Murray, Andrew - Nach Jesu Bild - XIX. Im Vergeben

Murray, Andrew - Nach Jesu Bild - XIX. Im Vergeben

Vertrage einer den andern, und vergebt euch unter einander, so jemand Klage hat wider den andern, gleich wie Christus euch vergeben hat, also auch ihr“ (Kol. 3,13).

Die Vergebung der Sünden ist eine der ersten und herrlichsten Gnadengaben des neuen Lebens. Sie ist der Übergang von dem Alten zu dem Neuen; ein Zeichen und Pfand der Liebe Gottes, wodurch wir an alle die für uns in Christo bereitliegenden geistlichen Güter ein Anrecht bekommen. Der erlöste Heilige wird es nie, weder hienieden, noch droben vergessen können, dass er ein begnadigter Sünder ist. Nichts kann die Flamme seiner Liebe mächtiger entzünden, oder seinen freudigen Mut kräftiger stärken, als die durch den Heiligen Geist beständig erneuerte Erfahrung der vergebenden Liebe Gottes. Jeder Tag, ja jeder Gedanke an Gott erinnert ihn daran, dass er der vergebenden Gnade alles zu verdanken hat.

Diese vergebende Liebe ist eines der größten Wunder der uns offenbarten göttlichen Natur. Gott sieht darin sein Glück, seine Verherrlichung. Und dieses Glückes, dieser Herrlichkeit möchte Er seine Erlösten teilhaftig machen, wenn Er sie dazu auffordert, so bald und insofern sie Vergebung empfangen haben, dieselbe auch andern zu gewähren.

Hast du je darauf geachtet, wie oft und wie nachdrücklich der Herr Jesus hiervon sprach? Wenn wir die Worte Jesu, Matth. 6,12.15; 18,2-25; Mark. 11,25 mit Nachdenken lesen, so werden wir es merken, wie unzertrennlich die Vergebung Gottes uns gegenüber verbunden ist mit der Vergebung, die wir an andern üben. Nun, da unser HErr gen Himmel gefahren ist, um Buße und Vergebung der Sünden zu verleihen, sagt uns die Schrift dasselbe von Ihm, was Er uns von dem Vater gesagt hatte: wir sollen vergeben wie Er. Wie unser Text es ausdrückt: „gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr.“ Wir sollen vergeben wie Gott, wie Jesus.

Es ist nicht schwer, den Grund hierfür aufzufinden. Wenn uns die vergebende Liebe nahe kommt, so will sie uns nicht bloß von der Strafe erlösen; o nein, sie will uns vielmehr ganz für sich gewinnen, damit sie von uns Besitz ergreife und Wohnung in uns machen könne. Dadurch, dass sie sich so zu uns herablässt und in uns wohnt, verliert sie nichts von ihrem himmlischen Wesen und ihrer Schönheit; sie bleibt die vergebende Liebe, die ihr Werk nun nicht nur an uns, sondern auch in uns und durch uns vollführen will, indem sie uns dazu bringt und es uns möglich macht, denen, welche sich an uns versündigen, zu vergeben. Dies ist so sehr der Fall, dass uns sogar gesagt wird, es sei ein sicheres Zeichen, dass wir noch nicht Vergebung erlangt haben, wenn wir nicht vergeben können. Wer nur aus Selbstsucht, um von der Strafe befreit zu werden, nach Vergebung verlangt, aber der vergebenden Liebe noch nicht das Regiment über sein Herz und Leben eingeräumt hat, der beweist damit, dass die Vergebung ihm noch nicht in der Tat zu teil geworden ist. Wer dagegen die Vergebung wirklich empfangen hat, wird an der Freude, womit er andern vergibt, eine beständige Bestätigung davon haben, dass sein Glaube an Gottes Vergebung eine Tatsache ist. Von Jesu Vergebung erhalten, und wie Jesus sie andern angedeihen lassen: diese beiden Stücke sind unzertrennlich.

