Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Neunzehnter Vortrag. Der Anbruch der letzten Woche.

Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Neunzehnter Vortrag. Der Anbruch der letzten Woche.

Sechs Tage vor dem Passa kommt Jesus nach Betanien (s. Joh. 12,1). Da in diesem Jahr das Passafest mit dem Abend des Donnerstags beginnt, so gelangt Jesus am Freitag Abend mit dem Pilgerzuge in Betanien an. Der folgende Tag ist also ein Sabbat, an diesem Ruhetag weilt Jesus in Betanien und dieser Tag bezeichnet eine große Wende, von der alle Evangelisten mit Ausnahme des Lukas berichten und zwar die beiden Ersten so, daß sie, ohne auf die Zeitfolge Rücksicht zu nehmen, das Ereigniß am Sabbat in Betanien in unmittelbare Verbindung setzen mit der Geschichte der letzten Nacht (s. Matth. 26,6-13. Marc. 14,3-9).

Mit einem wunderbar lieblichen Glanz eröffnet sich dieser Sabbat in Betanien. Hier wohnen ja die drei Geschwister, welche Jesus lieb hatte, hier stand das Trauerhaus, welches Jesus durch Wundermacht in ein Freudenhaus verwandelt hatte, hier lebt Lazarus, den er vor Kurzem durch seinen Allmachtsruf aus dem Grabe wiederum in den Kreis der Lebendigen eingeführt. In Betanien finden sich aber auch außer dem Hause der drei Geschwister noch andere Spuren von Jesu Liebe und Macht. Es wohnte hier Simon, genannt der Aussätzige, derselbe lebt mit dem Hause der drei Geschwister in befreundetem Verhältniß. Da Simon jetzt in freiem Verkehr mit Menschen steht, so muß der Aussatz, der bekanntlich eine strenge Absonderung zur Folge hatte, geheilt sein und sein Beiname sich auf seine Vergangenheit beziehen; und bei der Seltenheit von Heilung des Aussatzes liegt die Vermuthung sehr nahe, daß Simon von Jesus bei einer seiner früheren Anwesenheiten in Betanien auf wunderbarem Wege von seiner Krankheit befreit worden sei. Dieser Simon nun läßt es sich nicht nehmen, Jesum mit seiner Jüngerschaft zum Gastmahl einzuladen, zugleich aber die drei Geschwister mitzubitten. Der Sabbat, der nach jüdischer Anschauung, die noch heute lebendig ist, vorzugsweise als Freudentag gilt, wurde auch sonst für größere Gastmähler gewählt (s. Luk. 14,1.7); der hier gemeinte Sabbat hat für Jesum und seine Jünger noch erhöhte Bedeutung, weil er der Ruhetag nach vollbrachter Reise ist. Man denke sich bei diesem sabbatlichen Gastmahle die auserlesene Gesellschaft: Jesus, mit den zwölf Aposteln auf dem letzten Gange nach Jerusalem halten an diesem Tisch ihre sabbatliche Rast, Lazarus, der von Grab und Tod Erstandene, sitzt neben ihnen, Maria, die Sinnige, ist zugegen, Martha, die Rüstige, läßt sich auch hier das Dienen nicht nehmen (s. Joh. 12,2), und der sie Alle in sein Haus aufgenommen und an seinen Tisch gesetzet hat, ist ein Mann, der von dem Aussatz, welche Krankheit nach israelitischem Gesetz als ein wandernder Tod angesehen und behandelt wurde, durch Jesu Hand befreit und in das volle Leben der menschlichen Gemeinschaft wieder eingeführt worden war. Dieses ist das Bild jenes sabbatlichen Freudenmahles in dem Hause Simons des Aussätzigen.

