Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Gottesstadt.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Gottesstadt.

Predigt gehalten am Todtenfeste den 23. November 1851.

Hebräer 12,18-24.
Denn ihr seid nicht gekommen zu dem Berge, den man anrühren konnte, und der mit Feuer brannte, noch zu dem Dunkel, und Finsterniß, und Ungewitter; noch zu dem Hall der Posaune und zur Stimme der Worte; welcher sich weigerten, die sie höreten, daß ihnen nichts weiter gesagt würde. Denn sie mochten’s nicht ertragen, was da befohlen war: Und wenn ein Thier den Berg anrühret, soll es gesteiniget oder mit einem Geschoß erschossen werden. Und also erschrecklich war das Gesicht, daß Moses sprach: Ich bin erschrocken und zittre. Sondern ihr seid gekommen zu dem Berge Zion, und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem und zu der Menge vieler tausend Engel; und zu der Gemeine der Erstgebornen, die im Himmel angeschrieben sind; und zu Gott, dem Richter über Alle; und zu den Geistern der vollendeten Gerechten; und zu dem Mittler des neuen Testaments Jesu; und zu dem Blute der Besprengung, das da Besseres redet, denn Abels.

“Der Mensch, vom Weibe geboren, lebet kurze Zeit, und ist voll Unruhe; gehet auf wie eine Blume und fällt ab; fleucht wie ein Schatten und bleibet nicht.“ So Hiob. – Und die Stimme in der Wüste: “Alles Fleisch ist wie Heu, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blume: Das Gras ist verdorrt und die Blume ist abgefallen.“ – Und der königliche Psalmensänger: “Meine Tage sind einer Handbreit bei Dir, und mein Leben ist wie nichts. Wie so gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! Sela.“ – Nicht wahr, Brüder, solcherlei Klänge sind’s, die, Pulsen einer Trauerglocke gleich, heute durch unsre Seelen ziehn? Wir feiern den Schluß des Kirchenjahres, und zwar als Fest des Angedenkens an unsre Verstorbenen und als Tag der Mahnung an unsre eigne Sterblichkeit. Ueber den Gräbern halten wir im Geiste Sonntag. Entblätterte Todtenkränze umrauschen uns, und von den Leichensteinen sehen uns Namen an, o, wie lieb, wie theuerwerth, wie unvergeßlich; aber nur um uns daran zu erinnern, wie unser Leben einst so reich war, und jetzt so arm geworden ist, und mit den Jahren ach! immer mehr verarmt, vereinsamt und verödet. – Welch ein elend jämmerlich Ding ist es doch um aller Menschen Leben! Was man besitzt, deß mag man mit Zittern nur sich freuen: denn ehe man sich’s versieht, ist’s nicht mehr da. Sorge, Mühe, Angst und Kummer gehen auf Schritt und Tritt zu unsrer Seite; und zuletzt, nachdem der schwere Traum des flüchtigen Daseins ausgeträumt, steht man selber da als ein von tausend Stürmen geknickter und entlaubter Baum, und muß gar die Axtschläge des Schreckenkönigs noch als Wohlthat preisen, die endlich auch uns selber fällen und zu den Uebrigen darniederstrecken. Ach, sind nicht am glücklichsten diejenigen zu preisen, deren Lebensmorgenroth alsobald vom Abendroth der Todesnacht wieder verschlungen wird? Ja, erscheint nicht das am Ende als das wünschenswertheste der Loose, das zweideutige Licht dieser trübsalsvollen Welt gar nicht erblickt zu haben?

Brüder, es wäre dies das beste Loos, wenn Einer nicht lebte, und seinen Thron in diesem Thal der Thränen aufgeschlagen hätte. Aber nachdem Der bei uns auf dem Plane ist, reimen Klagetöne sich nicht mehr, wie sie eben unter uns verlauten wollten. Ihr Grambeladenen, hört unsern Rath: Feiert heute euer Todtenfest mit uns, die wir jenen Einen kennen und zu ihm halten; und wir verbürgen euch, daß ihr’s feiern werdet 1) statt unter den Schauern des Zornes Gottes im Friedensgesäusel Seiner Huld und Liebe; 2) statt an den Verwesungsstätten eurer in Gott Entschlafenen an den Thronen ihrer stolzen Ruhe und Herrlichkeit; und 3) statt mit dem Schmerzgefühle der Verwaistheit, mit der zuversichtlichen Hoffnung baldigen Wiedersehens.

