Spurgeon, Charles Haddon - 19. Das Evangelium des Reiches - Kapitel 19
(Der König und die Ehegesetze. V. 1-12.)
1.2. Und es begab sich, da Jesus diese Rede vollendet hatte, erhob Er sich aus Galiläa, und kam in die Grenze des jüdischen Landes jenseit des Jordans; Und folgte Ihm viel Volks nach, und Er heilte sie daselbst.
Er hatte diese Rede vollendet über die Vergebung, und nun eilte Er zu andrem Werk, was noch nicht vollendet war. Er war stets in Bewegung und erhob sich aus Galiläa, dem Er so viel Sorge gewidmet, damit auch andre Gegenden sich seiner Thätigkeit erfreuen möchten. Er wandte sich jetzt mehr nach dem Süden, nach den Grenzen des jüdischen Landes jenseit des Jordan, und Er that überall Gutes. Als Er die Rede mit den Jüngern vollendet hatte, begann Er Gnadenwerke in einem neuen Distrikt, und viel Volks folgte Ihm nach. Stets folgte die Menge Ihm auf dem Fuße, festgehalten sowohl durch sein Wort als durch sein Werk. Er kam in die Nähe von Jerusalem, und seine Feinde waren auf der Lauer; aber Er beschränkte um ihrer eifersüchtigen Prüfung willen seine Werke der Barmherzigkeit nicht; Er heilte sie daselbst. Der Ort der gnädigen Thaten unsres Herrn ist der Erinnerung wert. Wo die Not war, da wurde die Hilfe gegeben.
3. Da traten zu Ihm die Pharisäer, versuchten Ihn und sprachen zu Ihm: Ist’s auch recht, daß sich ein Mann scheide von seinem Weibe um irgend eine Ursache?
Hier sind diese Schlangen wiederum! Welche Beharrlichkeit in der Bosheit! Sie kümmerten sich wenig um Belehrung, doch gaben sie sich den Anschein von Forschenden. In Wahrheit waren sie auf der Lauer und bereit, zu bestreiten, was Er auch sagen mochte. Die Frage ist listig gestellt: “Ist es auch recht, daß sich ein Mann scheide von seinem Weibe um irgend eine Ursache?“ Je unbestimmter die Frage, desto leichter verwickelt sich der Befragte darin. Ihr eignes Gewissen hätte ihnen sagen sollen, daß das Eheband nicht um jeden Grundes willen getrennt werden darf, den ein Mann anzugeben beliebt. Doch war es eine viel bestrittene Frage zu jener Zeit, ob ein Mann sein Weib nach Belieben verstoßen könne oder ob er irgend einen ernsten Grund dafür angeben müsse. Was Jesus auch sagen mochte, die Pharisäer wollten seinen Ausspruch gegen Ihn gebrauchen.
4-6. Er antwortete aber und sprach zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, daß, der im Anfang den Menschen gemacht hat, der machte, daß ein Mann und Weib sein sollte; und sprach: „Darum wird ein Mensch Vater und Mutter lassen, und an seinem Weibe hangen, und werden die zwei ein Fleisch sein?“ So sind sie nun nicht zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.
Jesus beruft sich in seiner Antwort auf ihre Kenntnis des Gesetzes: “Habt ihr nicht gelesen?“ Es war eine nachdrückliche Weise, sich an ihre eigne gerühmte Kenntnis der Bücher Mose zu wenden. Unser Herr ehrt die Heilige Schrift, indem Er seinen Beweis daraus entnimmt. Es gefiel Ihm, sein Siegel besonders auf einen Teil der Schöpfungsgeschichte zu setzen – dieser Geschichte, von der neuere Kritiker sprechen, als wäre sie Fabel oder Mythe. Er führte seine Hörer zurück zum Anfang, wo Gott Mann und Weib machte und sie eins machte. „Zum Bilde Gottes schuf Er ihn; und Er schuf sie, ein Männlein und ein Fräulein“ (1 Mose 1,27). Das Weib ward aus dem Mann genommen, und Adam sprach mit Wahrheit: „Das ist doch Bein von meinen Beinen und Fleisch von meinem Fleisch“ (1 Mose 2,23). Durch die Ehe wird diese Einheit dargestellt und unter göttlicher Genehmigung verkörpert. Diese Einheit ist von der wirklichsten und wesentlichsten Art: “So sind sie nun nicht zwei, sondern ein Fleisch.“ Alle andren Bande sind schwach im Vergleich mit diesem; sogar Vater und Mutter müssen dem Weibe nachstehen: “Darum wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen, und seinem Weibe anhangen.“ Da diese Verbindung von Gott bestimmt ist, muß sie nicht durch die Laune des Menschen aufgehoben werden. “Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“ Unser Herr entscheidet so für die lebenslange Dauer des Ehebandes im Gegensatz zu denen, welche die Scheidung erlaubten aus „irgend einer Ursache,“ was sehr häufig bedeutete, aus gar keiner Ursache.
