus ist mein, mein Stellvertreter, mein Blutsverwandter; ich lebe nicht mehr, Christus lebt in mir; und alles was in mir klopft und singt und sich freut, das ist Christus in mir. Dass ich ihn habe, das ist meine Seligkeit, mein Glück; habe ich ihn, so habe ich alles. O, ich verstehe die Freude jenes alten Negersklaven, der, als er Jesum gefunden hatte, sein Glück kaum zu fassen wusste. „Weil Jesus mein ist, sagte er, so ist ja alles mein; die Luft ist mein, ich kann sie atmen, der Sonnenschein ist mein, denn ich kann in ihm niedersitzen; die Erde ist mein, denn ich kann mich darauf niederlegen und schlafen; der Himmel ist mein, denn ich bin auf dem Wege zu ihm!“ Das nenne ich vollständige Zufriedenheit. Der Mensch hat nichts mehr zu wünschen; es ist alles erfüllt, alles sein, er ist selig.
Ach, wer wollte denn nicht gern zu diesen Seligen gehören! Liebe Seele, der Heiland sucht dich, lass ihn nicht vergeblich suchen! Warum sind wir so verloren in die Genüsse und Freuden der Welt! oder in Kummer und Gram und Sorgen, und lassen uns nicht von ihm finden und selig machen? Warum sind wir so satt und machen uns so viele Gedanken um den Leib und diese arme Erde und haben so wenig Gedanken um die Seele und den seligen Himmel! Wir können jeden Tag sterben und denken doch nicht daran. Der Abgrund kann sich jeden Augenblick über die Verlorenen schließen und wir haben kein Arg daraus! kommt, Jesus sucht uns! Er steht vor der Tür! Seine Seligkeit wartet auf uns! Er sucht dich, so lange du eine Seele hast, sucht dich Tag und Nacht, sucht dich durch Hitze und Kälte, sucht dich mit Tränen im Auge und mit Blutstropfen auf seiner Stirn, mit Wunden in Händen und Füßen und mit tiefem Leid im Herzen! O, wie gern will er dich finden! Und ach, das selige Finden! Ich komme zu ihm und er zu mir! Ich sehne mich nach ihm und er nach mir! Ich lege meine Arme, vor Freude zitternd, um ihn und er umfängt mich und herzt mich und segnet mich! Er ruft in den Himmel hinein: „Freut euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, welches verloren war!“ und meine Seele singt: ich habe meinen Heiland gefunden, der mich verloren hatte!
Ja, ich war verloren, aber Jesus hat mich gefunden, gerettet! Halleluja!
Aber, meine Geliebten, dieser Jubelruf hat noch einen besonderen Klang, den wir nicht überhören dürfen, ja, nicht überhören können. Gerettet! o gewiss, das ist lauter Triumph, Jubel, Sieg, Freude! Aber es ist zugleich ein mächtiger, kurzer, unwiderstehlicher Befehl. - Sieh jenes Haus in Flammen; die Balken krachen, im nächsten Moment ist alles ein glühender Trümmerhaufen. Aber hörst du nicht droben aus dem Dachkämmerlein den herzzerreißenden Hilferuf? Ein Kind ist es, es ist verloren, wenn wir nicht retten. Retten! Gerettet! das ist der Gedanke, der mächtig uns packt, der Befehl, der mächtig durch Mark und Bein fährt. Es bedarf nicht vieler Worte, dieser eine genügt, all unsere Energie zu wecken.
O, meine Geliebten, lasst uns den Jubel des Wortes „gerettet“ zugleich als einen heiligen, großen, göttlichen Befehl erkennen, dessen Erfüllung die Krone unsrer Freude ist! Es ist ja auch die edle Devise in dem Wappenschilde eures Vereins: „Verloren! Gerettet!“ Die Welt ist verloren, rund um uns her starrt das Elend; Satan würgt ohne Aufenthalt; Sünde, Schande, Verbrechen, Verkommenheit heulen uns von allen Seiten entgegen; aus den Hütten und Kellern, aus den Schenkstuben und den Kammern der Liederlichkeit, aus Stadt und Land, überall schreit es uns an: „wir sind verloren, helft uns, rettet uns.“ Sie wissen es selbst nicht, aber ihr Elend ist umso größer, himmelschreiender. Die sündige Welt ist eine wahnsinnige Welt; sie ist todkrank in Sünden, sie rast im Delirium; sie schlägt nach ihren Rettern und Helfern. Aber umso größer ist die Gefahr, umso mehr fordert sie unsere äußersten Anstrengungen heraus. O, lasst uns helfen! Helfe retten, wer eine Hand hat, wer ein Herz hat, wer lieben kann, wer selbst verloren war! O, wenn wir es doch recht wüssten, was für selige Arbeit das ist! Nächst der Seligkeit, von Jesu gerettet zu sein, ist kein größeres Glück, als Jesu Helfer im Retten zu werden. Es ist unsere höchste, edelste Ausgabe, ist die Krone unsrer Freude. Wie arm wäre das Leben ohne diese Arbeit der rettenden Liebe! Ich hörte von einem Manne, der lange Jahre herrlich und in Freuden gelebt hatte, aber sein Herz war immer leerer und öder geworden, weil das Beste fehlte, der Glaube und die Liebe. Zuletzt erträgt er es nicht länger, das Leben ist ihm wertlos, eine Last; er will lieber nicht leben, als so leben. Da steht er in nächtlicher Stunde auf der Brücke, sieht in die dunkle, rauschende Tiefe, die ihn von seinem Ekel und seiner Last erlösen soll. Aber noch kann er es nicht. Eine kleine Hand zupft ihn am Rocke; ein blasses, zitterndes Kind bittet ihn um Brot, um Hilfe in bitterster Not. Es wird ihm warm ums Herz, er hatte noch nie solches Gefühl. Er geht mit dem Kinde, findet herzzerreißendes Elend und zum ersten Male in seinem Leben erfährt er das Glück des Liebens und Helfens und Rettens. Das Leben hat nun erst Wert für ihn, jenes arme Kind war sein Retter geworden. O, wie sollte nun erst uns das Herz brennen, retten zu helfen, die wir aus aller Not und von allen Sünden durch unsern mächtigen, barmherzigen Retter Jesum herausgerissen und gerettet sind. Es soll uns nie aus dem Sinn kommen, wieviel es ihn gekostet, dass wir erlöst sind; wollen fest und freudig die Hände in seine legen und jubelnd ihm danken, dass wir durch ihn leben und nun für ihn leben dürfen. O ja, es ist eine Lust zu leben! Mit allen Glocken möchten wir läuten alle Tage und mit allen Posaunen blasen, denn wir waren verloren, aber wir sind gefunden, gerettet! Halleluja! Amen!