Daß es also geschehen möge, walte Gott, der unser Reden und Hören mit seinem Segen kröne.

1.

Folgt uns. Wir führen euch, wie uns der Apostel. Nicht nach Athen oder Rom. In den Schulen der “Weisen nach dem Fleisch“ ist am Todtenfeste für uns nichts zu holen. Viele Vorhänge haben sie gehoben; nur den nicht, der schwarz und schaurig hinter den Gräbern niederhängt. Manche Brücke haben sie gebaut; aber an der Ueberbrückung der Kluft zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, der sichtbaren und unsichtbaren Welt, ist ihre Kunst gescheitert. Wir geleiten euch in einer andern Richtung; aber nicht unmittelbar dahin, wo wir unsre bleibende Wohnung haben. Der Apostel schlägt einen Umweg mit uns ein. Verdrieße es uns nicht, auch auf diese ihm zu folgen. „In die Wüste?“ – Ja, Freunde, in die einsame, öde Wüste. Aber kommt nur; die Klarheit Gottes durchblitzt sie; ja der Himmel ragt in sie herunter. Seht ihr den Berg dort, rauchend wie ein Feuerofen, und in flammendurchzuckte, finstre Wetterwolken eingehüllt? Es ist der Sinai, die Offenbarungshütte dessen, deß Name heilig ist. Tretet näher. Sehet dort die Gemeine Israels in ehrerbietiger Entfernung außerhalb der Umzäunung stehn, die des Berges Fuß umzieht: denn wer den Berg anrührt, Mensch oder Thier, soll, so lautet der Befehl, zum Zeichen, wie der Gott der Götter heilig sei, gesteiniget oder mit einem Geschoß erschossen werden. Und nun hört von der blitzumzuckten und sturmumbrausten Höhe die Stimmen niederschallen; und vernehmt, unterm Hall der Posaunen, in lauter Verkündigung den Erlaß der zehn Worte. „Du sollst und du sollst nicht!“ hallt’s, wie Donner Gottes, vom Gipfel des Gebirges nieder; und mit jedem “du sollst nicht“ und “du sollst!“ fällt mit centnerschwerem Gewichte eine Anklage, ein Bannfluch, ein Todesurtheil auf der Sünder Haupt. Sie zittern an allen Gliedern, und rufen im Gefühle ihrer Verdammniß Mose zu: „Rede du mit uns, und laß nur Gott nicht mit uns reden, daß wir nicht sterben und verderben!“ Aber dem Knechte Gottes, im Dunkel drinnen, beben selber Herz und Kniee vor all’ dem Schrecklichen, was er hier hören und schauen muß. Die Majestät des dreimal Heiligen drückt ihn zu Boden. Auch er fühlt sich verloren vor Seinem Angesichte, und er schreit: „Ich bin erschrocken und zittre!“ Und wie sollte er nicht zittern, und wir mit ihm?

