MacDuff, John - Nach Jesu Sinn - 4ter Tag. Vergebende Liebe.
„Ein Jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war.“
„Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Luk. 23,34.
Mancher Todeskampf ist gekämpft worden, um einen Freund zu retten. Der sterbende Heiland bittet mit letzter Kraft für Seine Feinde! Auf dem Höhepunkt Seines Leidens und der menschlichen Undankbarkeit, von Gott und Menschen verlassen, mischt sich Seine stockende Stimme in das Geschrei Seiner Mörder „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Wäre der treulose Petrus dort gewesen, so hätte er erstaunen müssen, über diese Antwort auf eine frühere Frage: „Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben, ist es genug siebenmal?“ Jesus sprach zu ihm: „Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebzig mal siebenmal.“ (Matth. 18,21.) Bei manchen Menschen entspringt die Eigenschaft, sich leicht über Beleidigung und Undank hinwegzusetzen, aus einem unempfindlichen, gleichgültigen Temperament, einer kalten, phlegmatischen, stoischen Gefühllosigkeit. Bei Jesu war es aber nicht also. Er war durch die zarten Gefühle Seiner heiligen Natur doppelt empfindlich dem Unrecht und der Undankbarkeit gegenüber, gleichviel, ob Ihm diese durch die offene Bosheit unverstellter Feindschaft, oder durch den Verrat vertrauter Freunde bewiesen wurde; eine edle Natur verwundet Letzteres vielleicht am Schmerzlichsten. Manche verzeihen einem offenen Gegner eher, als sie einem treulosen Herzen vergeben und unerwiderte Liebe vergessen können. Doch lasst uns auch in dieser Beziehung das Benehmen des teuren Heilandes betrachten! Sehen wir, wie Er Seinen eigenen Jüngern begegnet, die in der Stunde, wo Er am meisten ihrer Teilnahme bedurfte, Ihn verließen und flohen! Kaum ist Er vom Tode auferstanden, so eilt Er, ihre Befürchtungen zu heben, und sie Seiner unveränderten und unveränderlichen Liebe zu versichern. „Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern;“ so heißt seine erste Botschaft; „Friede sei mit Euch!“ das ist Sein erster Gruß; und an dem Ufer des Sees Tiberias nennt Er sie „Kinder.“ Sogar Joseph (das alttestamentliche Vorbild großherziger Versöhnlichkeit) ruft seinen Brüdern, indem er sich ihnen zu erkennen gibt, die bittere Erinnerung ins Gedächtnis zurück: „den ihr nach Ägypten verkauft habt;“ - der wahre Joseph, indem Er Sich Seinen Jüngern offenbart, bedeckt die Erinnerung an ihre frühere Untreue mit vollkommener Vergessenheit. Er begegnet ihnen segnend; Er verlässt sie bei Seiner Himmelfahrt ebenso Er hob die Hände auf, und segnete sie!
Leser! folge in diesem Allen dem Sinne deines Herrn und Meisters. Durch die Betrachtung Seines heiligen Vorbildes suche dich zu überzeugen, dass das Wort Feind gar nicht bestehen sollte! Hege keinen grollenden Gedanken, gebe dich keiner bitteren Beschuldigung hin. Lasse keinen finstern Unmut über dich herrschen. „Das Gesetz der Liebe“ regiere in deinem Herzen. Lege die Schwächen Anderer aufs Beste aus. Mache keine harten Bemerkungen über ihre Gebrechen. Siehe auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Wenn du dich geneigt fühlst gegen einen Bruder unversöhnlich zu bleiben, so gedenke, wo du bleiben würdest, wenn Gott Seinen Zorn ewig behalten hätte! Wenn Er, der Ewige, der dich auf ewig von Seinem Angesicht hätte verstoßen können, mit dir Geduld gehabt, und dir Alles verziehen hat, willst du, wegen irgend einer unbedeutenden Kränkung, welche dir in ruhigeren Augenblicken kaum eines Gedankens wert erscheint, dem kalten Blick der Entfremdung, dem unversöhnlichen Wort, der unversöhnlichen Tat nachhängen? „So Jemand Klage hat wider den Andern; gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr.“