Dieses ist die Lehre der Schrift und der Kirche: wie stimmt aber die Erfahrung und der Wandel vieler Christen dazu? Ach, wie viele wissen es leider kaum, dass es also geschrieben steht, oder wenn sie es wissen, so meinen sie, das wäre zu viel verlangt von einem sündigen Geschöpf, - oder wenn sie auch im Allgemeinen damit einverstanden sind, so finden sie doch stets einen Grund, warum es in ihrem besondern Fall nicht möglich sei. Wie oft werden die Entschuldigungen laut: Andere könnten im Übel bestärkt werden; der Beleidiger würde auch nie vergeben, wenn ihm ein Unrecht geschähe; hervorragende Christen haben auch nicht danach gehandelt, und was dergleichen mehr vorgebracht werden kann. Und dennoch ist der Befehl so einfach und zugleich so feierlich: „Gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr.“ „So ihr nicht vergebt, so wird euch euer Vater auch nicht vergeben.“ Durch derartige menschliche Klügeleien wird die Wirkung des Wortes Gottes zunichte gemacht. Ist es doch gerade durch seine vergebende Liebe, dass Gott das Böse überwindet, wenn Er auch siebzigmal siebenmal vergeben müsste. Nicht danach, wie der Beleidiger an mir handeln würde, sondern danach, was Jesus an mir getan hat, soll ich ja meinen Wandel richten. Das Zeichen, dass ich in der Tat Vergebung meiner Sünden empfangen habe, besteht ja nicht darin, dass ich dem Beispiel frommer Christen, sondern dem Vorbild Jesu ähnlich werde.

Ach, in welcher Gemeinschaft, in welchem christlichen Kreise wird nicht das Gesetz der vergebenden Liebe vielfach verletzt! Wie oft beweist es sich in kirchlichen Angelegenheiten, in gemeinnützigen Unternehmungen, im gewöhnlichen geselligen Verkehr, ja sogar im häuslichen Leben, dass für viele Christen der Beruf, wie Jesus zu vergeben, noch nie zur leitenden Triebfeder ihres Handelns geworden ist. Wegen einer kleinen Meinungsverschiedenheit, oder eines Widerstandes gegen eine Handlungsweise, die ihn gut deuchte, auf Grund einer wirklichen oder einer eingebildeten Hintansetzung, oder eines unfreundlichen, unbedachten Wortes werden Gefühle der Rache, der Verachtung oder der Entfremdung genährt, anstatt dass man wie Jesus liebte, vergäbe und vergäße. In solchen Herzen ist der Gedanke noch nie recht zur Geltung gekommen, dass das Erbarmen, die vergebende Liebe, worin das Verhältnis des Hauptes zu den Gliedern wurzelt, auch das Verhältnis der Glieder unter einander beherrschen muss.

Geliebte Nachfolger Jesu! die ihr berufen seid, der Welt sein Bild darzustellen, lernt es, dass, gleichwie die Vergebung eurer Sünden das erste war, was ihr von Jesu empfingt, die Vergebung anderer gegenüber das erste ist, was ihr für Ihn tun könnt. Gedenkt daran, dass es für das neue Herz noch eine süßere Freude gibt, als Vergebung zu erlangen, und diese Freude ist: andern zu vergeben. Die Freude an der empfangenen Vergebung ist nur diejenige eines Sünders, gehört der Erde an; die Freude, andern zu vergeben, ist Jesu Freude, die Freude des Himmels. O kommt und seht, dass ihr zu nichts Geringerem berufen seid, als an dem Werk, das Jesus tut, an der Freude, die Ihn erfüllt, teilzunehmen.