Gott hasset die Uebertreter, und hat bei seines Namens Heiligkeit geschworen, daß er sie aus seinem Buche tilgen wolle; und das Gesetz überführt uns Alle, Alle, daß wir solche sind, und „des Ruhmes ermangeln, den wir vor ihm haben sollen.“ „Alles Fleisch hat seinen Weg verderbet,“ und „das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Was Wunder denn, daß sein Schwerdt ohne Unterlaß über der Erde leuchtet, und diese Thränen nicht trocken, vom Blut der Erschlagenen nicht satt wird? Was Wunder, daß auf Schritt und Tritt die Sorge zu unsrer Rechten, die Furcht zu unsrer Linken geht, und Mühe, Noth und Kummer in einer Hütte mit uns wohnen? Was Wunder, daß uns selten nur ein Bissen Brods vergönnt wird, der nicht vorher in Thränen oder Schweiß getunkt ward; und daß, wo wir einmal für einen Moment freier aufathmen zu können meinen, alsobald der Schreckenskönig wieder in der Ferne vor uns aufsteigt, oder gar zu unsern Fenstern hereinschaut, damit auch nicht ein Tropfen Freude unvergällt uns bleibe? Wir sind Sünder, und unser Gott ist ein “verzehrend Feuer.“ “Das macht dein Zorn,“ singt Moses in seinem Wüsten- und Wanderpsalme: “daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so dahingeschrecket werden. Unsre Missethat stellest du vor dich, unsre unerkannte Sünde in das Licht deines Angesichtes; denn alle unsre Tage schwinden durch deinen Zorn; wir verbringen unsre Jahre, wie ein Geschwätz.“ Hört dieses düstre Schwermuthslied; aber verwundert euch, daß es nicht Geheul der Verzweiflung ist: denn die Sünde verdammt uns diesseits und jenseits, zeitlich und ewig; und da vom Sinai das “Verflucht sei Jedermann, der nicht bleibet in Allem, das geschrieben steht im Buche des Gesetzes, daß er es thue“, herunterschmetterte, beleuchtete es nicht blos die offne Todtengruft, sondern auch die offne Hölle.

„Aber welche Bilder“, höre ich sagen, „rückst du uns in den Blick, und wie führest du uns?“ Ich führe euch recht. Der Sinai darf nicht umgangen werden. Hier werdet erst, damit zunächst nur einmal das Murren euch vergehe, im Feuerscheine des Gesetzes eurer Sündenschuld euch bewußt, und in ihr der letzten Ursache aller Lebenspein und alles Erdenjammers. Und schlagt ihr dann die Hände über euch zusammen, weil eure Sache so verzweifelt böse stehe, und erzittert euch Mark und Bein unter der Wahrnehmung, daß in der That von Gottes- und Rechtswegen etwas Andres euch nicht gebühre, als des Todes, des Teufels und aller Schrecken Geleit auf eurem Lebensgange, und zuletzt die Landung nicht im Grabesmoder nur, sondern im Zwinger der Verdammten: dann folgt uns weiter! Unter den Schrecken des Sinai wohnen wir nicht mehr; aber wisset, euch ist dort die Stätte angewiesen, so lange ihr zu uns nicht übersiedelt. Entweder vom Gesetz verdammt, verworfen und der Hölle zugewiesen, oder – eine dritte Stellung giebt es nicht, - gerettet und beseligt durch freie Gnade! Kommt und sehet: wir zelten lieblich und erwünscht. Vernehmt, was das Organ des Heiligen Geistes in unserm Text uns zuruft. “Ihr seid nicht bekommen“, ruft es, “zu dem Berge, den man anrühren konnte und der mit Feuer brannte, noch zu dem Dunkel, und Finsterniß, und Ungewitter, und dem Hall der Posaune“, und wie die schauerlichen Worte weiter lauten; “sondern ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem.“ Hört ihr? – Ja, ja, so süße Namen trägt das Reich, das wenig gekannte, tief verschleierte, und doch so unvergleichlich herrliche, dem wir angehören. Ueber dieses Reiches Pforte gewahrt ihr das Zeichen des Kreuzes als Emblem. Eng ist sie; aber weit genug für jeden gebeugten, heilsbegierigen Sünder. “Zion“ heißt die geistliche Stadt, als Thronsitz des rechten und wahrhaftigen David; “Jerusalem“ heißt sie, die “Friedensburg“, um der Sabbathruhe willen, zu welcher Josua das Volk nicht führen konnte, die aber hier dem müden Pilger bereitet ist; “himmlisch“ heißt sie, der Natur alles dessen halber, was sie umschließt und in sich birgt; “die Stadt des lebendigen Gottes“, weil sie der einzige Ort, wo Gott im milden Gnadenglanze thront, weil sie die “Hütte Gottes bei den Menschenkindern“ ist. Hier ist der Ewige nicht mehr ein verzehrend Feuer. Hier weisen uns die heiligen Engel nicht mehr von seines Thrones Stufen weg. Hier umschweben uns die reinen, holden Wesen nur als unsre Freunde und Begleiter; und auch die verdammende Stimme des sinaitischen Gesetzes ist hier verstummt. Hier ist der Tod nicht mehr der Schreckenskönig; nicht hat hier mehr „der Teufel des Todes Gewalt“; nicht mehr ist hier das Sterbebette Schaffot und Richtplatz, noch das Grab Verließ und Kerker mehr. Und der Erde Mühsal hat hier aufgehört, Strafe und Fluch zu sein, und ist nur noch Züchtigung der göttlichen Liebe zu Heil und Frieden. - Hier trägt die Distel Feigen und der Dornbusch süße Trauben.