7. Da sprachen sie: Warum hat denn Mose geboten, einen Scheidebrief zu geben, und sich von ihr zu scheiden?
Jedem Leser der hier angeführten Stelle in den Büchern Mose wird die ungenaue Wiedergabe derselben durch die Pharisäer auffallen. 5 Mose 24,1.2 lesen wir: „Wenn jemand ein Weib nimmt und ehelichet sie, und sie nicht Gnade findet vor seinen Augen um irgend einer Unreinheit willen, so soll er einen Scheidebrief schreiben und ihr in die Hand geben, und sie aus seinem Hause lassen. Wenn sie dann aus seinem Hause gegangen ist, mag sie hingehen und eines andren Mannes Weib werden“ (n.d. engl. Übers.). Mose gebot nichts in diesem Fall, er duldete nur und beschränkte sehr eine damals herrschende Sitte. Mose dem Mose gegenüberstellen, ist keine neue List, aber die Pharisäer konnten kaum wagen, Mose Gott gegenüberzustellen und ihn eine Änderung eines göttlichen, von Anfang an verordneten Gesetzes befehlen zu lassen. Doch unser Herr ließ sie sehen, daß sie dies zu thun haben würden, um die Theorie von der leichten Scheidung aufrecht zu halten. Die Wahrheit ist, daß Mose die Scheidung in fast unbegrenzter Ausdehnung vorfand und daß er weislich die Aufhebung desselben mit dem Beschränken der Sitte begann, statt sie auf einmal schlechthin zu verbieten. Es war ihnen nicht erlaubt, ein Weib mit einem hastigen Wort hinwegzusenden, sondern sie mußten dies zu einer feierlichen, vorher überlegten Zeremonie machen, indem sie einen Scheidebrief aufsetzten und ihr gaben; und dies war nur in einem besonderen Fall erlaubt: „Um einer Unreinheit willen.“ Obwohl viele Pharisäer diese letzte Beschränkung wegdeuteten und dafür hielten, daß die Verfügung im fünften Buch Mose fast unbeschränkte Scheidung zuließe, waren sie doch nicht einmütig in dieser Sache und stritten beständig darüber. Darum konnte des Herrn Entscheidung, wie sie auch ausfiel, in vielerlei Weise gegen Ihn gebraucht werden.
8. Er sprach zu ihnen: Mose hat euch erlaubt zu scheiden von euren Weibern von eures Herzens Härtigkeit wegen; von Anbeginn aber ist’s nicht also gewesen.
Mose duldete und zog Grenzen um eine böse Sitte, die ein solches Volk, wie er wußte, nicht aufgeben würde, nachdem sie so lange geherrscht hatte. Sie konnten ein höheres Gesetz nicht tragen, und deshalb behandelte er sie wie Personen, die an Herzenshärtigkeit krank waren, und hoffte, sie stufenweise zu einem älteren und besseren Zustand zurückzuführen. In dem Maße, wie Unreinheit aufhörte und der Geist der wahren Religion das Volk beeinflußte, mußte die Notwendigkeit der Scheidung und selbst der Wunsch danach aussterben. Es war keine Vorkehrung im Paradiese dafür getroffen, daß Adam Eva verstoßen könnte; es war kein Wunsch nach Scheidung im goldnen Zeitalter. Die Bestimmung des mosaischen Gesetzes über die Scheidung war neu und zeitweilig, und in der Form, zu der eine leichte Deutung der Schrift sie verzerrt hatte, war sie nicht zu verteidigen.
9. Ich sage aber euch: Wer sich von seinem Weibe scheidet (es sei denn um der Hurerei willen), und freiet eine andre, der bricht die Ehe; und wer die Abgeschiedene freiet, der bricht auch die Ehe.
