Baumgarten, Michael - Wider Herrn Hofprediger Stöcker. - II. Zwei Zeugen und zwei Reichsgesetze.
Wer in der großen Kirchenfrage, die wie ein Alp auf dem Gewissen der gesamten Völkerwelt lastet, in wahrem Sinn Licht und Hilfe bringen soll, der muss mit fester Hand genau da ansehen, wohin die Spuren der Wege Gottes weisen. Ich spreche von zwei Gesetzen des Deutschen Reichs, auf welche zwei gottbeglaubigte Zeugen aus früherer Zeit weissagend hingedeutet haben; ich meine das Gesetz vom 3. Juli 1869 und das Gesetz vom 6. Februar 1875. In diesen beiden Gesetzen ist ein unbewusstes großes kirchliches Prinzip verborgen, das uns, die wir achten auf Gottes Wege, durch den Mund zweier Kirchenmänner aufgeschlossen wird.
Wenn ich Schleiermacher den größten Theoretiker unseres Jahrhunderts auf dem Kirchengebiet nenne, so wird man mir nicht leicht widersprechen. Nun weiß ich diesem größten Theologen unserer Zeit als Praktiker Keinen so ebenbürtig zur Seite zu stellen, wie den Doktor Wichern, der durch eine schwere harte Lebensarbeit das große Werk der inneren Mission unter uns ins Dasein gerufen hat. Diese beiden Theologen sind nun darin einig, dass sich in der bestehenden Kirchenverfassung ein fremdes, weltliches, heidnisches Element befinde; in diesem Elemente erkennen sie eine auf die Länge unerträgliche Störung und Ertötung des kirchlichen Lebens. Beide haben sich nun die Frage vorgelegt: wann und wie ist dieses fremde Element in die Kirche hineingekommen? Beide antworten: dieses fremde Element ist in den Zustand der Kirche eingesenkt mit dem Beginn des Staatskirchentums, welches man auch den christlichen Staat zu nennen sich gewöhnt hat. Beide Theologen bestätigen also die Wahrheit jener tiefsinnigen mittelaltrigen Legende, nach welcher an dem Tage, als Kaiser Konstantin und Papst Sylvester ihr Bündnis schlossen, die Engel vom Himmel gerufen haben: „Heute wird im Heiligtum Gift ausgeschüttet.“
Beide Kirchenmänner litten Seelennot in dem gewordenen Zustand, der Beredtere von ihnen sagt: „von einem herben Geschick werden alle heiligen Seelen gebeugt, welche von der Glut der Religion durchdrungen auch in den größeren Kreisen der profanen Welt ihr Heiligstes darstellen und damit Etwas ausrichten möchten“. Es war ihnen nicht möglich, sich in diesen Zustand als in ein Definitivum zu ergeben, sie betrachteten ihn als ein Provisorium und fragten: wie kann und wird die Erlösung erfolgen? Und gleichmäßig lautet die Antwort der Beiden: die Erlösung beginnt, wenn der Staat das verhängnisvolle Bündnis kündigt. Nun, diese Antwort ist die Weissagung dieser beiden kirchlichen Zeugen auf jene beiden genannten Reichsgesetze, welche in der Tat die staatliche Kündigung des verderblichen Bündnisses enthalten. Der Kaiser Konstantin begabte, wie seine Edikte ausdrücklich lauten, die orthodoxe Kirche mit staatlichen Privilegien und nicht lange dauerte es, da musste in Folge staatlichen Zwanges Alles, was von Menschen auf dem Territorium. des römischen Reiches geboren ward, zur Taufe gebracht werden. Es gehört nicht viel Besinnung dazu, um zu erkennen, dass Beides, staatliches Privilegium und staatlicher Zwang, mit dem Wesen der wahren Kirche streitet. So lange die Kirche in dem vollen Bewusstsein ihres himmlischen Ursprunges und ihrer göttlichen Kraft einhergeht, kann sie gar nicht anders, sie muss jedes staatliche Privilegium als eine schnöde Beschimpfung von sich weisen, sie macht keinen anderen Anspruch an die Welt, als genau nur das zu gelten, was sie in jedem Augenblick ist und leistet. Noch schimpflicher aber ist der wahren Kirche der Zwang, sie will nicht über Sklaven herrschen, ihre Glieder sind freigeborene Gotteskinder. Nun aber haben 1500 Jahre lang Privilegium und Zwang in dem Heiligtum der Kirche gewaltet und geherrscht. Was Wunder, dass die heilige Kraft und der göttliche Nerv des Christentums geschwächt worden ist, dass in Folge dessen die Menschheit bitterlich darbt an geistlicher Nahrung. Nur die Reinigung der Kirche von dieser anderthalbtausendjährigen Verweltlichung, nur die Wiedereinsetzung der Kirche in die Lauterkeit und Kraft des urkundlichen Christentums kann das ungeheure moralisch-religiöse Defizit, an welchem die gegenwärtige Völkerwelt zu Grunde geht, decken.