Feiert ihr nun in dieser Stadt euer Todtenfest mit uns, so geschieht es nicht mit Wehklagen mehr und Zittern, sondern mit heitern Stimmen. Nicht mehr bejammert ihr’s, geboren zu sein; sondern preiset Gott für ein Leben, dem solche Herrlichkeit erblühen kann. Ihr lasset Andern dann das Sirachische: „O Tod, wie bitter bist du“; indem euerm Herzen jetzt das Simeonische: „Herr, nun lässest du deinen Knecht mit Frieden fahren“, oder gar das Paulinische; „Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein“ ungleich näher liegt. Ihr lasset Andern an den Bahren ihrer Entschlafenen den dumpfen Schmerz der Verzweiflung und die hoffnungslose Klage; ihr salbet, wie David beim Sarge seines Kindes, euer Haupt, und sprechet mit ihm: „Sie kommen nicht wiederum zu mir; aber ich fahre bald hinauf zu ihnen!“ Nicht händeringend, wie jene, denen der Weg zum Heiligthume nicht geoffenbart ist, tretet ihr zu den Hügeln eurer Lieben; sondern, ob auch eine Thräne der Wehmuth euch das Auge feuchtet, mit dem friedsamen Gruße: „Selig sind die Todten, die in dem Herrn sterben, von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit und ihre Werke folgen ihnen nach!“ – O wie so gar anders klingen die Glocken des Todtenfestes, lauten die Festeslieder, gestalten sich die Festgefühle heute bei uns in Zion, als bei euch da draußen! – Ja, - was werdet ihr vollends hiezu sagen? – in Zion feiern wir das Fest nicht einmal über den Gräbern mehr, und an den traurigen Verwesungsstätten; sondern begehen’s, o, auf unendlich lieblicherm Boden.

2.

