Krummacher, Friedrich Wilhelm - Ein Strick auf dem Wege

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Ein Strick auf dem Wege

Matth. 23, 23.
Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, die ihr verzehntet Münze, Dill und Kümmel, und lasset dahinten das Schwerste im Gesetz, nemlich das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben. Dieß sollte man thun, und jenes nicht lassen.

Nicht Kinder dieser Welt, sondern gläubige Christen sind es, an welche der Apostel Petrus den bekannten Mahnruf richtet: „Seid nüchtern und wachet; denn euer Widersacher, der Teufel, gehet umher wie ein brüllender Löwe, und suchet, welchen er verschlinge.“ - Allerdings sind für Alle, die Christo wirklich angehören, die „Werke des Teufels“ in sofern „zerstört“, als der Arge sie schließlich und ewig nicht mehr bewältigen und verderben kann. Aber der Teufel selbst glaubt hieran nicht, sondern ist unablässig bemüht, die Geretteten unter seine Gewalt zurückzubringen; und vermag erstere auch nicht zu verderben, so gelingt es ihm doch nur all zu oft, sie zu entstellen und zu verunstalten, um dadurch dem Himmelreiche Abbruch zu thun und demselben in den Augen der Welt einen Makel anzuhängen. Hundertfältiger Art sind die Stricke, die der Bösewicht unvermerkt den Pilgern Gottes über die Straße spannt. Der feinst gesponnenen und gefährlichsten aber einer ist der, vor welchem der Herr selbst einst so nachdrucksvoll seine Jünger warnte, da er ihnen zurief: „Vor allen Dingen hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, welcher ist die Heuchelei.“ Ihr wißt, eine der Welt verhaßtere Menschenklasse, als die eben bezeichnete, gibt es nicht; und ihr mögt euch denken, welch ein Triumph es für den Lügenvater sein wird, derselben vorweislich eins der sogenannten „Kinder Gottes“ einverleibt zu haben. „Aber könnte ihm dies je gerathen?“ Auf diese Frage soll euch heute Antwort werden. - Unser Texteswort enthält einen Richterspruch und eine Weisung. Laßt uns sehen, wer von dem ersteren getroffen wird, und was die andere aussagt und bedeutet. Kröne aber der Herr unser Wort an unser Aller Herzen mit seinem Segen!

1.

Das Gericht, das in dem Ausspruche des Herrn ergeht, traf allerdings zunächst die Pharisäer und Schriftgelehrten, von denen wir Ihn eben umgeben sehn. Wir kennen diese leidige, widerwärtige Art: nächst dem Satanas selbst die Hauptplage des Herrn auf seinem Lebensgange. Doch dürfen wir nicht denken, daß jene Leute ohne Unterschied alle im gröbsten Sinne des Wortes Heuchler gewesen seien. Nicht wenigen unter ihnen lag es wirklich an, nicht blos vor den Menschen mit dem Nimbus der Heiligkeit sich zu umgeben, sondern auch Gott dem Herrn, an den sie glaubten, und vor dem sie sich verantwortlich wußten, sich wohlgefällig darzustellen. So waren sie immer noch ein wenig besser, als so Manche unter uns, welche lediglich, um dadurch dieser oder jener hochstehenden und einflußreichen Person sich zu empfehlen, ein kirchlich Kleid umwerfen oder eine religiöse Redeweise sich zu eigen machen, von der ihr Herz so wenig etwas weiß, daß dieselbe vielmehr zu ihrer wahren innersten Gesinnung den grellsten Gegensatz bildet. Von diesen ehrlosen und verächtlichen Menschen rede ich heute nicht. Sie begegnen uns nicht unter den Pilgern Gottes, sondern in der Karavane, die gen Mitternacht zieht. Mögen sie zu Herzen nehmen, was die Schrift sagt: „Der Herr bringt die Lügner um, und hat einen Greuel an allen Falschen!“ Mögen sie's, ehe das mit seinem vollen Nachdrucke sie treffende „Wehe“ unsres Textesspruchs seinen ganzen, schauerlichen Inhalt tatsächlich für sie ausgebiert!

