Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Siebente Betrachtung. Dass es in der Welt nichts Beständiges gibt.

Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Siebente Betrachtung. Dass es in der Welt nichts Beständiges gibt.

I. Nichts Gewisseres als der Tod, nichts Ungewisseres als die Todesstunde.

Bedenken wir also, wie kurz unser Leben ist, wie schlüpfrig der Weg, wie gewiss der Tod und ungewiss die Todesstunde. Kommt uns auch etwas Süßes oder Angenehmes auf diesem Lebensweg entgegen, das uns anlächelt, so lasst uns bedenken, wie viel Bitteres ihm beigemischt ist. Wie trügerisch und verdächtig, wie unbeständig und vorübergehend ist alles, was die Weltliebe zu Tage bringt; alles, was zeitliche Anmut oder Schönheit verspricht, alles, was Fleischeslust darbietet. Überlegen wir auch, welche Annehmlichkeit und Süßigkeit, Heiterkeit und Lieblichkeit das himmlische Vaterland hat: und erwägen wir, wie tief wir fielen und wo wir liegen, was wir verloren und was wir fanden, um aus Beidem zu verstehen, wie sehr wir in dieser Verbannung trauern müssen. Daher sagt Salomon (Eccl. 1,18): Wer seiner Erkenntnis zulegt, legt auch seinem Schmerz zu, denn je mehr der Mensch das Böse seiner Seele begreift, um so mehr ächzt und seufzt er. Betrachtung bringt nämlich Erkenntnis zu Tage, Erkenntnis Züchtigung, Züchtigung Andacht, Andacht empfiehlt das Gebet. Durch unablässige Betrachtung wird der Mensch so erleuchtet, dass er sich kennen lernt. Bei der Züchtigung wird wegen der Erwägung seines Bösen das Herz von innerstem Schmerze berührt.

II. Von den vielfachen Wohltaten Gottes.

Ich Armseliger, wie sehr sollte ich meinen Herrn lieben, der mich erschaffen, als ich nicht war, erlöst hat, als ich verloren war. Ich war nicht, und aus dem Nichts hat er mich erschaffen. Er hat mich nicht erschaffen unter den übrigen anderen vernunftlosen Geschöpfen, das heißt, er wollte, ich sollte kein Baum, kein Vogel, nicht irgend eines der Tiere, sondern ein Mensch sein. Er hat mir Leben, Denken und Sprache verliehen: ich war verloren und er ließ sich zum Sterblichen herab: der Unsterbliche nahm Sterblichkeit an, ließ sich das Leiden gefallen, besiegte den Tod, und stellte auf diese Art mich wieder her: so kam mir stets seine Gnade und Barmherzigkeit zuvor: auch aus vielen Gefahren befreite mich mein Befreier. Irrte ich, so führte er mich zurück: war ich unwissend, so belehrte er mich: sündigte ich, so strafte er mich: war ich traurig, so tröstete er mich: verzweifelte ich, so stärkte er mich: fiel ich, so richtete er mich auf: stand ich, so hielt er mich: ging ich, so führte er mich: kam ich, so nahm er mich auf. Dies und vieles Andere tat mein Herr Jesus Christus an mir, wovon zu reden, immer stets zu danken, mir immer süß sein wird, um für alle seine Wohltaten ihn lieben und immer loben zu können. Denn nichts habe ich, was ich ihm für all' dieses vergelten könnte, als nur meine Liebe zu ihm von ganzem Herzen. Denn es gibt nichts Besseres und Schicklicheres, als dass man mit Liebe vergelten kann, was durch Liebe gegeben worden ist.

III. Hier tadelt sich der Sünder über den Undank gegen die göttlichen Wohltaten.

Ach, ach, ach, Herr Gott, Vater aller Barmherzigkeit, soll ich es wagen zu kommen, um vor dem Angesicht deiner Heiligen zu erscheinen, ich der Unglücklichste und Elendeste, so undankbar für so viele und so große Wohltaten, ein so unverschämter und verfluchter Vergeuder deiner Gaben? Habe ich doch so oft und so lange mich nicht gescheut, dich gerade mit deinen Wohltaten zu bekämpfen: schämte ich mich doch nicht, in deinem Sold beim Teufel Kriegsdienste so oft und so lange zu nehmen: fürchte ich mich doch nicht, deine Gaben selbst in teuflische Waffen umzuwandeln: nahm ich mir doch heraus, meiner selbst so abscheulich zu missbrauchen, und wagte ich es doch, mich dem Teufel selbst zum Knechte hinzugeben, und meine Glieder zu den seinigen zu machen, womit ich dich, den Schöpfer, Urheber und Verleiher meiner Glieder bekämpft habe.