„Wo denn?“ fragt ihr mit nicht geringer Spannung. Wisset: Nicht getrennt von unsern in Gott Entschlafenen; nein, mitten unter ihnen; ja an den Thronen ihrer Herrlichkeit; denn uns, wie dem Herrn, “leben sie alle.“ Und wie leben sie! Hört, was der Apostel glückwünschend uns zuruft. “Ihr seid gekommen“, spricht er, “zu der Gemeine der Erstgebornen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu dem Richter, Aller Gott“ (so lauten die letzteren Worte nach dem Grundtext), und zu den Geistern der vollendeten Gerechten.“ – Welch eine Versammlung! Die “Erstgebornen“ sind die zuerst in die Wohnungen des ewigen Friedens Eingeführten: die Patriarchen, die Propheten, die „Stillen im Lande“ unter Israel, und insonderheit die mit Jesu, dem Lebensfürsten, zugleich aus ihren Gräbern Auferweckten. Auch deren Namen waren längst im Himmel angeschrieben, obwohl das Blut, mit welchem Sündernamen in die Bücher Gottes eingetragen werden, auf welches aber auch sie schon hofften, in den Tagen der Mehrsten von ihnen noch nicht vergossen war. Sie wohnen jetzt um ihren “Richter“ als um ihrer “Aller Gott.“ Der Apostel will sagen, daß sie ohne Furcht und Sorge, und ohne den entferntesten Grund zu einem solchen, ihres Richters, als ihres für immer versöhnten Freundes, Thron umwohnen. “Die Geister der vollendeten Gerechten“ sind die später in die Himmelsscheunen Eingebrachten; und in dieser Schaar befinden sich die Unsern, und verlangen, - ihr dürft es glauben, - in unser Pilgerthal nicht mehr zurück. “Ist es aber auch gewiß“, höre ich fragen, „daß sie leben, und dort versammelt sind, die Unvergeßlichen?“ So gewiß, ihr Freunde, als Jesus Christus, der es verbürget, durch Wunder und Zeichen als der Sohn Gottes erwiesen ward; so gewiß, als er einst mit großer Klarheit und Bestimmtheit daherrief: „Wer da lebet und glaubet an mich, wird nimmermehr sterben;“ so gewiß, als er als einen Solchen, der auch Macht habe über den Tod, vor aller Welt unter Anderem auch dadurch sich beglaubigte, daß er einen Lazarus aus der Verwesung, den Jüngling zu Nain aus dem Sarge, und Jairi Töchterlein von der Todtenbahre mit einem Worte in’s Leben zurückrief; so gewiß, als der Vater des Sohnes Versicherung: „Ich bin das Leben“ durch dessen eigene Auferweckung am dritten Tage mächtiglich besiegelte; so gewiß, als der Heiland zu lebendigen Zeugen dafür, daß seine Todten leben, den Moses und Elias aus der Welt der Verklärung auf Tabors Höhe herabcitirte; so gewiß, als die Apostel alle, alle jeden Augenblick erbötig waren, die tiefe Begründung ihrer Ueberzeugung, daß durch Christus der Tod getödtet sei, durch Dargabe ihres eignen Bluts und Lebens kundzugeben. Glaubt’s, es ist nichts mehr gewiß, wenn das nicht, daß unsre in dem Herrn Abgeschiedenen leben, und selig vor dem Angesichte Gottes versammelt sind. Wir aber sind “zu ihnen gekommen“ nach des Apostels Wort. Recht nahe, will er sagen, seien sie uns, und die Kluft zwischen uns und ihnen sei wohl geringer noch, als selbst die Gläubigsten sich’s denken möchten. Und in der That wohnen wir ja schon mit ihnen in einer Gottesstadt; mögen sie auch den oberen Theil derselben inne haben. Einer Reichsordnung und einem Hauswesen gehören wir mit ihnen an, und knieen täglich mit ihnen vor einem Herrn, wie wir von einer geistigen Speise mit ihnen essen, und ein Lied, das Lied des Lammes mit ihnen singen. Und wer weiß, ob die Verbindung zwischen uns und ihnen nicht eine noch ungleich engere, trautere und nähere ist, als wir’s selbst in unsern kühnsten Hoffnungen uns träumen lassen. Denn, wie schon bemerkt, das apostolische: „Ihr seid gekommen zu den Geistern der vollendeten Gerechten“, hat einen großen Nachdruck, und darf nicht zu einem in die Zukunft weisenden: „Ihr werdet sie wiederfinden“, verflüchtigt werden. –