Doch wo Jesus weilt, kann Ruhe und Freude niemals unbeweglich sein, sondern wird nothwendig durch seinen bewegenden Geist belebt und in Selbstthätigkeit versetzt. So geschieht es auch hier und zwar erfolgt auf dem ruhigen Hintergrunde dieses unvergleichlichen Beisammenseins eine zwiefache Bewegung, die in ganz entgegengesetzten Richtungen auseinandergeht. Jede dieser Richtungen entspricht in ihrer Art dem Charakter dieser durchaus einzigen Gesellschaft und Gelegenheit. Zuerst tritt an diesem Orte hervor eine Persönlichkeit, die wir bereits kennen, die wir aber nur nach ihrer schweigenden und verborgenen Seite kennen gelernt haben. Während hier sich Alle der Ruhe und Freude hingeben und nur dem Momente leben, tritt diese Persönlichkeit handelnd auf und verrichtet ein Werk, dem der Herr ein Denkmal errichtet hat, wie keinem anderen Werk. Die hier handelnde Person ist Maria, die Schwester der Martha und des Lazarus. Wir erinnern uns, daß Maria zuerst in unserer Geschichte auftritt, als die zu Jesu Füßen Sitzende und seinem Worte Lauschende. Jesus bezeichnet dieses ihr Verhalten als, die Wahl des guten unverlierbaren Theiles, als das Erfassen des Einen, was noth ist (s. Luk. 10,42). Schon dies muß uns gewiß machen, daß die Sinnigkeit und Insichgekehrtheit der Maria durchaus Nichts mit träumerischem, grüblerischem, krankhaftem Wesen gemein hat, daß diese Geisteseigenthümlichkeit vielmehr etwas durchaus Gesundes, eine wahrhaft belebte und innerlich kräftige Sinnesart ist. Es zeigt sich dies auch schon bei der zweiten Anwesenheit Jesu in Betanien. Beide Schwestern sprechen mit denselben Worten den Glauben, aus, daß, wenn Jesus anwesend gewesen wäre, der Bruder nicht hätte sterben können. Aus dieser Identität der Bekenntnisse dürfen wir schließen, daß dieser Glaube bei der Einen der beiden Schwestern entstanden und seinen Ausdruck empfangen hat und die andere von dieser mit dem Glauben auch den Ausdruck aufgenommen hat. Der Ursprung dieses Glaubens und dieses Bekenntnisses ist nun ohne Zweifel in Maria, denn einestheils wird Martha in ihrer Zuversicht wankend, während wir von Maria Nichts dergleichen erfahren, anderentheils ist der Anblick der knieenden und weinenden Maria ein für die Bewegung und das Handeln Jesu besonders hervorgehobenes Moment (s. Joh. 11,33). Bei dem Gastmahl des Simon finden wir nun die Maria zum dritten Mal und hier tritt ganz offen und thatsächlich zu Tage, was in der Tiefe ihres Inneren ruht und sich gebildet. Nicht bloß ist Maria hier die allein Handelnde, sondern was sie thut, ist so eigenthümlich und ursprünglich in ihr entstanden, daß es keinen Vorgang hat und keine Nachfolge zuläßt; und es zeigt sich hier namentlich im Vergleich mit Martha recht deutlich die Eigenthümlichkeit desjenigen Thuns, welches aus der Tiefe des Geistes erzeugt wird. Martha finden wir immer in Bewegung und Geschäftigkeit, sie thut eben diejenigen Werke, auf denen der richtige Fortgang des menschlichen Lebens beruht, und in diesem Thun treffen wir sie auch bei dem Gastmahle des Simon. Das, was Maria thut, füllt in dem gewöhnlichen Gang des menschlichen Lebens keine Lücke aus, wenn es fehlt, wird es nicht vermißt, und ist es da, so hat man weder Namen noch Maßstab für solches Thun, und doch führt Maria dieses allen Anwesenden unbegreifliche Werk mit einer Zuversicht und Klarheit aus, als verstände es sich ganz von selber und dürfte und könnte es gar nicht anders sein.