Doch auch in ihrem besseren Theile waren die Pharisäer insofern ebenfalls nur Heuchler, als sie mit den Geboten Gottes, als deren treue Beobachter sie doch erscheinen wollten, den ärgsten Unterschleif zu treiben pflegten. Dies ist's, wes der Herr sie in dem vorliegenden Ausspruche anklagt, und um deßwillen Er in richterlicher Majestät das erschütternde „Wehe!“ über sie ausruft. „Ihr verzehntet“, spricht Er, „Münze, Dill und Kümmel, und das Schwerste im Gesetz lasset ihr dahinten.“ - Allerdings lautete die göttliche Verordnung 3 Mos. 27, W: „Alle Zehnten im Lande, beide vom Samen des Landes und von den Früchten der Bäume, sind des Herrn, und sollen dem Herrn heilig sein.“ - Das Absehen Gottes ging dahin, das Volk Israel, das Er zum Salz und Leuchter der Welt erkoren hatte, mit tausend Ketten und Kettlein an den Tempel zu binden, mit tausend Zäunen und Zäunchen gegen das Heidenthum abzuschließen. Auf Schritt und Tritt sollte es daran erinnert werden, wer sein souverainer Herr und Gebieter sei, und überall Gelegenheit finden, im Gehorsam gegen diesen Herrn sich zu üben. Zu diesem Ende ward ihm auch das die Zehntabgabe betreffende Gesetz gegeben. Es konnte nun kein Jude mehr sein Feld besehen, oder seinen Garten durchwandeln, ohne auch hier von allen Seiten wieder eine erneuerte Mahnung daran zu erhalten, daß er ein Schuldner Jehova's sei, welcher letztere an den Priestern und Leviten seine sichtbaren Vertreter habe. Wie verfuhren aber nun die Pharisäer? Nicht allein, daß sie ihr Hauptstudium auf den Theil des Gesetzes verwandten, der nur eine zeitliche und vorübergehende Bedeutung hatte, und ihnen blos die Verpflichtung symbolisiren sollte, ihr ganzes Leben mit allen seinen Verrichtungen dem Herrn zu heiligen; sondern sie redeten sich nun auch ein, daß mit jenen levitisch-kirchlichen Vorschriften das Gesetz Gottes überhaupt, wenigstens seinen wesentlichsten Forderungen nach, bereits erfüllt sei. Sehr ernstlich beschäftigten sie sich unter Anderem mit der Frage, ob in der eben citirten Stelle des dritten Buches Mose unter dem „Samen des Landes“ blos die Feldfrüchte, oder schlechthin Alles zu verstehen sei, was in Feld und Garten wachse; und weil ihrer Meinung nach eine absolut sichere Entscheidung hier nicht zu erzielen war, so erachteten sie es für gerathener, möglicher Weise das Gesetz an Heiligkeit zu überbieten, als sich der Gefahr auszusetzen, dasselbe in irgend einem seiner Gebote zu übertreten. So verzehnteten sie denn auch die geringsten Gartenkräuter, wie die Münze, den Till und Kümmel, d. h. sie entrichteten davon selbst den Zehnten an den Tempel, und hießen das Volk ein Gleiches thun. Gereichte ihnen dies zum Vorwurf? O, nicht doch. Daß sie so verfuhren, das war ihre Sünde nicht. Aber daß sie damit von der Verpflichtung gegen die unwandelbaren und ewig währenden Vorschriften des göttlichen Sittengesetzes sich loszukaufen gedachten, und wirklich ihren Gehorsam gegen Gott lediglich auf die pünktliche Beobachtung jener und ähnlicher äußerlicher Gebote beschränkten, das war das Arge in ihrem Thun, um deßwillen der Herr das „Wehe“ über sie ausrief, das den Namen der „übertünchten Gräber“ ihnen zuzog, und Anderes nichts, als das „ewige Feuer“ ihnen in Aussicht stellte.