Wir grüßen sie an diesem Feste im Geist, und lieben sie heute noch, wie wir sie je geliebt; und lieben nicht ihre Bilder und Schattenrisse nur; sondern sie selbst, die uns ja nicht genommen, sondern nur entrückt sind. Unsre Herzen schlagen ihnen wo möglich wärmer und inniger noch, denn weiland. Das Wehmuthsgefühl, ihnen einst nicht jederzeit gewesen zu sein, was wir ihnen hätten sein mögen und sein sollen; die Vorstellung, wie sie im Genusse ihrer himmlischen Herrlichkeit so überaus bereitwillig sein werden, uns Alles, was wir etwa gegen sie versäumten, und was bei unsrer Rückerinnerung an sie unser Gemüth bedrücken will, tausendmal zu verzeihen; und dann unsre Ahnung von der Schöne und Verklärung, in der sie gegenwärtig prangen: dies Alles gießt nur nährend Oel in unsre Liebesflamme. Wir denken, es dürfte ihnen wohl bewußt sein, wie es hier unten uns ergehe. Die Menge der Engel, von denen sie und wir umgeben sind, könnten ihnen, so denken wir, aus dem Thal der Erde manche Botschaft überbringen. Wir weiden uns im Geiste an der paradiesischen Glorie der Vollendeten, und vergegenwärtigen uns, wie die letzte Thräne nun von ihrem Auge getrocknet ist, wie sie jetzt jubelnd ihre ganze Lebensführung im Zusammenhange überblicken, wie kein Weh, kein Leid, kein Kummer mehr sie anficht, sondern sie mit den alten Gottessehern, den Aposteln, den Vätern der Kirche, den Helden der Reformation und all den andern Seligen unter den Palmen eines ewigen Friedens wallen; und vor Allem, wie sie jetzt, der Sünde los und ledig, denjenigen von Angesicht zu Angesicht erschauen, welchen sie, wie wir jetzt, einst liebten, obwohl sie ihn nicht gesehn hatten, und wie sie in dem Maaße Ihn nun lieben, preisen und erheben können, in welchem sie’s so gerne schon auf Erden hätten thun mögen, nur nicht vermochten: - in dieser ihrer Lebensverklärung schauen wir sie im Geiste an, und freuen uns der Herrlichkeit, die sie umstrahlt, und preisen sie selig, daß sie überwunden haben, und den Staub des Todesthals vom Fuße schüttelten. So sind wir durch einen Glauben, der an’s Schauen grenzt, “zu ihnen gekommen“, und feiern unser Todtenfest im Lande der Lebendigen, und feiern’s mit ihnen und unter ihnen als ein Fest des Triumphes über den Tod. Und nicht, als führen wir dabei in duftigen Nebelgondeln der Phantasie: sondern wir fußen auf Felsen göttlicher Versicherungen und historischer Thatsachen, an denen bis jetzt alle Lanzen und Zweifelsgeschosse des Lügenvaters zersplittert sind, und ewig zersplittern und zerschellen werden. O, haltet euer Todtenfest mit uns; und alsobald verwandelt sich der Schauplatz. Statt zwischen den Gräbern ergehen wir uns zwischen Thronen der Seligkeit; und mit dem Schauplatz wandeln sich auch Stimmung und Empfindung.

3.

Denn feiert ihr’s in unserm Zion, so begeht ihr’s nicht mehr mit dem Wehgefühle der Verwaistheit, sondern mit der zuversichtlichen Hoffnung eines baldigen und frohen Wiedersehens. Freilich geht „nichts Unreines zum Himmelreiche ein“. Zur Theilnahme an der Hochzeit des Lammes bedarf es vor allen Dingen des “hochzeitlichen Kleides.“ Und dieses besitzt ihr noch nicht in dem unflätigen und besudelten Gewande eurer vermeintlichen eignen Gerechtigkeit; und ihr erlangt’s auch nimmer, so lange ihr von dem großen Haufen, “Welt“ genannt, ungeschieden bleibt, und mit ihm die breite Straße zieht. Geht zum Sinai zurück, und wenn euch dort die Kniee wanken unter dem Eindruck der Majestät und Heiligkeit des großen Gottes; wenn der Spiegel des Gesetzes euch überwiesen hat, daß ihr euch vor Seinen Stuhl nicht wagen dürft; wenn ihr die Hände über euer Haupt zusammenschlagt, und eurer Brust der Schrei entfährt: „Wehe, wehe, wir sind von denen, welchen das Wort gilt: Ich will sie aus meinem Buche tilgen“; dann, Freunde, findet euch wieder bei uns ein. Ihr habt gesehen, daß wir zu Manchem “gekommen“ sind; aber wisset, wir kamen auch - - Doch hört den Apostel selber zu uns reden: “Ihr seid gekommen“ ruft er, “zu dem Mittler des neuen Testamentes Jesu, und zu dem Blute der Besprengung, das da Besseres redet, denn Abels.“