Hurerei kann eine gesetzliche und gerechte Scheidung veranlassen, denn sie ist eine thatsächliche Aufhebung des Ehebandes. Im Fall der Hurerei, auf klaren Beweis hin, kann das Band gelöst werden, aber in keinem andren Fall. Jede andre Scheidung ist vor dem Gesetz Gottes null und nichtig, und führt die, welche darauf hin handeln, zu dem Verbrechen des Ehebruchs. Wer die Abgeschiedene freiet, der bricht die Ehe, da sie nicht wirklich geschieden ist, sondern das Weib ihres früheren Ehemannes bleibt. Unser König duldet keine jener Verfügungen, die in gewissen Ländern es leicht mit dem Ehebande nehmen. Völker mögen Gesetze machen, wie sie es wagen, aber sie können Thatsachen nicht ändern; Personen, die einmal verheiratet sind, sind in den Augen Gottes fürs ganze leben verheiratet, mit der einen Ausnahme einer bewiesenen Hurerei.
10. Da sprachen die Jünger zu Ihm: Steht die Sache eines Mannes mit seinem Weibe also, so ist’s nicht gut, ehelich zu werden.
Sie waren dahin gekommen, die leichte Lösung des Ehebandes als eine Art Erleichterung anzusehen, und die Ehe selber ohne die Macht, ihr durch die Scheidung wieder zu entgehen, als ein Übel oder wenigstens als etwas, das sich leicht als solches erweisen könnte. Besser nicht zu heiraten, als fürs Leben zu heiraten, das scheint ihre Vorstellung zu sein. Sogar seine Jünger zogen den Schluß, wenn sie auf das Risiko einer unglücklichen Ehe blickten, daß es besser sei, unverheiratet zu bleiben. Sie sprachen: “Es ist nicht gut, ehelich werden,“ und es war ein gewisses Maß von Wahrheit in ihrer Erklärung.
11. Er sprach aber zu ihnen: Das Wort faßt nicht jedermann, sondern denen es gegeben ist.
Es mag in einiger Hinsicht besser sein, nicht zu heiraten, aber das Wort faßt nicht jedermann, und es kann nicht von jedermann in Ausübung gebracht werden. Das Menschengeschlecht würde aussterben, wenn jedermann es könnte. Ein eheloses Leben ist nicht für alle, noch für viele; die Natur verbietet es. Für einige ist Ehelosigkeit besser als Ehe; aber solche haben eine besondere Konstitution oder leben in besonderen Verhältnissen. Enthaltung von der Ehe ist für einige wenige eine vorzügliche Gabe, die hohen Zwecken entspricht; aber im allgemeinen ist die Ehe ebenso notwendig, wie sie ehrenhaft ist.
12. Denn es sind etliche verschnitten, die sind aus Mutterleibe also geboren; und sind etliche verschnitten, die von Menschen verschnitten sind; und sind etliche verschnitten, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs willen. Wer es fassen mag, der fasse es!
Einige haben nur schwaches Verlangen nach der Ehe, und sie waren so geboren. Sie werden es gut finden, zu bleiben, wie sie sind. Andre unterdrücken die Wünsche der Natur aus heiligen und löblichen Gründen, um des Himmelreichs willen; aber dies ist nicht für alle. Es ist den einzelnen freigestellt, zu heiraten oder nicht. Wenn sie heiraten, so lobt die Natur es, aber die Gnade schweigt; wenn sie es um Christi willen unterlassen, so lobt die Gnade es, und die Natur verbietet es nicht. Erzwungene Ehelosigkeit ist das Samenbeet von Sünden. „Die Ehe soll ehrlich gehalten werden bei allen.“ Verletzungen der Reinheit sind ein Greuel vor den Augen des Herrn. In dieser Sache brauchen wir Leitung und Gnade, wenn wir dem gewöhnlichen Weg folgen, und wenn wir die weniger besuchte Straße erwählen, so werden wir der Leitung und Gnade sogar noch mehr bedürfen. Was den Entschluß betrifft, im ehelosen Leben zu verharren: “Wer es fassen mag, der fasse es.“
(Der große König unter den kleinen Kindern. V. 13-15.)
13. Da wurden Kindlein zu Ihm gebracht, daß Er die Hände auf sie legte und betete; die Jünger aber fuhren sie an.
Von Fragen über die Ehe zu der Frage über Kinder war ein leichter und natürlicher Schritt, und die Vorsehung lenkte es so, daß unser Herr von dem einen zu dem andren Thema überging.
