Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Fünfte Betrachtung. Wovon die Seele lebe und wovon das Fleisch lebe: und von der Herrlichkeit einer guten Seele, und vom Unglück einer bösen Seele, wann sie den Leib verlassen.

Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Fünfte Betrachtung. Wovon die Seele lebe und wovon das Fleisch lebe: und von der Herrlichkeit einer guten Seele, und vom Unglück einer bösen Seele, wann sie den Leib verlassen.

So lange die Seele im Leib weilt, lebt der Mensch dem Fleisch nach: verlässt sie aber das Fleisch, so stirbt er eben diesem Fleisch nach. Aber gleichwie die Seele das Fleisch belebt, so lange sie im Fleisch bleibt; so belebt auch das Fleisch die Seele, indem das Fleisch selbst Werke der Gerechtigkeit vollbringt. Auf diese Art scheinen sie sich gegenseitig mitzuteilen, sowohl die Seele dem Fleisch als auch das Fleisch der Seele; und indem so die Seele mit dem Fleisch wirkt, erwerben sie sich gegenseitig das Leben des ewigen Lebens. Aber die Seele tritt alsbald in den Genuss jenes Lebens nach Ablegung des Fleisches, während das Fleisch in diesen Genuss samt der Seele bei der Auferstehung am jüngsten Tage treten wird. Also, meine Seele und mein Fleisch, jauchzt dem lebendigen Gott entgegen, naht euch Gott, eurem Schöpfer, naht euch und lasst euch erleuchten; und handelt nun nicht mehr so, dass ihr euch schämen müsst, sondern bestrebt euch immer so zu handeln, dass ihr euch auf ewig freuen mögt. Ich ermahne, ich erinnere euch, jetzt nicht vergeblich die Gnade Gottes hinzunehmen, der, wenn er sich auch jetzt viel von euch gefallen lässt, was ihm sehr missfällt, wie ihr glauben dürft, sich das nicht immer gefallen lässt. Denn er ist ohne Zweifel langmütig im Vergelten und genau im Erforschen des Herzens und der Nieren. Jetzt lässt er sich vieles gefallen, indem er als der Sanftmütigste auf unsere Besserung wartet: aber wenn wir uns jetzt nicht bessern, wird er uns wie der Gerechteste verdammen und er, der jetzt so freundlich gegen uns ist, dass er uns seine Brüder und Freunde nennt, wird uns dann bei der letzten Untersuchung als solche, die er nicht kennt und ihm durch gute Werke nicht bekannt sind, wie seine Feinde ansehen.

Meine Seele und mein Fleisch, möchtet ihr endlich jetzt erwachen, indem ihr immer und überall an eure letzten Dinge denkt. Vielleicht wenn ihr dieses tut, werdet ihr nicht leicht sündigen. Befolgt ihr jetzt meine Ermahnung, so mögt ihr ruhig sein; denn ihr werdet in unaussprechlicher Freude jauchzen und fröhlich sein, während viele trauern werden, die jetzt elend lachen und sich freuen. Habt ein wachsames Auge gerade auf euere Werke. Sind sie recht und Gott wohlgefällig, so freut euch; sind sie bös und Gott nicht angenehm, so bessert sie alsbald. Lasst eure Augen nicht einschlafen, eure Augenlider nicht schlummern. Offen steht die Grube des Verderbens: leicht fällt darein, wer jetzt nicht vorsichtig sich in Acht nimmt. Sünde und Bosheit, Torheit und Eitelkeit stürzen jetzt leicht in sie; wer einmal in sie gesunken ist, erhebt ewig sich nicht mehr daraus. Sowie für die Bösen und immerwährenden Übeltäter der ewige Untergang offen steht; so steht für die Guten und die in guten Werken Beharrenden der Eingang in das Paradies offen, wo jeder, der einmal Aufnahme in dasselbe gefunden hat, ewig in Freude und Fröhlichkeit bleiben wird. Auf diese Art erheben nicht nur die guten Werke den Guten aufwärts in die Höhe, sondern die bösen Werke versenken auch den Bösen abwärts in die Tiefe.

Betrachten wir nun aber mit möglichstem Fleiß, in welcher Ordnung die guten Werke die Seele dessen, der gut gelebt hat, zum Himmel erheben, und die bösen Werke die Seele des Sünders zur Hölle ziehen. Sobald die reine Seele vom Körper scheidet, erblickt sie alle ihre Werke, und weil sie sieht, dass alle gut sind, hat sie eine unsägliche Freude. Alsbald nimmt sie ein Engel und zwar der, der ihre Augen hielt, dass sie nicht auf Eitelkeit sah; es umarmt sie der, der ihre Ohren taub machte, dass sie auf keine Bosheit hörte; es nimmt sie in seinen Schutz, der ihren Mund bewahrte, dass sie keine Lüge redete; es freut sich mit ihr der, der sie in Schutz nahm, dass sie mit dem Geruchs- oder Tastsinn nicht sündigte; und so nach allen Seiten hin heiter und fröhlich umgibt er sie, und stellt sie vor den Thron der göttlichen Klarheit, damit sie sich dort endlos freuen möge. Es begegnen ihr andere Engel und andere Heilige, welche daselbst vor dem Angesichte der göttlichen Majestät stehen; und da sie sie als ihre Genossin in guten Werken und als Freundin kennen, nehmen sie sie freudig in die Arme der aufrichtigsten Liebe auf, und indem sie ihr gleichsam die einzelne Freuden aller dort Zusammenwohnenden zeigen, sprechen sie so zu ihr: Siehe du bist unsere Freundin, unsere Genossin, weil du Gott treulich gedient, und dich männlich angestrengt hast in Erfüllung seiner Gebote, ruhe nun einmal aus von der Arbeit und genieße von nun an bis in Ewigkeit mit uns der ewigen Freuden.