Seht, Brüder, hier liegt der Grund von aller unsrer Herrlichkeit. Hier wird euch der Mann genannt, der den ganzen Armensünderhimmel stützt und trägt. Da steht Er vor euch der anscheinlich Unmögliches möglich machte, und es dahin gebracht hat, daß Gottes Gerechtigkeit Ihm, dem Hocherhabenen die Hand der Gnade nicht mehr bindet; daß seine Heiligkeit nichts mehr dawider hat, daß das “Fern, ihr mit Schuld Beladenen!“ über seines Hauses Pforte gestrichen werde; daß Moses nicht mehr der Thürhüter bei der Pforte seiner Wohnung, und das Zeugniß, Alles gehalten zu haben, was geschrieben steht im Buche des Gesetzes, nicht mehr der einzig gültige Einlaßbrief zu den ewigen Friedenshütten ist. Der wunderbare Mann brachte dies fertig; aber nicht etwa dadurch, daß er die Tafeln Sinais, die fordernden und drohenden, zerbrach; er wäre in solchem Falle selbst ein Kind des Todes gewesen; sondern dadurch, daß er ihnen in der Stellung eines Bürgen, die gebührende Ehre gab, und das Gesetz aufrichtete, statt es aufzuheben. Nicht dadurch erzielte er so unermeßlich Großes, daß er das heilige Zornesfeuer wider die Sünde, wie es in den Flammenwogen, die jenen Berg umwallten, sinnbildichen Ausdruck fand, gewaltsam löschte: - wie wäre dies möglich gewesen? – sondern dadurch, daß er sich stellvertretend selbst dieser Gluth zum Opfer brache, und der ewigen Gerechtigkeit vollkommen genug that. Geheimnißvoll, aber im Wege Rechtens, hat er ein neues Testament, einen neuen Bund gegründet, in welchem statt der Strenge, die Gnade herrscht, und statt der Regel: „Thue das, so wirst du leben“, die neue gilt: „Glaube; und was Er that, geschah für dich.“ Und es verbleibt nicht Gott, nicht den Engeln, nicht den Teufeln, nicht Mosi, noch irgend Jemandem sonst auch nur ein Schatten von Grund und Anlaß, dawider als wider eine Neuerung der Willkühr Einspruch zu erheben. Vielmehr verharret Alles in seinem Stand, und wird keine Ordnung noch Satzung des göttlichen Reichshaushalts verletzt, wenn fortan ein gekreuzigter Schächer, sobald er sich Jesu hingiebt, die Botschaft vernimmt: “Heute wirst du mit mir im Paradiese sein;“ oder ein armer Sünder, wie Lazarus, von Engeln in das himmlische Heiligthum getragen wird. – Was stehet ihr denn, Freunde, und sehet gen Himmel? Schaffet, daß ihr selbst in ihn hineinkommt, wenn heut oder morgen das Buch auch eurer Lebenstage abschließt. Die Brücke in das Land der Seligen ist auch für euch geschlagen. Wäre sie es nicht, ihr wölbtet sie euch nimmermehr, möchtet ihr auch Werk auf Werk und Tugend auf Tugend thürmen. Unendlich Größeres, als in Menschenkräften ruht, erforderte ihr Bau. Nur Einer hatte die Kosten herzuschießen. Da steht er, groß und hehr, zwischen Tod und Leben, zwischen dem Thränenthal und der Welt der Herrlichkeit, zwischen der Schuldnermenge und dem Throne ihres Richters: der Mittler Gottes. O, ergreift seine ausgereckte durchgrabene Hand; und dann gebt Valet der allerletzten Sorge. Er geleitet euch sicher und ohne Anstoß in das Land hinüber, wo alles Leides und Geschreis ein ewiges Ende ist. Wie sündig, wie beladen ihr immer seid: alle Waffen werden sich vor euch strecken, alle Schranken vor euch sich senken müssen. Eins wirkt dieses Wunder: “das Blut der Besprengung“, zu welchem ihr gekommen seid. Dieses Blut redet für euch. Wie dies gemeint sei, deutet der Apostel in unserm Texte an. Er erinnert an ein anderes Blut: an das Blut Abels, von des Brudermörders Hand vergossen. – Ihr wißt, Cain schwieg, verhehlte, und that, als ob nichts geschehen wäre; aber das Blut verklagte ihn, forderte Wiederherstellung der durch ihn geschändeten Majestät des hochheiligen Gesetzes, und schrie um Vergeltung, Rache und Fluch wider den Frevler hinauf gen Himmel. In gleicher Weise schreit das Blut des Lammes, nur “Besseres redend“ für die, so Christi eigen sind. – Um Vergebung schreit’s, um Absolution, um Gnade; und würde, wollte Gott die Erhörung ihm versagen, wider Gott selbst seine Stimme erheben, und Ihn öffentlich beschuldigen, daß Er nicht Gerechtigkeit übe, dem Verdienste Seines Sohnes seine Gebühr nicht gebe, und dessen Genugthuung selbst als eine unhinlängliche der Lästerung überliefere. - “Besseres“ redet es; und es redet “besser“, d.h. lauter noch, kräftiger und durchdringender, als Abels Blut. Es hätte selbst die Stimme des letztern überschrien, und dem Mörder Begnadigung erwirkt, hätte sich dieser nur mit zerschlagener, aber gläubiger Seele auf den Mittler geworfen, und der göttlichen Erbarmung sich anempfohlen. Der Fluchruf selbst der Blutströme durch eines Manasse’s Hand vergossen, hat vor dem Einspruch des Kreuzesbluts verstummen müssen; und wenn einst die Ewigkeit ihre Geheimnisse uns verrathen wird, werden noch größere Wunderwirkungen der Stimme des Blutes Christi uns in Erstaunen setzen. –