Wir sehen daraus, daß die Leute auf den Gedanken kamen, Knaben und Mädchen zu unsrem Herrn zu bringen, wie sanft Er gewesen sein muß. Kindlein wurden zu Ihm gebracht, daß Er die Hände auf sie legte und sie segnete und auch seine Hände zu Gott aufhöbe und für sie betete. Dies war ein sehr natürlicher Wunsch von seiten frommer Eltern, und zeigte viel Glauben an unsres Herrn Herablassung. Wir sind gewiß, daß die Mütter sie brachten, denn heilige Freuen tun noch immer das Gleiche. Die Jünger, eifersüchtig auf die Ehre ihres Herrn, wollten, daß die Mütter und Wärterinnen dies unterlassen. Sie hielten es für zu kindisch von seiten der Mütter, und für eine zu vertrauliche Behandlung des großen Lehrers. Waren nicht die Jünger kindischer als die Mütter, wenn sie dachten, daß ihr Herr unfreundlich gegen Kindlein sein würde?
14. Aber Jesus sprach: Lasset die Kindlein, und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen, denn solcher ist das Himmelreich.
Unser Herr ist demüthiger als seine Diener. Er befiehlt ihnen, die Kindlein nicht zu hindern, Er ruft sie zu sich; Er erklärt, daß sie gerade die Art von Menschen sind, aus denen sein himmlisches Reich besteht. “Solcher ist das Himmelreich.“ Dies ist das Banner der Sonntagsschule. Kinder, und die, welche ihnen gleichen, können frei in das Reich des Herrn der Himmel kommen; ja, es sind die Charaktere, welche allein in dies Reich kommen können.
15. Und legte die Hände auf sie; und zog von dannen.
Er taufte sie nicht, aber Er segnete sie. Die Berührung seiner Hände bedeutete mehr, als die Feder schreiben kann. Glückliche Kinder, denen dies Auflegen der Hände zu teil ward, denn diese Hände waren weder leer noch schwach!
Jesus hielt sich nicht auf, nicht einmal bei dieser lieblichen Gesellschaft, sondern eilte zu dem Ihm bestimmten Werk, und zog von dannen. Doch hatte Er so viel in den zwei Sätzen des vorhergehenden Verses gesagt, daß Erde und Himmel nie aufhören werden, dadurch um so reicher zu sein.
(Der König bestimmt den Vorrang. V. 16-30.)
16. Und siehe, einer trat zu Ihm und sprach: Guter Meister, was soll ich Gutes thun, daß ich das ewige Leben möge haben?
Hier war einer, der glaubte, einer der Ersten zu sein, und doch der Letzte war, ja, betrübt von dannen gehen mußte.
Er war ein selbstzufriedener Herr. Er schien zu fühlen, daß ein Gutes von ihm genügend sein würde, und daß er es sogleich thun könnte und wollte. Er hatte irgend eine böse Ahnung, sonst hätte er nicht die Frage gethan: “Was soll ich Gutes thun?“ Vielleicht könnte es, selbst in einem so trefflichen Leben wie das seine, an etwas noch fehlen. Aber wenn sich das zeigen sollte, so konnte er rasch den Mangel ausfüllen. Er war sehr ehrfurchtsvoll und redete den Herrn Jesus “Guter Meister“ an. So weit gut. Seine Frage war von großer Wichtigkeit für ihn. “Was soll ich thun, daß ich das ewige Leben möge haben?“ O, daß mehr junge Männer eine ähnliche Frage thäten! Es war eine sehr angemessene für einen ernsten Mann, wie er es ohne Zweifel war. Er suchte das ewige Leben, und konnte nicht zufrieden sein mit den Ehren der Gegenwart. Er wollte nur wissen, was er thun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen, dann wollte er sofort daran gehen.
Dies ist ein hoffnungsvoller Fragender. Gewiß, das wird ein großartiger Bekehrter werden! Laßt uns ein wenig warten, so werden wir sehen.
17. Er aber sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote.
Unser Herr legte keinen Wert auf leere Komplimente, und darum fragt Er: “Was heißest du mich gut?“ Viele neuere Ketzer preisen Jesum, und ihr Lob ist eine solche Beleidigung seiner glorreichen Person, daß Er wohl sagen möchte: „Was heißest du mich gut?“ Meinte dieser Mann wirklich so? Wenn das, so wollte der Herr Jesus ihm einen Wink geben, daß Der, zu dem er sprach, mehr sei als ein Mensch. Der Beweis ist klar: entweder war Jesus gut oder er hätte Ihn nicht gut nennen sollen, aber da niemand gut ist als Gott, so muß Jesus, der gut ist, Gott sein.