Im Gegenteile aber nehmen alsbald die Seele des Sünders, wenn sie den Körper verlassen muss, die Engel Satans in Empfang, binden sie gewaltig mit feurigen Ketten und stoßen sie noch gewaltiger von allen Seiten und reißen sie zu den Qualen der Hölle, wo Satan selbst in der Tiefe begraben drunten liegt. Dort herrscht Weinen und Zähneknirschen; dort sind Feuer, Stricke, Sturmwind der Anteil des Bechers der Sünder. Hierauf reißt sie Satan zu sich, speit in sie Feuer voll Gestank, gebietet seinen Dienern, sie von allen Seiten zu beängstigen und sie hierauf in dieser ihrer Angst in die Qualen selbst hinein werfen, um dort endlos mit ihnen gequält zu werden, und endlos gequält unausgesetzt in den Schmerzen selbst zu sterben. Dann kommt die unglückliche Seele unter den Strafen der Qualen selbst, überall bedrängt von den höllischen Rachegeistern, endlich zu sich, sieht alles Böse, was sie getan, und schreit in ihrem Unglück. Ach, ich elende, elende! warum trat ich je ins Leben, ich elende, die ich elend gequält werde von allen Seiten durch so viele Arten von Foltern? Würmer, Würmer, die ihr so grausam an mir nagt, schont, schont doch; habt Erbarmen mit mir elenden, die so viele und andere so unbändige Qualen erduldet. Ach, ich elende, elende! ich wünsche mir nicht nur den Tod, sondern sich kann doch nicht sterben im Sterben.

Nun bekomme ich elende Alles, worin ich mittels des Gesichts, des Geschmacks, des Gehörs, des Geruchs, des Gefühls mich versündigt habe. Jedoch nützt es der unglücklichen Seele in ihrem jämmerlichen Schmerz, in ihrer so späten Reue, in ihrem so unseligen Wahnruf nichts, dass sie alsdann sich so großer Traurigkeit hingibt. Sondern was sie, so lange sie im Leben war, verdient hat, das bekommt nun die elende und sündige in den Höllenschmerzen selbst.

Siehe, meine Seele und mein Fleisch, merkt das sorgfältig, indem ihr es aber merkt, stellt ein wahrhaftiges Gericht an, und unterscheidet, was das Beste, was das Nützlichste zum Befolgen sei: Gutes zu tun und Gutes zu bekommen? oder Böses zu tun, und Böses zu erhalten. Wenn ihr nicht ganz unsinnig seid, so werdet nicht anders antworten, als: Gutes zu tun und Gutes zu bekommen. Also tut Gutes; um in den Besitz jenes Gutes gelangen zu können, von dem alles Gute stammt, nämlich das Gut jedes Gutes, das nur gut sein kann. Vieles Gute hat unser Schöpfer uns gegeben, vieles uns zu Gebot gestellt; aber kein Gut ist so kostbar, so wünschenswert für jeden Weisen, als jenes Gut, dem sich durchaus nichts Böses nahen kann. Dieses Gut ist der Schöpfer selbst, der nur immer gut ist. Wenn ihr im Stande sein werdet, mit seiner Gnade dieses Gut zu bekommen, so werdet ihr alle andern Güter in ihm haben. Habt ihr aber alle andern Güter, nur jenes allein nicht, so müh t ihr euch vergeblich ab, und indem ihr auf das Törichtste dem Winde nachgeht, werdet ihr zuletzt nicht Wahrheit, sondern Eitelkeit finden.

So wie ihr aber seht, wenn ihr es recht betrachtet, ist die gegenwärtige Herrlichkeit wie eine mit Wind gefüllte Blase, die so lange man sie so gefüllt in den Händen hat, schön und hell in das Auge fällt; wird aber zufälliger Weise ein ganz kleiner Druck auf sie gemacht, so bleibt keine Klarheit, sondern Leere und Wind in den Händen zurück. Merkt es also und wie ich zu Anfang dieser Betrachtung euch ermahnt habe, denkt immer an eure letzten Dinge; denn bei diesem Gedanken und bei der beständigen Furcht vor eurem Scheiden, werdet ihr nicht leicht sündigen, und bei einem solchen Leben bis ans Ende werdet ihr mit dem Schluss zeitlichen Vergnügens, das bei eurer Furcht vor euren Augen wie ein Wind schwebte, keine Nichtigkeit, sondern die Wahrheit, die Christus ist, finden, zu der euch der gelangen lassen möge, der euch erschaffen hat. Amen.

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