Maria nahm ein alabasternes Gefäß mit ächter kostbarer Nardensalbe, trat hin zu Jesu während er nach damaliger Sitte bei Tische lag, zerbrach das Gefäß und schüttete ihm die Narde auf Haupt und Füße und trocknete dann die Füße mit ihrem Haupthaar (s. Joh. 12,3). Bekanntlich bringt Lukas eine Erzählung von einer ähnlichen Salbung im Hause Simons des Pharisäers (s. Luk. 7,36-50) und diese Aehnlichkeit hat sogar Einige auf den Gedanken gebracht, es sei dieselbe Begebenheit. An Identität ist nun schon deshalb nicht zu denken, weil die im Hause des Pharisäers Salbende als eine Unbekannte und dazu als eine große Sünderin eingeführt wird, hier dagegen die Salbende von Johannes ausdrücklich als Maria, die Schwester des Lazarus bezeichnet wird, Matthäus und Marcus nennen sie zwar nicht, aber einfach aus dem Grunde, weil sie des ganzen Verhältnisses Jesu zu den drei Geschwistern in Betanien überall keine Erwähnung thun. Uebrigens obwohl wir die Annahme der Identität beider Erzählungen für durchaus unbegründet halten, so ist die Vergleichung jener Erzählung für das Verständniß der Salbung in Betanien um so lehrreicher, je isolirter der ganze Vorgang dasteht. Auch jene Salbung im Hause des Pharisäers ist etwas ganz Ungewöhnliches. Ein in der ganzen Stadt als Sünderin bekanntes Frauenzimmer dringt während des Gastmahls, bei welchem sie Jesum zugegen weiß, in das ihr ganz fremde Haus des Pharisäers, tritt von hinten zu Jesu heran, beginnt zu weinen, benetzt seine Füße mit ihren Thränen, trocknet sie dann mit ihrem Haar, küßt sie unaufhörlich und salbet ihn. Da sich gleich zeigt, welch ein tiefer Sinn in dieser ungewöhnlichen Handlung liegt, so merken wir recht bei solchen Gelegenheiten, daß Jesus für die Offenbarung seiner Macht und Liebe nothwendig einen freieren Spielraum des socialen und öffentlichen Lebens gebrauchte, als die Enge der modernen Welt mit ihren ängstlichen conventionellen und polizeilichen Rücksichten ihn gewähren kann. Freilich ist das, was dort geschah, auch nach dem Maßstab des antiken Lebens in hohem Grade ungewöhnlich und Simon, der Pharisäer, nimmt Anstoß daran, aber dieser Anstoß dient nur dazu, daß Jesus sich mit seinem heiligen Munde über das Geheimniß der überschwenglichen Liebe dieser Sünderin ausspricht, und damit zeigt, daß nur deshalb die Wenigsten sich von solcher Liebe einen Begriff machen können, weil ihr Herz nicht weit und groß genug ist. Das ist klar, in den engen Räumen unseres modernen Lebens hätte eine solche Liebe gar keine Möglichkeit gefunden, sich zu offenbaren. Und doch ist diese Offenbarung der überschwenglichen Liebe der Sünderin, die ohne alle Menschenrücksicht in diesem ihrem Verhalten lediglich einem gewaltigen inneren Drange folgt, nichts Anderes, als ein Reflex der Offenbarung derjenigen Liebe, die in Christo Jesu ist. Diese Liebe Jesu, welche durch Selbstversenkung und Selbsthingabe der tiefsten Noth der Menschen, wo sonst alle Mittel und Hülfen schlechthin nichtig sind, gründlich und vollständig abhilft, hat die Sünderin an sich selbst erfahren. Nach der Tradition, deren Werth wir sonst auf sich beruhen lassen müssen, ist diese Sünderin Maria Magdalena, von welcher Jesus sieben Teufel ausgetrieben hatte (s. Marc. 16,9. Luk. 8,2). Wenn wir den Herrn dahinwandeln sehen mit der Flamme des ewigen Liebesfeuers in seinem Herzen und dem brennenden Verlangen, dieses Feuer anzuzünden in der vor Kälte der Selbstsucht, Isolirtheit und Zerrissenheit erstarrten Menschenwelt (s. Luk. 12,49) und nun finden, wie sich die Menschen vor ihm verschließen und oft selbst seine Treuesten in Trägheit und Unverstand des Herzens für den belebenden und erwärmenden Hauch seiner Liebesmacht keine Empfänglichkeit haben, so ergreift uns ein tiefes Wehe, ein unendlicher Schmerz über die Versunkenheit und Verdorbenheit unseres Geschlechtes durchbohrt unsere Seele und der tiefste Grund unseres Gewissens ist eine laute Klage über unsere eigene Verschlossenheit und Herzenshärtigkeit. Wer das erfahren hat, dem kann eine reinere Freude und tiefere Genugthuung nicht zu Theil werden, als wenn er sieht, daß es bei dieser allgemeinen Starrheit und Stumpfsinnigkeit, von