Die Frage in betreff der Erlangung des ewigen Lebens durch ein gutes Werk beantwortet Jesus ihm auf seinem eignen Grund und Boden. Leben durchs Gesetz kommt nur durch das Halten der Gebote: “Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote.“ Niemand hat sie je so erfüllt, daß er gut gewesen wäre. Dachte dieser junge Mann, daß er es könnte? Doch, auf dem Boden des Gesetzes mußte er, wenn er das ewige Leben als einen Lohn verdienen wollte, so gut wie Gott sein und die Gebote vollkommen halten. So ward ihm der rauhe Weg der Werke vorgestellt, nicht, damit er versuche, das ewige Leben dadurch zu gewinnen, sondern damit er seine eignen Mängel wahrnehme und seine Schwachheit so fühle, daß er Errettung in einer andren Weise suche.
18.19. Da sprach er zu Ihm: Welche? Jesus aber sprach: Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter; und: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.
Der Fragende wagt zu sagen: “Welche?“ Nahm er an, daß gewisse zeremonielle Vorschriften genannt werden würden? Wahrscheinlich that er das, denn er fühlt sich ganz sicher in allen Punkten des Sittengesetzes. Unser Herr gibt ihm indes nichts Neues, sondern wendet sich zu den alten zehn Geboten. Er nennt zuerst die zweite Gesetzestafel und beginnt mit Geboten, die dem jungen Mann als bloße Gemeinplätze der Sittlichkeit erscheinen mußte. Das letztgenannte Gesetz faßte die übrigen zusammen und hätte die Augen des Fremden in betreff seiner Mängel öffnen sollen, denn wer ‚hat seinen Nächsten als sich selbst geliebt?* Der junge Aristokrat war indes nicht von der Sünde überführt. Er setzte sein Forschen nach der Seligkeit durch Werke fort, weil er sich auf dem Wege glaubte, sie zu gewinnen.
20. Da sprach der Jüngling zu Ihm: Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf; was fehlt mir noch?
Vielleicht sprach er die Wahrheit, so wie er das Gesetz verstand. Er hatte einen trefflichen, sittlichen Charakter von Jugend an bewahrt. Er fühlte, daß er ihm Thun und Handeln alle diese Gebote ohne irgend einen bedeutenden Fehler gehalten hatte. Er war kein Prahler, sondern konnte ehrlich behaupten, ein lobenswertes Leben geführt zu haben. Er war ohne Zweifel ein musterhafter Jüngling und so liebenswürdig, daß Jesus ihn sehr liebevoll anblickte. wir kennen einige, die ihm gleichen und von denen man sagen kann, daß sie „nach dem Gesetz unsträflich“ sind. Aber er war nicht alles, wofür er sich hielt; er liebte nicht seinen Nächsten als sich selbst, wie er bald sehen sollte. “Was fehlt mir noch?“ ist eine Frage, die wenige wagen würden zu thun. Er fühlte, daß, wenn ihm etwas fehlte, er ganz und gar nicht wisse, was es sei. Seine Selbstachtung hatte keine Zunahme nötig.
21. Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, und folge mir nach.
Unser Herr stellt ihn auf die Probe der ersten Gesetzestafel: „Du sollt den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen.“ Wenn er dies that, so mußte er willig sein, auf göttliches Gebot hin sein Vermögen aufzugeben, eben wie Abraham bereit war, seinen Sohn zu opfern. Unser Herr Jesus forderte als Gott von ihm ein ungewöhnliches Opfer. Liebte er Gott genügend, um es zu bringen? Das Gebot unsres Herrn war eine Herausforderung der Selbstgerechtigkeit, ihr eignes Bekenntnis zu beweisen. Wir mögen es auch als eine Prüfung seiner Behauptung, seines Nächsten als sich selbst geliebt zu haben, betrachten. Liebte er die Armen als sich selbst? Wenn das, so war es nicht hart für ihn, seinen Besitz zu verkaufen und den Armen zu geben. Wir müssen daraus nicht schließen, daß Jesus will, daß alle seine Nachfolger alles, was sie haben, aufgeben sollen, denn es war eine Probe für diesen einen Mann: “Willst du vollkommen sein.“ Doch, wenn wir unsren Besitz mehr lieben, als Gott, so sind wir Götzendiener, und wenn wir unser Eigentum festhalten, so daß wir die Armen hungern lassen, dann kann es nicht von uns heißen, daß wir sie lieben als uns selbst. Wir haben von Leuten gehört, die beanspruchten, vollkommen zu sein, und doch Hunderttausende Mark in Besitz behielten, und wir haben an ihrer Vollkommenheit gezweifelt. War nicht Ursache dazu da? Mitleid mit der Armut, Eifer für die Wahrheit und Liebe zum Gutesthun werden kaum gestatten, daß ein Christ enorme Reichtümer besitzt. Jedenfalls werden solche Reiche es schwer finden, am jüngsten Tag Rechenschaft abzulegen. Wir müssen Jesum und seine große Sache mehr als unsren Reichtum lieben, sonst sind wir nicht seine wahren Nachfolger. Wenn unsre Religion je auf die große Probe grimmiger Verfolgung gestellt würde, und wir entweder all unsren Besitz aufgeben müßten oder Christum, so wäre Schwanken verhängnisvoll.
22. Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt von Ihm; denn er hatte viele Güter.
Er konnte seinen Plan nicht seiner ganzen Länge nach ausführen. Er wollte durch Werke selig werden, dennoch wollte er nicht seine Werke völlig nach den Forderungen des Gesetzes ausführen. Er sah weder den Sinn der ersten Gesetzestafel, noch den der zweiten. Er liebte seinen armen Bruder nicht wie sich selbst; er liebte Gott in Christo Jesu nicht von ganzem Herzen und ganzer Seele. Er dachte, einer der ersten zu sein, aber er stand bald hinter den letzten zurück, denn er ging betrübt weg. So stellt der Heiland den Charakter auf die Probe. Das, was so sehr glänzte, wird nicht als Gold erfunden. Dieses Mannes großer Besitz besaß ihn so, daß er seine eigne Seele nie besaß.
23. Jesus aber sprach zu seinen Jüngern: Wahrlich, ich sage euch: Ein Reicher wird schwerlich ins Himmelreich kommen.
Weltliche Besitzungen haben ohne die göttliche Gnade einen tötenden, verhärtenden, hindernden Einfluß auf die Seele. Einige Reiche kommen ins Himmelreich, aber es ist schwer für sie; sehr schwer in der That. Die Versuchung ist da, die Reichtümer die Seele beherrschen zu lassen, und wenn das der Fall ist, so steht das Reich dieser Welt dem Himmelreich entgegen. Häuser und Ländereien und Gold und Silber sind ein Vogelleim für die Seele und Hindern ihr Aufsteigen zum Himmel. Dies ist besonders in Verfolgungszeiten der Fall, aber es ist auch in allen Perioden der menschlichen Geschichte genugsam eine Thatsache. Es ist der Beachtung wert, daß dieser harte Ausspruch für Christen gemeint war, denn es steht geschrieben: Jesus aber sprach zu seinen Jüngern: „Wahrlich, ich sage euch.“
24. Und weiter sage ich euch: Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.
Gewichtige Worte werden mit der Autorität bekundenden Formel eingeleitet: Weiter sage ich euch. In diese Aussage legt der Herr das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit. Er gebraucht ein sehr nachdrückliches Sprichwort, das genau das meint, was die Worte dem gewöhnlichen Leser andeuten. Es ist kein Sinn darin, sonderbaren Bildern nachzujagen, wo die sprichwörtliche Lehre so klar wie möglich ist. Er wollte zeigen, daß Reichtum weit mehr ein Hindernis als eine Hilfe für die ist, welche ins Reich Gottes eingehen wollen; in der That, ein solches Hindernis, daß die Sache ohne göttliche Dazwischenkunft unmöglich wäre. Ein Kamel ist nicht nur groß, sondern es hat Höcker, und wie kann es durch eine so kleine Öffnung wie ein Nadelöhr gehen? Es könnte nur durch ein seltsames Wunder hindurch kommen; ebenso kann ein Reicher nur in das Reich Gottes kommen durch ein Wunder der Gnade. Wie wenige der Reichen hören auf das Evangelium! Sie sind zu groß, zu fein, zu geschäftig, zu stolz, um den demütigen Prediger des Evangeliums für die Armen zu beachten. Wenn sie zufällig die himmlische Botschaft hören, so haben sie nicht die dringenden Bedürfnisse und die Trübsale, welche die Menschen von der gegenwärtigen Welt hinweg treiben, um Trost in der zukünftigen zu suchen, und so fühlen sie nicht die Notwendigkeit, Christum anzunehmen. „Gold und Gottseligkeit vertragen sich selten.“ Die, welche reich in dieser Welt sind, verschmähen es in den meisten Fällen, Unterthanen des Reiches zu werden, in dem der Glaube Reichtum und die Heiligkeit Ehre ist.