Wer dies an der Hand jener beiden Theologen versteht und dann erwägt, dass durch das Reichsgesetz vom 3. Juli 1869 von „der Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte von dem religiösen Bekenntnis“ jenes unchristliche Privilegium beseitigt und durch das Reichsgesetz vom 6. Februar 1875 über die Verweisung der kirchlichen Handlungen an die Entscheidung des Gewissens der unheilige Zwang aufgehoben ist, der wird sich überzeugen, dass jene beiden Gesetze zwei Marksteine sind, welche die Bedeutung haben, rückwärts einen langen kirchlichen Irrgang abzuschließen, vorwärts auf eine bessere Zukunft der Kirche hinzuweisen.
Wie stellt sich nun die herrschende Richtung und Macht in der gegenwärtigen Kirche zu diesen beiden hoch bedeutsamen Gesetzen? Das erste Gesetz von der Gleichberechtigung der religiösen Bekenntnisse wurde in den ersten Jahren als Selbstverstand wenig beachtet und besprochen. Dagegen das zweite gegen den Kirchenzwang gerichtete Gesetz wurde sofort von kirchlicher Seite mit offener Feindschaft aufgenommen. Die klerikalen Anklagen gegen den vermeintlich religionsfeindlichen Charakter dieses Gesetzes wachsen von Jahr zu Jahr an Heftigkeit und an Umfang. Nun hat es fast das Ansehen, als ob der wachsende Ansturm gegen das Gesetz vom 6. Februar 1875 die schlummernde Opposition gegen das andere Gesetz vom 3. Juli 1869 aufgeweckt hat. Der fanatisch ultramontane Dr. Rohling in Prag eröffnete den Kampf gegen die Juden, Dr. Perrot erklärte 1878: „wir halten die Judenfrage für die derzeit wichtigste“, und zur selben Zeit schrieb die Germania: „ein Judengesetz muss zu Stande kommen, mindestens eine Suspension des Gesetzes vom 3. Juli 1869“. Dieser Schneeball hat sich seitdem zu einer Lawine entwickelt; wie ein Ungeist aus fernen Zeiten tritt der Antisemitismus in unsere Gegenwart hinein und rüttelt an den Fundamenten der Gesetzlichkeit, der bürgerlichen Ordnung und der Humanität.
Jene beiden großen Reichsgesetze, auf welche die beiden hoch bewährten kirchlichen Autoritäten als auf den gesegneten Anfang einer besseren kirchlichen Zukunft hingedeutet, werden gerade von der kirchlichen Seite gegenwärtig gehasst und bekämpft, wie keine anderen Gesetze, und zwar wird der Krieg gegen diese Gesetze geführt unter dem Panier des Christentums und der Kirche.
Es ergibt sich, dass, wer in solcher Gegenwart wirklich segensreich für die Zukunft der Kirche wirken will, nicht bloß den Mut haben muss, gegen die offenbare Gottlosigkeit aufzutreten, sondern den noch höheren Mut besitzen muss, gegen die Verführung eines falsch verstandenen Kirchentums und Christentums auf offenem Plan zu kämpfen.