der selbst die Besten nicht frei sind, hier und da einzelne Seelen gibt, welche den Strahl der göttlichen Liebe des Herrn rein und unreflectirt aufgenommen und eben deshalb ein Verhalten und Betragen zeigen, bei welchem der sonst übliche Maßstab für menschliches Benehmen schlechterdings nicht mehr ausreicht. Diese Seelen sind es, welche die Ehre unseres Geschlechtes, da, wo es auf die letzte und schärfste Probe gestellt wird, retten. Oder eigentlich um auf das Erste und Letzte wieder zurückzugehen, diese Seelen sind der Spiegel, in welchem sich uns das Bild der Liebe Jesu am verständlichsten und zugänglichsten entgegenleuchtet, in deren Verhalten wir am sichersten erkennen, was Jesus ist, in deren Gegenliebe wir am zuthunlichsten die Macht der Liebe merken können und sollen, die auch uns aus der Erstarrung des grausen Todes retten kann und will. Darum begreifen wir auch vollkommen, warum Jesus sich mit solchem Ernst dieser Seelen annimmt, welche unbekümmert um den Spott und Hohn der Welt getrost und sicher dem Panier der Liebe folgen. Die Sünderin handelt, als wäre sie mit Jesu allein in der Welt, das ganze Aufsehen, welches ihre Erscheinung im Hause des Pharisäers macht, ist für sie gar nicht vorhanden, sie redet kein Wort, denn was sie fühlt, kann sie Menschen mit Worten nicht verständlich machen, die Sprache ihrer Seele sind ihre Thränen, ihre Küsse auf die Füße Jesu, ist ihre Ehrenbezeugung gegen ihren Retter mit dem Besten, was sie hat. Sie weiß, daß Jesus diese Sprache versteht, ob sie noch sonst Jemand verstehen wird, kümmert sie nicht. Als nun die argen Gedanken in dem Herzen des Pharisäers über diesen Vorgang aufsteigen und ohne Zweifel auch die übrige Tischgenossenschaft ihr Befremden nicht verbirgt, da tritt Jesus für die Sünderin auf mit einer so gewaltigen Schutzrede, daß Simon und Alle, welche sich schon zu Gericht über die Sünderin hingesetzt hatten, von ihrem Stuhl heruntersteigen müssen und die Sünderin als diejenige hingestellt wird, vor welcher alle Anwesenden sich zu schämen und zu beugen haben. „Wem viel vergeben ist, der liebet viel, wem wenig vergeben ist, der liebet wenig.“ Dem Weibe selber aber sagt er: „deine Sünden sollen erlassen sein“ und abermals: „dein Glaube hat dich gerettet, gehe hin zum Frieden.“

Ein Analogon zu der Salbung der Maria in Betanien ist allerdings diese Salbung der Sünderin und kann uns insofern für das Verständniß der vor uns liegenden Erzählung nützlich sein, übrigens will aber diese daneben mit ihrem eigenen Maße gemessen sein. Maria von Betanien ist keine Sünderin, das Haus der drei Geschwister prangt in einem eigenthümlichen Glanz seltener Unschuld, Lieblichkeit und Reinheit, und Maria ist die Krone dieses Hauses, sie ist unstreitig eine der Reinsten und Unbeflecktesten ihres ganzen Geschlechtes. Also nicht das Bewußtsein, daß ihr vor vielen Anderen viele Sünden vergeben sind, ist der Grund ihrer Liebe, ihre Liebe hat eine andere Gestalt. Freilich spricht sie bei ihrer Salbung ihre Gedanken und Gefühle ebenso wenig aus, wie die Sünderin, und dies ohne Zweifel aus demselben Grunde. Sie weiß, daß Jesus sie ohne Worte verstehen wird, daß sie aber den Uebrigen sich auch mit Worten nicht verständlich machen kann. Maria ist zwar nicht in einem fremden Hause, nicht in pharisäischer Umgebung, einen ausgewählteren, geheiligteren Kreis kann es gar nicht geben, wie wir ihn am Tische Simons des Aussätzigen in Betanien versammelt finden. Aber dennoch fühlt sie, daß das Geheimniß ihres Inneren sich auch in diesem Kreise nicht aussprechen läßt, und sie hat Recht gehabt, Jesus ist es allein, der das Werk der Maria aussprechen und verständlich machen kann, wie er auch das Thun der Sünderin den Pharisäern erklären mußte. Jesus sagt: „Maria hat solches vorweg gethan an meinem Leibe für den Tag meines Begräbnisses“ (s. Matth. 