Bin nicht ich es, mein Herr Gott, der ich mich so oft dem undankbaren Satan für Vernichtung der Seelen zum spitzigen Schwert hergab? Wie oft waffnete ich mich wider dich zum Morde Anderer? So oft bot ich meine Zunge zum Bogen der Lüge, als ich Pfeile der Verkleinerung und Schmeichelei auf Andere schoss. Ich vermag, barmherzigster und freundlichster Vater, die abscheulichen Missbräuche meiner Glieder nicht aufzuzählen, mit denen ich sowohl den Teufel bewaffnet, als auch dich, den Gütigsten und Mildesten, bekämpft habe.

IV. Vorhalt der Sünde.

Ich bin jener ganz unsinnige Mensch, den du aus dem Nichts geschaffen und aus der Masse der Sünde und des Verderbens zu einem Kind der Gnade ausgewählt, ja zum Bruder und Miterben Jesu Christi, deines teuersten eingeborenen Sohnes, unseres Gottes und Herrn angenommen hattest, sowohl zur Ehre als auch zur Verherrlichung deines Reiches, und mit so großem unverdienten Gnadengeschenke erfüllt hast; während ich dieser deiner so großen und überfließenden Lieblichkeit vergessen habe, und obgleich ich so große Güter, wie sie mir von dir übergeben worden, vor mir sehe, verachtete ich doch die Ehre deines himmlischen Reiches und deine Herrlichkeit, und verkehrte mich in einen Bastarden und ein entartetes Kind, und überließ mich dem Teufel, dass er mich durch die Mistgruben der Üppigkeit und die Dornhecken der Habsucht riss, und ich mich stieß an den Anstößen, Fluten und Stürmen des Hochmuts. Ich bin der blinde Kaufmann, da ich um die kostbarsten Reichtümer deiner Talente erbärmlich genug so großen Mangel und Blöße und ewige Seufzer eingehandelt habe; um den angenehmsten und lieblichsten Frieden den Misthaufen der Üppigkeit und die Dorngesträuche des Reichtums; um den sichersten Hafen den Sturm des Stolzes; um das ewige Licht die ewige Finsternis; um die ewigen Freuden die ewigen Schmerzen; um die ewige Herrlichkeit die ewige Schande; und habe dein Reich mit der Knechtschaft des Teufels vertauscht. Ich bin jener Mensch voll Schwäche, da ich mich den Geschossen der Sünde wie die Scheibe für den Pfeil zum Durchbohren, Verwunden und Zerreißen preisgegeben habe. Ich bin jener Mensch, der sich wie ein Aas den Höllensünden und allen unreinen Vögeln zum Zerfressen und Zerreißen aus deiner heiligen Stadt hinauswerfen ließ, welche deinen heiligen Freunden, im heiligen und lieblichsten Bund mit den heiligen Geistern des Himmels gehört, und sich dem Fraß der Lasterwürmer hingab. Wie abscheulich erscheine ich vor deinen heiligen Augen, unrein und beschmutzt vom stinkendsten und wüstesten Unrat der Üppigkeit, vom Feuer des Zorns und Geizes halb verbrannt, und mit meinen Gliedern von den Würmern des Hasses und Neides eingenommen, aufgeblasen vom Wind des Hochmuts, ein ganzes Ungeheuer, voll Geschwüre, und durchbohrt, bezeichnet mit den Merkmalen meiner so vielen und so großen Sünden von teuflischer Schändlichkeit. Ich weiß es, erbarmungsvoller Gott, dass du billig und mit allem Rechte mich verleugnen und in mir nicht deinen Sohn anerkennen kannst, aber auch nicht dein Geschöpf in der Art meiner Beschaffenheit. Denn jenes schreckliche und durch jede Art von Schändlichkeiten entstellte Angesicht gehört nicht deiner Schöpfung und Schöpfungserneuerung an: diese Abscheulichkeit ist kein Bild von dir, noch eine Ähnlichkeit von gleicher Beschaffenheit. Anders hast du mich erschaffen. In Wahrheit hat jene Ähnlichkeit mit teuflischer Schändlichkeit dargetan, dass ich bisher ein Kind des Teufels und Erbe der Qualen der Ungläubigen gewesen. So ist der Handel und Tausch, weil ich blind und voll Wahnsinn die Herrlichkeit und Ehre der Ähnlichkeit mit dir vertauscht habe, mit der abscheulichsten und nichtswürdigsten Hässlichkeit.

