Unbekannt - Der unwürdige Genuss des Herrnmahls
Es kam in Korinth vor, daß das Herrnmahl unwürdig genossen wurde, denn Paulus sagt: „Darum sind auch so viele Kranke und Schwache unter euch.“ Die Reichen versündigten sich gegen die Armen durch ihre Mahlzeiten, bei denen sie sich selbst weideten und die Armen beschämten. Indem sie sich aber so gegen die Brüder vergingen, betrübten sie den Herrn. Außerdem nahmen sie das Mahl des Herrn als ein gewöhnliches Essen und verleugneten so den Charakter des Mahles und achteten die Ordnung des Herrn gering. Geringschätzung aber führt gewiß zum unwürdigen Genuß, und das mag vielleicht eine besondere Gefahr in unseren Tagen sein auch in den Kreisen der Gläubigen. Der Katholik und Lutheraner naht sich mit Schaudern der Ehrfurcht dem Altar und nimmt mit Zittern und Beben die Hostie und das Blut aus des Priesters Hand. Der gläubige Schriftforscher indes findet so etwas nicht in der Bibel und liest nur: „Solches tut zu meinem Gedächtnis.“ Da schlägt die Ehrfurcht leicht in eine gewisse Flachheit um, namentlich, wenn man nicht sein ganzes Leben unter die Zucht und Leitung des Heiligen Geistes stellt. Da kann man denn auch den Brüdern gegenüber in Lieblosigkeit oder schlimmeren Dingen dahingehen und sich doch ruhig an den Tisch des Herrn setzen. Sind unsere Gemeinden davon verschont geblieben, oder haben nicht viele treue Glieder schon über solche traurigen Erscheinungen geweint? Wie muß es mit dem geistlichen Leben solcher Glieder bestellt sein, die in Feindschaft gegeneinander hingehen und es dennoch fertigbringen, sich dem Tisch des Herrn zu nahen! Und wieviel Geduld und Langmut beweist der Herr, daß er solche nicht aus der Gemeinde ausrottet! Sicherlich aber essen und trinken solche sich das Gericht.
Was sagt Paulus? „Darum sind auch viele Kranke und Schwache unter euch“, merken wir wohl, infolge des unwürdigen Genusses. „Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten.“ Es mag uns zuweilen scheinen, als ob die Gerichte Gottes zu hart sind, aber an den Gerichten Gottes mögen wir den wahren Charakter unserer Vergehungen messen und erkennen; dann allein merken wir, wie abscheulich die Sünde und wie groß die Heiligkeit des Herrn ist. Radab und Abihu brachten fremdes Feuer auf den Altar und wurden von der verzehrenden Glut des Herrn weggerafft; Usa stützte die Bundeslade und starb; David ließ Israel zählen, und 70000 Menschen büßten seine Eitelkeit mit ihrem Leben. Mit demselben Maße mißt der Herr, wenn er den unwürdigen Genuß seines Mahles mit Krankheit, Siechtum und sogar Tod heimsucht. Der Apostel aber, unterwiesen durch den Heiligen Geist, offenbart dieses Gericht der Gemeinde, damit sie ihre Schuld erkenne, sich demütige und in Zukunft heilig mit dem Heiligen umgehe.
Das Gericht des Herrn in seiner Gemeinde aber hat nicht ihr Verderben, sondern ihre Erziehung zum Zweck: „auf daß wir nicht samt der Welt verdammt werden.“ So sagt der Apostel auch mit Bezug auf den Blutschänder, daß er ihn dem Satan übergeben habe zum Verderben des Fleisches, auf daß der Geist selig werde am Tage des Herrn. Gezüchtigte Kinder Gottes lernen in ihren oft schweren Leiden sorgfältiger auf die Stimme des Geistes Gottes achten, und die Schlafenden dürfen noch wiederum den Bußruf hören: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.“ Und Dank der Gnade Gottes, sie wachen auf und sehen mit Schmerz, welchen Schaden sie an ihrer Seele genommen, wie sie der Welt Ärgernis gegeben, die treuen Kinder Gottes betrübt und den Herrn entehrt haben.
So ernst sind die Folgen des unwürdigen Genusses, und darum, so ermahnt der Apostel, hütet euch davor. Wenn ihr zusammenkommt, so harre einer des andern. Diese Ermahnung gibt uns noch einen Wink in bezug auf das tadelnswerte Verhalten der Gemeinde. Nämlich, die Feier war keine gemeinsame; der eine kam früher, der andere später, aß seine Abendmahlzeit und im Anschluß daran das gebrochene Brot und den Kelch der Segnung. Durch diese Unsitte sank die feierliche Anordnung des Herrn erst recht herab zu einer wesenlosen Zeremonie und mußte den frommen Gliedern zu großem Ärgernis gereichen. Wo war da das Vorbild geblieben, das der Herr bei der Einsetzung des Mahles im Kreise seiner Jünger gab? Dort war kein Hasten und Eilen, da feierte die kleine Gemeinde in der Gegenwart ihres Meisters in ernstem Schweigen seinen Tod. Nicht allein, sondern gemeinsam sollen die Gläubigen den Tod des Herrn verkündigen; darum hat die Krankenkommunion auch nur dann eine Berechtigung, wenn wenigstens noch einer oder mehrere Gläubigen sich daran beteiligen.
Mögen wir allezeit uns mit großer Ehrfurcht und doch heiliger Freude so oft wie möglich dem Tisch des Herrn nahen, dann werden wir viel geistliche Kraft aus diesem gesegneten Vermächtnis unseres Herrn schöpfen!
(Wahrheitszeuge)
Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1908