26,12. Marc. 14,8. Joh. 12,7). Während Salome an das Thronen Jesu auf dem Stuhle seiner Herrlichkeit denkt und am liebsten ihre Söhne ihm zur Rechten und zur Linken sehen möchte, während Viele den Anbruch der herrlichen Offenbarung des Reiches bei dem Einzug Jesu in Jerusalem erwarten, während Jesus jetzt mit denen zu Tische sitzt, welche er aus dem Tode ins Leben zurückgeführt, und in befreundetem Kreise Sabbat feiert, denkt Maria an sein Begräbniß und zwar mit solcher lebhaften Vergegenwärtigung, als wäre Jesus bereits gestorben. Das ist allerdings ein tiefes, unaussprechliches Geheimniß, und zwar ein Geheimniß der Liebe. Wir haben früher bei verschiedenen Gelegenheiten gesehen, daß Jesus für die Ankündigung seines Leidens, Sterbens und Auferstehens bei den Jüngern kein eingehendes Verständniß finden konnte, hier treffen wir nun eine Seele, die, obwohl sie gewiß nur mehr Andeutungen, als ausdrückliche Erklärungen Jesu von dem bezeichneten Inhalt vernommen hat, die Sache selbst verstanden hat und sie im tiefsten Herzen bewegt. Bei der tiefen Sammlung und Sinnigkeit der Maria für Jesu Wort, die wir an ihr kennen, kann es nicht fehlen, daß die Andeutungen Jesu von seinem Leiden, die ihm ja, wie wir wissen, in der letzten Zeit, während welcher er in Betanien verkehrte, nahe lagen, sofort beherzigt hat, sodann war ihr bei ihrer Aufmerksamkeit für Alles, was Jesum betraf, ohne Zweifel Etwas von den feierlichen Ankündigungen Jesu über seinen Ausgang zu Ohren gekommen, außerdem wußte sie natürlich von der feindlichen Aufregung, welche in dem nahen Jerusalem in Folge der Auferweckung ihres Bruders eingetreten war. Aus diesem Allem stand es ihr klar vor der Seele: Jesus zieht nach Jerusalem zum nahebevorstehenden Feste und wird getödtet werden durch die Hand der jüdischen Obrigkeit. Dann ist sein Leib in den Händen seiner Feinde, wer wird ihn ehren, wer wird ihn salben? Was thäte sie lieber, als dann nach Jerusalem eilen, um seinem Leibe die letzte Ehre anzuthun? Aber wie kann sie darauf rechnen, zu dem gelangen zu dürfen, dessen sich die boshaften und gewaltigen Feinde bemächtigt haben? Dableibt ihr Nichts übrig, als jetzt das zu thun, was ihr nachher unmöglich sein wird, denn daß sie den nicht ehren sollte, der im Gutesthun sein Leben dahinzugeben entschlossen ist, das ist ihr rein undenkbar. Maria macht sich keine Gedanken darüber, was aus dem Reiche Christi werden soll, wenn er in die Hände der Feinde fällt, wenn er selber stirbt und begraben wird, sie sieht in dem Allen, was ihm widerfahren soll, nur die göttliche Reinheit und Kraft seiner Liebe, und kann nicht anders, als dieser Liebe mit ihrer Gegenliebe antworten. Dem geraden Blick und dem schlichten kindlichen Thun dieser Gegenliebe steht keine Dogmatik und keine Eschatologie im Wege, und Maria zeigt damit für alle Zeiten den einzigen und wahren Grund, auf dem alle richtige Lehre von Christo ruhen soll. Daraus erklärt sich nun auch das große und helle Lob, welches Jesus der Maria spendet. „Ein gutes Werk,“ sagt er, „hat sie an mir gethan“ (s. Matth. 26,10). An der Kanaaniterin und an dem Hauptmann von Kapernaum hat der Herr den Glauben gelobt, an Petrus hat er sein gutes Bekenntniß gepriesen, aber ein gutes Werk eigens zu loben und als solches hervorzuheben, hat er sonst nicht Gelegenheit gefunden. Freilich ist das gute Werk das Höchste und das Letzte; daß der Wille Gottes im Himmel wirklich geschehe (s. Matth. 6,10), daß der Wille des Vaters, der den Sohn gesandt hat, wirklich gethan werde auf Erden (s. Matth. 7,21), darum ist der Sohn Gottes vom Himmel gekommen, und nicht dazu ist er erschienen, daß in den Seinen Alles bleibe bei guten Wünschen und Vorsätzen, bei schönen Worten und vielverheißenden Anfängen und wir uns hinsichtlich des Uebrigen getrösten und beruhigen dürften. Nein, Jeder, der in Christo ist, muß in der Kraft Christi in das große Werk Gottes eintreten, er muß wirken, so lange es Tag ist, und muß sein Tagewerk zu Stande bringen, muß das gute Werk thun, das ihm aufgetragen ist. Wie nun demnach Maria das höchste Ziel des Glaubens darstellt, ebenso auch den richtigen Anfang. Dieselbe Maria, welche uns nach den Worten Christi die rechte Höhe zeigt, offenbart uns auch gleichfalls nach dem Ausspruch des Herrn den verborgenen Grund, in welchen eingesenkt sein muß Alles, was zu dieser Höhe gelangen will. Während Martha sich viel Mühe macht, sitzt Maria in sich gekehrt und höret der Rede Jesu zu; während später am Grabe des Bruders Martha viele Worte spricht, aber sich selber verwirrt, begnügt sich Maria mit einer einfachen Aussage, und beharrt mit ihrem Glauben in gerader Richtung; während Martha für ihr vieles Wirken und Dienen nicht ein einziges Lob von dem Herrn erhält, braucht Maria nur einmal und zwar stillschweigend ein Werk zu thun, um ein Lob zu empfangen, wie die Evangelien kein zweites berichten. Der Herr geht aber noch weiter in seiner lobenden Anerkennung, er fügt hinzu: „wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen, was sie gethan hat zu ihrem Gedächtniß“ (s. Matth. 