Nicht dazu, Heiliger Vater, hattest du mir jene deine kostbaren Talente zugestellt, dass es deine Schuld wäre, wenn ich als Gewinn jene entsetzliche Abscheulichkeit dir zustellte. Nicht dazu hast du für mich mit deinen so vielen und großen bestimmten Wohltaten gesät, um von mir Unrat und Dornen und Sündenstacheln einzusammeln. Nicht dazu hast du mich erfüllt und bereichert mit so vielen und großen Wohltaten, dass ich sie zu deiner Bekämpfung verkehren sollte. Deine Güte hatte nicht die Absicht, mich wider dich zu waffnen, noch die Macht des Teufels mit deinen Gaben zu waffnen. Siehe, wie mir so viele Wunden geschlagen worden, ohne dass ich das geringste Gefühl von meinen Schmerzen hätte. Durchbohrt von so vielen und so großen Wunden empfinde ich nichts. Ich sehe meine Blindheit, da ich über meine so viele und große Schändlichkeiten und Blöße nicht erröte.

Ich bin in Wahrheit gefühllosen und sinnlosen Herzens, da ich von meinen so vielen und großen Schäden kein Gefühl habe, und nicht im Stande bin, über meinen Tod zu trauern. In Wahrheit bin ich durch ein steinernes Herz verhärtet, da ich auch sogar nicht die mir drohenden ewigen Strafen fürchte. Ja ganz eisigen Herzens bin ich, bei dem der Brand von Wohltaten, den die Liebe des gütigsten Vaters in demselben anlegt, nicht so weit reicht, um es zu erwärmen. In Wahrheit tadle ich mich stark, da mich weder die Posaune der Predigt, noch die Donner deiner Drohungen aufzuwecken vermögen. Wo ist ein durchdringender Schmerz, ein Schmerz der Züchtigung, dass ich mit ihm jene teuflische Härte zermalmen und zerstören und den ganzen Stein jener Härte und Widerspenstigkeit zertrümmern sollte? Wo, mein Gott, ist jene Scham, mit der ich vor deinen und des ganzen himmlischen Hofes Augen übergossen werden sollte? Wo ist jene Furcht vor deiner Rache, bei der ich vor deinem Anblick ganz erbeben sollte? Wo ist jene Liebe und das Verlangen nach Wiedergewinnung deines Friedens, deiner Liebe und Gnade, in der ich entbrennen sollte? Wo ist jener Tränenbach, mit dem ich mein garstiges Wesen vor dir tilgen sollte? Wo ist die Andacht des Gebets, wodurch ich mich dir wohlgefällig und versöhnt machen sollte? Wohin soll ich mich wenden, barmherziger und erbarmungsvoller Vater, da ich nichts deiner Majestät darbringe, was von deiner Barmherzigkeit angesehen zu werden verdiente. Ich bitte dich, schaue mich nicht an; denn du wirst nichts in mir finden, als worüber du zürnen müsstest oder was nur den ewigen Tod vollständig verdiente. Wende, ich beschwöre dich, Herr, deine heilige Augen ab vom Anblick meiner Schändlichkeiten und Abscheulichkeiten, die ich, würde ich sie ganz hell und vollständig erblicken und sehen, vor zu großem Abscheu nicht ertrüge, sondern ich würde mich selber mit Abscheu fliehen. Wende weg, ich flehe, deine Nase von meinem Gestank, und wende sie zu dir selbst. Ich weiß es, Herr der Barmherzigkeit, dass diese deine Augen rein sind, und meine abscheuliche Hässlichkeit nicht anblicken können (es sei denn, du gehst mir Gutes, wodurch ich dir gefallen möchte). Ich weiß es, dass dein ganzer himmlischer Hof seine Augen abwendet und seine Ohren verstopft, da er meine Abscheulichkeiten nicht ertragen kann. Du aber, barmherziger Vater, wende dich zu jener Quelle der Barmherzigkeit, die zahl- und endlos ist, und schau auf mich, dein Geschöpf, mit liebevoller und heiterer Miene. Dein Geschöpf bin ich, Herr, und das Werk deiner Hände.

Stelle nun, ich flehe, wieder in mir her, was du geschaffen hast, und zerstöre, was ich deinen Geboten entgegen wider mich getan habe. Das also zerstöre, was du an mir hasst, und was du freilich nicht gemacht hast, sondern ich Unglücklicher. Das schaffe um und stelle her, was du selbst geschaffen und gebildet hast. Denn es ist, Herr mein Gott, deine Sache, die Unmöglichkeit zu hassen. Du hasst nichts von dem, was du gemacht hast. Das was mein ist, zerstöre in mir, was du freilich nicht gemacht hast, nämlich die Schändlichkeit meiner Abscheulichkeiten. Zerstöre mich nicht. Diese zerstöre, barmherziger und erbarmungsvoller Herr; denn diese hasst du, und hast mir verliehen, anzufangen sie zu hassen.

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