Auf diese Weise kannst du der Welt ein Segen sein. Als der Vergebende besiegt Jesus seine Feinde und bindet Er seine Freunde unauflöslich an sich. Als der Vergebende hat Jesus sein Reich aufgerichtet und bietet Er es beständig aus. Durch dieselbe vergebende Liebe, welche nicht nur gepredigt, sondern im Leben seiner Jünger bewiesen wird, kann die Welt von der Liebe Gottes überzeugt werden. Wenn einmal die Welt Männer und Frauen sieht, die da lieben und vergeben, gleichwie Jesus, dann wird sie gezwungen werden, zu bekennen, dass Gott wahrhaftig mit ihnen ist.

Scheint es dir noch immer zu schwer, zu unerreichbar, so bedenke, dass es dir nur so lange, als du dein natürliches Herz zu Rate ziehst, also vorkommen wird. Die sündliche Natur kann dieser Freude, keinen Geschmack abgewinnen, sie kann dieselbe nicht erreichen. Aber in der Gemeinschaft mit Jesu wird es uns möglich: Wer in Ihm bleibt, der wandelt gleichwie Er gewandelt hat. Hast du dich Jesu übergeben, um Ihm in allen Dingen nachzufolgen, dann wird der Heilige Geist dich auch in diesem Stück dazu tüchtig machen. Gewöhne dich daran, noch ehe die Versuchung an dich herantritt, deinen Blick fest auf Jesum zu richten, wie Er in der himmlischen Schönheit der vergebenden Liebe als dein Vorbild vor dir steht, so wirst du „durch das Anschauen der Herrlichkeit des HErrn verklärt werden in dasselbige Bild, von einer Klarheit zu der andern.“1) So oft du Gott um Vergebung bittest oder Ihm dafür dankst, so gelobe Ihm, dass du zur Verherrlichung seines Namens dieselbe vergebende Liebe an allen um dich her beweisen wollest. Ehe von der Vergebung andern gegenüber die Rede sein kann, musst du dein Herz füllen lassen mit Liebe zu Jesu, Liebe zu den Brüdern und Liebe zu den Feinden; einem Herzen voll Liebe wird es leicht zu vergeben. In jedem Vorkommnis des täglichen Lebens, wo eine Versuchung zur Unversöhnlichkeit aufsteigen möchte, da begrüße mit Freuden die Gelegenheit, da du zeigen kannst, wie du in der Tat in der vergebenden Liebe Gottes lebst, wie gerne du ihr schönes Licht durch dich auf andere strahlen lässt, und wie selig dir das Vorrecht erscheint, auch hierin das Bild deines geliebten HErrn an dir zu tragen.

O du hochgelobter Sohn Gottes, wie du zu vergeben, das soll von nun an meine Lebensregel werden. Du, der du den Befehl gegeben hast, wirst mir auch die nötige Kraft dazu verleihen. Du, der du Liebe genug hattest, um mir zu vergeben, wirst auch mich mit Liebe erfüllen und mich lehren, andern zu vergeben. Du, der du mir die Freude gabst, zu wissen, dass meine Sünden mir vergeben sind, du wirst mir gewiss auch die tiefere Freude geben, andern vergeben zu können, wie du mir vergabst. O erfülle mich hierzu mit dem Glauben an die Macht deiner Liebe, die in mir wirkt, die mich dir ähnlich macht und mir die Kraft gibt, siebzigmal siebenmal zu vergeben, und also meine ganze Umgebung zu lieben und ihr ein Segen zu sein.

O mein Jesu, dein Beispiel ist mein Gesetz: ich muss dir ähnlich werden. Dein Beispiel ist aber auch mein Evangelium: ich kann dir ähnlich werden. Du bist mein Gesetz und mein Leben zugleich. Was du durch dein Beispiel von mir verlangst, das wirkst du in mir durch dein Leben. Ich werde vergeben, wie du vergibst.

HErr, führe mich nur tiefer in die Abhängigkeit von dir hinein, in die Allgenugsamkeit deiner Gnade, und in das Bleiben, das aus deiner Innewohnung fließt. Dann werde ich an die alles überwindende Macht der Liebe glauben und sie auch beweisen; ich werde vergeben, wie Christus mir vergeben hat. Amen!

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