26,14). Ein Ausleger hat mit Recht bemerkt, daß kein Fürst der Erde im Stande ist, Jemandem ein solches ehrendes und bleibendes Denkmal zu errichten. Daß übrigens Jesus die Predigt des Evangeliums in eine so innere und nothwendige Beziehung zu dem Gedächtniß der Maria bringt, wird uns aus dem verständlich sein, daß wir gefunden haben, Maria sei die Erste und damals die Einzige gewesen, welche die sterbende Liebe Jesu zu Herzen genommen. Endlich dient auch noch das Wort Jesu, welches er den Jüngern vorhält: „mich habt ihr nicht allezeit bei euch,“ zur weiteren Verständigung über den Sinn, in welchem Maria hier handelt. Ihr steht es lebendig vor Augen, daß sie Jesum nicht immer haben wird, sie weiß es, daß sie ihn zum letzten Male hat und sieht, sie weiß es, daß er zum Tode geht und in das Grab versinkt. Bei diesem Wissen hat ihre Liebe gethan, was sie vermocht hat, wie der Herr bei Marcus sagt (s. Marc. 14,8).

Der heiligen Tiefe der Maria steht gegenüber die unheilige Tiefe des Judas Ischariot. Maria handelt und redet nicht, ihr Thun ist der reine Ausdruck ihres Inneren und ist ohne Worte verständlich. Judas thut hier zum ersten Mal den Mund auf, aber er braucht die Sprache nach der Regel, welche ein großer Diplomat aufgestellt hat, daß nämlich die Worte nicht dazu dienen sollen, den Sinn zu offenbaren, sondern ihn zu verdecken. Wir wissen bereits, was seit längerer Zeit in Judas vorgeht, bei all seiner Vorsicht und Klugheit, mit welcher er den besten Schein seines Jüngerthums zu erhalten weiß, hat er in der Gemeinschaft Jesu und seiner Mitapostel fortwährend ein Brandmaal im Gewissen, sein Stand muß ihm in dieser Gemeinschaft immer unleidlicher werden, zumal in der letzten Zeit Alles auf eine Krisis hindeutet, bei welcher das Innere offenbar werden muß. Es mag auch wohl sein, daß Judas, da ihn nicht die Liebe und die Begeisterung beherrscht, sondern der berechnende und nüchterne Verstand, von den Ankündigungen Jesu über sein Leiden weit mehr verstanden hat, als alle Uebrigen, je mehr er aber von einem solchen Ausgange ahnet, desto mehr muß er sich innerlich von Jesu lossagen. Außerdem hat er ja aus der Rede zu Kapernaum entnehmen müssen, daß der Herr ihn längst durchschaut hat (s. Joh. 6,70). Alles zusammengenommen, muß sein Herz gegen den Meister, der im Anfang seinen umfassenden und klaren Verstand durch die Großartigkeit und Kraft seiner Gedanken und Verkündigungen gewonnen hat, immer kälter und gleichgültiger werden, und was ihm immer unfaßlicher und auch, unerträglicher werden muß. das ist die, Liebe zu Jesu. Diese sieht er nun in einer ganz neuen und überschwenglichen Weise in dem Thun der Maria. Verdruß und Widerwille über Liebesäußerungen gegen den, den er nicht lieben kann, dessen Nähe ihm fortwährend Pein und Unruhe verursacht, hat schon lange sein Herz erfüllt, die Salbung der Maria ohne allen erkennbaren Grund, mit einem solchen unverhältnißmäßigen Kostenaufwand macht das Maß seiner inneren Verbitterung übervoll, und da muß er das Naturgesetz: „wessen das Herz voll ist, dessen geht der Mund über“ (s. Matth. 