Sollten die Reichen das göttliche Leben beginnen, so ist es sehr schwer für sie, zu beharren unter den Sorgen, dem Luxus, den Versuchungen des Reichtums! Die Schwierigkeiten sind äußerst groß, wenn wir an das hoffärtige Leben, die Schmeichelei des Standes, die Gefahr der Macht und an die fleischliche Sicherheit denken. Dennoch, Gott sei gelobt, haben wir Reiche arm im Geiste werden sehen! Wir haben Kamele durch das Nadelöhr gehen sehen, mit Höcker und allem! Wir hoffen, noch viel mehr solcher Wunder allmächtiger Gnade zu sehen.
25. Da das seine Jünger hörten, entsetzten sie sich sehr und sprachen: Ja, wer kann denn selig werden?
Kein gewöhnliches Staunen erfüllt sie. Viele erstaunliche Wahrheiten hatten sie schon von ihrem Meister gehört, aber diese übertraf alle, und sie entsetzten sich sehr. Sie hatten früher gedacht, Reichtum sei ein Vorteil; und nun meinten sie, wenn die Reichen nur mit überaus großer Schwierigkeit errettet zu werden vermöchten, so könnten arme Arbeiter, wie sie selber, gar keine Hoffnung haben. Sie waren der Verzweiflung nahe, und darum richteten sie an ihren Herrn die sehr natürliche Frage: “Ja, wer kann denn selig werden?“ Sogar die Jünger unsres Herrn wurden verwirrt durch seinen klaren Ausspruch, so schwer ist es, von den Vorurteilen zu gunsten des Reichtums frei zu werden.
26. Jesus aber sah sie an, und sprach zu ihnen: Bei den Menschen ist es unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich.
Jesus aber sah sie an. Er sah sie mit Mitleid und mit Liebe an, und sagte ihnen, daß Gott das thun könnte, was ohne Ihn niemals geschehen könne. In das Himmelreich einzugehen, ist dem Menschen ohne Beistand unmöglich; die eine oder die andre Sünde versperrt den Weg. Die Sorgen dieser Welt und der Betrug des Reichtums sind eine mächtige Schranke für die Seele, wenn sie versucht, in die Stadt der Heiligkeit einzugehen; aber Gott kann machen, daß diese Schranken fallen und daß die Seele auf dem schmalen Pfad eingeht. Er ist mächtig, zu erretten. Bei Gott sind alle Dinge möglich. Welche frohe Wahrheit für den Schreiber und für den Leser! Unsre Errettung ist, wenn wir auf unsre Schwachheit und die Macht der Sünde sehen, unmöglich bei Menschen. Nur, wenn wir uns zu Gott und seiner Gnade wenden, gehört die Errettung zu den Möglichkeiten.
Der Reiche wird von unsrem Herrn nicht an die Spitze, sondern ans Ende der Reiche derer gestellt, die nach dem Himmelreich streben.
Herr, meine Hoffnung, in Deinem Reiche gefunden zu werden, ruft auf Deiner Macht und Gnade, und nicht auf meinen Besitzungen!
27. Da antwortete Petrus und sprach zu Ihm: Siehe, wir haben alles verlassen, und sind Dir nachgefolgt; was wird uns dafür?
Hier ist ein andrer, der den vordersten Platz beansprucht. Petrus antwortete, und fügte eine Frage hinzu, die, wie er zu denken schien, notwendig war für die volle Erörterung des Gegenstandes. Petrus spricht für seine Brüder: “siehe, wir haben alles verlassen, und sind Dir nachgefolgt;“ wir haben gethan, was der reiche Jüngling nicht thun wollte: “Was wird uns dafür?“ Er sprach als der Vertreter der Anzahl, die um des Himmelreichs willen arm geworden waren; gewiß, diese mußten einen großen Lohn haben. War es auch nur wenig, was die ersten Gläubigen zu verlassen hatten, so war es doch ihr alles, und sie hatten es verlassen, um Jesu nachzufolgen. Petrus wollte gern hören, was ihre Belohnung sein würde. Was Petrus sagte, war wahr, aber es war nicht weislich gesprochen. Es sah selbstsüchtig und gierig aus, und es war so unumwunden gesprochen, daß es in dieser Weise nicht von einem Diener zu seinem Herrn hätte gesagt werden sollen. Was haben wir im Grunde um Jesu willen zu verlieren, verglichen mit dem, was wir durch Ihn gewinnen! “Was wird uns dafür?“ ist eine Frage, die wir nicht zu erheben brauchen, denn wir sollten lieber an das denken, was wir schon durch unsres Herrn Hand empfangen haben. Er selbst ist Lohn genug für die Seele, die Ihn hat.