Ruhen wir denn nicht, theure Freunde, bis wir gründlich wissen, daß auch wir die Stimme dieses Blutes, neben dessen Anwaltschaft wir einer andern nicht mehr bedürfen, für uns haben. – Mit diesem Blute besprengt, sind wir berechtigt, der festen Zuversicht uns hinzugeben, daß auch einst unsere Laufbahn in der Wolke jener Zeugen sich verlieren wird, deren „die Welt nicht werth war“, und dürfen unser Gedächtnißfest begehen statt mit dem Wehgefühle der Verwais’theit mit der gewissen Hoffnung eines nahen und frohen Wiedersehens unsrer in Gott Entschlafenen. –

Kommt den Alle! – Es ist noch Raum in unsrer Gottesstadt, und der “Thürhüter“ immerdar und gern bereit, gebeugten und heilsbegierigen Sündern aufzuthun. – Nehmt Wohnung in unsrer Mitte! – Und sollte heute über ein Jahr auch der Eine und Andere von uns schon unter denen sein, derer man, - hin und wieder vielleicht mit einer stillen Thräne, - als solcher gedenken wird, die nun auch ihren Pilgerstab niederlegten; o, daß dann, wie wir heute so manchen der im verfloß’nen Kirchenjahr Entschlafenen, so die Erleuchteten in der Gemeine auch uns mit voller Zuversicht die Grabschrift zu setzen sich gedrungen fühlen möchten: “Sie sind vor dem Stuhle Gottes, und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel; und der auf dem Stuhle sitzt, wohnt über ihnen. – Es hungert und dürstet sie nicht mehr, noch fällt auf sie irgend eine Hitze. Denn das Lamm, das mitten im Stuhle ist, weidet sie, und leitet sie zu lebendigen Wasserbrunnen.“ – Ja, also sei es! – Amen.

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