12,34) erfüllen. Aber wie darf er es wagen, die finsteren Gedanken seines Herzens in diesem heiligen Kreise offenbar werden zu lassen? Würde ihm hier zum ersten Mal diese Aufgabe, so würde er davor zurückschrecken. Aber er ist schon in der Kunst geübt, unheilige Gedanken zu hegen und zu nähren, während ihn ringsum Alles an Gottes Heiligkeit erinnert, er hat bereits eine große Fertigkeit erlangt, den Abgrund seiner Finsterniß mit einem glänzenden Firniß scheinheiligen Schweigens und Redens tief zu verdecken. Solche dumme Reden, wie Petrus, Johannes und Jakobus zuweilen führen, kommen nie über seine Lippen, was er denkt, ist zwar weit schlimmer, als all der Unverstand, den jene aussprechen, aber so scharf hat er den Sinn des Meisters studirt, daß er immer weiß, was sich zu reden geziemt und was nicht, und nach dieser Richtschnur seines berechnenden Verstandes weiß er sich allewege zu halten. Darauf beruht es auch, daß Judas sich unter seinen Mitaposteln eines nicht geringen Ansehens erfreut. Freilich geht er nicht leicht in irgend Etwas voran, dafür aber vergreift er sich nicht, was den Allerangesehensten unter ihnen so leicht begegnet, weil sie sich von ihrem Gefühl hinreißen lassen, dagegen, wenn Judas sich einmal äußert, so ist es immer wohl überlegt und keinem Tadel ausgesetzt. Wenn wir nun hinzunehmen, welch eine Umgebung es war, in welche r sich Judas bewegte, und welches Gebiet der gegenseitigen Unterhaltung und Kundgebung hier vorlag, so werden wir nicht zu viel sagen, daß es einen vollendeteren Meister in der Verstellungskunst niemals gegeben hat. Und in der That ein neues und auserlesenes Meisterstück ist es, was er hier beim Gastmahl Simons aufführt, es ist das erste, von welchem wir Zeugen sind, aus dem aber sein ganzes bisheriges Verhalten klar ersehen werden kann. Judas kann seinen Aerger über die seinem Meister bewiesene Ehre und Liebe nicht länger zurückhalten, ebenso wenig aber darf er ihn als solchen aussprechen. Was thut er? Er kleidet, seinen Aerger so geschickt ein, daß Niemand seine Bosheit merkt, sondern Jedermann seine Bemerkung für eine sehr angemessene und wohlwollende hält. Er feiert den Triumph, daß seine Mitapostel sich seiner Erklärung anschließen, weshalb Matthäus und Marcus das Wort des Judas ohne weiteren Zusatz als das Wort der Apostel referiren. Judas berechnet nämlich in der Geschwindigkeit, daß die kostbare Narde, welche Maria verschüttet, ungefähr dreihundert Denare oder reichlich sechzig Thaler werth sei; in seinem Unwillen, der nicht verstellt ist, bezeichnet er nun diesen ungeheuren Aufwand als eine Verschwendung, indem er diese Behauptung durch affectirtes Wohlwollen für die Armen zu stützen und plausibel zu machen sucht. In der That leuchtet diese Betrachtung den Jüngern ein und sie theilten seinen Unwillen über den unnützen Aufwand der Maria, indem sie die Sorge des Judas um die Armen für Ernst nahmen. Da Judas, wie Johannes eben an dieser Stelle bemerkt, ein Dieb und Betrüger war, so lag ihm Nichts ferner, als die Fürsorge für die Armen, aber das ist eben seine teuflische Klugheit, daß er ausgerechnet hat, den wahren Grund seines Unwillens über die Maria könne er gar nicht besser verbergen, als wenn er seinen erheuchelten Eifer in eine Farbe kleidete, welche von der Naturfarbe seiner Hauptsünde am grellsten abstach. So war denn in dem ganzen Kreise das Werk der reinen Liebe mißkannt und mißachtet und Maria selbst war beschämt von denen, die sie in Liebe und Erleuchtung weit überragte. Judas hat seinen Zweck vollkommen erreicht. Aber als er eben seines Sieges froh werden will, hat ihn Einer übermeistert. Jesus hat ihn auch jetzt durchschaut und läßt sich die Gelegenheit nicht entgehen, ihn jetzt zu fassen, wozu der Heuchler ihm sonst keinen Anhalt bot. Jesus thut das so, daß er auf das Raisonnement des Judas eingeht und ihm eben in diesem Raisonnement den Hauptfehler seiner Herzensstellung aufdeckt, ihm also zeigt, daß er ihn selbst in seinem Schlupfwinkel zu finden wisse. Jesus sagt: „Arme habt ihr allezeit bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes thun, mich aber habt ihr nicht allezeit“ (s. Marc. 14,7). Damit war ausgesprochen, daß es jenem Worte für die Armen, selbst wenn es als aufrichtig angenommen werde, immer an der rechten und wahren Liebe zu dem Herrn und Meister fehle, und in diesem Tadel mußte sich Judas ganz und gar getroffen fühlen. Nun war es ihm nicht besser ergangen, wie sonst so oft dem Petrus, während aber dieser durch den Tadel seines Herrn sich jedesmal beschämt und gedemüthigt fühlte, konnte bei der Gemüthsrichtung des Judas nur eine neue Erbitterung die Frucht sein.