28. Jesus aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch, daß ihr, die ihr mir seid nachgefolgt, in der Wiedergeburt, da des Menschen Sohn wird sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, werdet ihr auch sitzen auf zwölf Stühlen, und richten die zwölf Geschlechter Israels.
Unser Herr betrachtet Petrus als den Wortführer für alle und antwortet darum ihnen allen. “Jesus aber sprach zu ihnen.“ Da Er ihre fragende Gemütsstimmung sah, beginnt Er mit: “Wahrlich, ich sage euch.“ Er gibt ihnen herablassend auf ihre etwas selbstsüchtige Frage Auskunft. Sie brauchten nicht daran zu zweifeln, daß ein großer und voller Lohn da sein würde für die, welche Ihm nachgefolgt waren. Seine ersten Anhänger sollten hohen Rang haben und sollten als Beisitzer neben dem großen Richter am Tage seiner Erhöhung sitzen. Die, welche seine Erniedrigung mit Ihm teilen, sollen auch seine Herrlichkeit teilen.
Wenn unser Herr auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird, so werden alle Dinge neu geworden sein. Dieses Zeitalter wird die Wiedergeburt genannt. Dann werden die Zwölfe, die Jesu sogar bis zum Verlust aller Dinge nachfolgten, die höchsten Ehren unter ihren Mitgenossen aus den zwölf Stämmen Israels erlangen.
29. Und wer verläßt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der wird es hundertfältig nehmen, und das ewige Leben ererben.
Niemand wird durch den Herrn Jesum auf die Länge verlieren. Jeder, der die Annehmlichkeiten dieses Lebens mutig um Christi willen verlassen hat, soll eine hundertfältige Belohnung erhalten. Unser Herr erstattet den Verfolgten alles, was sie um seinetwillen aufgeben. Die um der Wahrheit willen Verbannten haben einen Vater und einen Bruder in jedem Christen gefunden, eine Mutter und eine Schwester in jeder heiligen Frau. Unser Herr verleiht, indem Er uns seine Liebe und die Liebe unsrer Mitmenschen gibt, eine hundertfältige Belohnung denen, welche Weib und Kinder um seinetwillen zu verlassen haben. Heilige in der Verbannung haben, indem sie gastlich von liebevollen Brüdern aufgenommen wurden, in gewissem Sinn ihre Häuser und Äcker wieder erhalten. Überall zu Hause sein, ist ein großer Gewinn, selbst wenn wir um Christi Namens willen aus unsrem Vaterland verbannt wären. Vor allem haben wir in Gott einen hundertfachen Lohn für alles, was wir möglicherweise ums einer Sache willen verlieren können, und dann wird uns das ewige Leben gegeben, was keine Häuser und keine Landgüter uns hätten verschaffen können. In diesem Glauben blicken wir vorwärts auf die Regierung der Heiligen, wenn sie selbst hienieden die Erde besitzen und sich in der Fülle es Friedens freuen sollen. Über dieses hinaus, wenn die Zeit aufhört, liegt endlose Seligkeit, denn wir sollen das ewige Leben ererben. O, daß wir nie zögerten, fröhlich um Christi willen zu verlieren! Die, welche alles um Christi willen verlieren, werden alles in Christo finden und alles mit Christo empfangen.
30. Aber viele, die da sind die Ersten, werden die Letzten, und die Letzten werden die Ersten sein.
So faßt unser Herr seine Worte über die Reichen zusammen und gibt uns den vorliegenden kurzen Ausspruch, den Er schon erläutert hat und weiterhin im 16. Vers des nächsten Kapitels wiederholt. Unser König ordnet hier den Rang der Menschen an, wie derselbe von seinem Thron aus erscheint. Für sein Auge sind viele der Ersten die Letzten und viele Letzte sind die Ersten. Er wird in seinem Reich die Menschen nach der göttlichen Ordnung setzen.