Nicht umsonst haben Matthäus und Marcus die Erzählung von dem Festmahle Simons in Betanien zwischen den Beschluß des hohen Rathes, Jesum mit List zu fangen, und den Verrath des Judas gestellt. Der Tadel Jesu über die unzeitige Sorge für die Armen traf vor Allen den Judas und erfüllte sein Gemüth mit der tiefsten Verbitterung gegen den, der sein ganzes Lügengewebe durchschaute, von dem er soeben aufs Gewisseste erfahren, daß der ganze Aufwand seines correcten Verhaltens, mit dem er alle Uebrigen vollkommen täuschte, vor seinen Augen ihm keinen Nutzen schaffte. Dies war die Stimmung, in welcher der Entschluß des Verrathes in ihm während der nächsten Tage ausgebrütet wurde.

Das Wort des Judas war ein finsterer Schatten, der in das helle Freudenlicht dieses sabbatlichen Festes im Hause Simons des Aussätzigen verdunkelnd und drohend hineinfiel, und ohne Zweifel hat der Herr in diesem Schatten das untrügliche Zeichen erkannt, daß für ihn der Tag, an welchem er zu wirken habe, sich zu Ende neige und dagegen die Nacht, in welcher er nicht mehr wirken könne, im Anbruche sei. Denn das Bedrohliche bei dieser trüben Wendung ist eigentlich der Umstand, daß eine gehässige, feindliche Stimmung gegen Jesum sich erhebt aus der Mitte seines eigenen Hauses. Wenn der Brite auf Grund seiner politischen Verfassung das Haus seine Burg nennt, so gewährt das israelitische Haus kraft göttlicher Verheißung und menschlichen Glaubens einen noch festeren Schutz gegen alle feindlichen Gewalten von außen. Aber je fester die Schutzwehr des Hauses gegen äußere Gefährdung, desto verderblicher ist die Feindschaft im Inneren des Hauses. Das Haus Jesu erfreut sich des göttlichen Wohlgefallens und Schutzes im höchsten Maße, es ist gegen äußere Unfälle und Plagen fest verriegelt und verschlossen, aber um so verderblicher muß es ihm werden, wenn der Riegel von innen weggeschoben wird, wenn eine inwendige Feindschaft sich mit der äußeren verbindet. So gerieth das Haus Jakobs in Drangsal und Noch, als brüderlicher Neid sich gegen die. Tugend des Besten im Hause erhob, so kam das Haus Davids in äußerste Gefahr, als der vertraute Rath und Tischgenosse des Königs in das Lager des Aufruhrs überging. Dieses drohende Zeichen hat sich jetzt eingestellt und da sich hier Alles rasch entwickelt, so werden wir auf eine nahe Entscheidung gespannt sein müssen.

In der That, sowie der Sabbat, dessen Festfeier mit ihrem Licht und Schatten wir betrachtet haben, zu Ende geht, bricht die letzte Woche an, in welcher Jesu Wirken in das Leiden übergeht und durch Leiden vollbracht wird, was durch Wirken nicht hat erreicht werden können. Es bricht die Woche an, an deren letztem Tage der Herr sein großes Wort: „Es ist vollbracht,„ sprechen wird, um an dem darauffolgenden Sabbat eine Ruhe zu halten, in welcher ihn kein Judas Ischariot mehr stören kann.

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