Ein wirklich bekehrter und wiedergeborner Christ ist kein Pharisäer, und kann auch ein solcher nicht mehr werden. Jedes „Wehe“ ist über ihm verstummt; aber darum doch nicht jedes „Siehe dich vor“, jedes „Hüte dich!“ Versäumt er Wachsamkeit und Gebet, so kann es leicht geschehen, daß sich ihm unvermerkt allerlei Pharisäisches ansetzt. - Ich will hier davon nicht reden, wie so manche Gläubige, die längst in der gemäßigteren Gefühlszone anlangten, nichts destoweniger in Ausdruck und Gebährde immer noch die Frische des Empfindungslebens ihrer geistlichen Jugend sich anzukünsteln streben; wie andere es lieben, mit pomphaften Worten vor den Menschen sich den Schein eines Glaubensmuthes zu geben, den sie, die besser mit jenem Manne im Evangelium sprächen: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben“, niemals noch im Leben bewährten; oder wie noch andere gewöhnt sind, mit den Herzenserfahrungen dieses oder jenes ihrer Brüder zu prunken, als wären es die Erfahrungen ihres eigenen Lebens, also sich nicht entblöden, mit fremden Federn sich zu schmücken. Allerdings ist dem Christenthum auch dieser Gläubigen schon etwas mehr, als ein Atom des „Sauerteigs der Pharisäer“ beigemischt. Doch, wie gesagt, von diesen sei heute weiter nicht die Rede. Nur derer gedenke ich, die dem in unserem Textesspruche gezeichneten Bilde nicht ganz unähnlich sehen. „Aber Solche könnten unter wahren Christen uns begegnen?“ - Ach ja, Geliebte! Es können auch wirklich Bekehrte bei vernachlässigter Wachsamkeit dahin gelangen, daß sie, freilich in feinerer Weise, und auf geistlichem Gebiete „die Münze, den Till und den Kümmel verzehnten, und das Schwerste im Gesetz mehr oder minder dahinten lassen.“ - Wie manche einst wirklich zu Christi Fahne Geworbene machen sich in unsern Tagen uns bemerkbar, die mit erstaunenswürdiger Gewissenhaftigkeit über jedem Jota ihres kirchlichen Bekenntnisses halten; aber sich kein Gewissen daraus machen, aufs gröblichste die Liebe zu verletzen, die sie allen miterlösten Brüdern schulden! Wie manche, die auf's strengste ihren Sonntag heiligen, und auf's heftigste um dessen Heilighaltung eifern: aber die Tage der Woche hindurch nur schwache Beweise geben, daß sie in dieselben von ihrem Sonntage eine Weihe mit hinübernahmen! Wie manche, die eine mustergültige Pflichttreue im Besuche der Versammlungen und Sitzungen aller der frommen und wohlthätigen Vereine, deren Mitglieder sie sind, zu Tage legen; aber gar viel daran fehlen lassen, daß sie den nächsten und heiligsten Verein, dem sie angehören, nemlich ihre Familie so fürsorglich pflegten, wie sich's gebührte! Wie manche, die sich dieses und jenes Dings, „das zum Munde hereingeht,“ mit einer wahrhaft peinlichen Scrupulosität enthalten; aber es mit dem, was bald an unwahren, bald an leichtfertigen, bald an verdächtigenden Reden aus ihrem Munde herauskommt, so gar genau nicht nehmen. O mögen diese Christen, diese „Mückenseiger“, die Kameele verschlucken, doch bedenken, daß sie durch ihr allerdings stark an das Pharisäerthum streifendes Verhalten dem Evangelium in der öffentlichen Achtung mehr Abbruch thun, als dessen ausgesprochenste Feinde und Widersacher! Mögen sie zur guten Stunde noch zu der Einsicht gelangen, daß ihr inneres Leben, das einen so schönen und verheißungsreichen Anfang nahm, eine höchst bedenkliche Erlahmung, ja Fälschung erfahren hat; mögen sie ihr Ohr dem apostolischen Zuruf öffnen: „Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christum, also wandelt in Ihm“, und vor Allem ernstlichst zu Herzen nehmen, was der Herr Christus selbst in unserm Textesworte nicht allein den Pharisäern einschärft. Gewiß, mein Bruder, ist es wohl gethan, daß du den Tag des Herrn heiligst, deine Geldopfer zu Gottes Altären trägst, den rauschenden und zerstreuenden Weltfreuden entsagst, und in Speise und Trank, in Kleidung und 'deiner ganzen Lebensweise der Mäßigkeit dich befleißigst und eine edle Einfachheit walten lassest. Aber wisse, daß dieses Alles nur ein Aeußerliches, und das „Leichtere im Gesetze“ ist, soweit es nemlich wirklich einen Bestandtheil des Gesetzes bildet, und daß dir's Seitens des richterlichen Gottes gar nicht einmal gut geschrieben wird, falls du „das Schwerere im Gesetz“ dahinten lassest. - Hier gilt's, „das Eine thun, und das Andere nicht lassen.“ Dies die Weisung, die uns der Herr ertheilt. Du fragst nach deren Bedeutung, und was du unter dem „Schwereren im Gesetz“ zu verstehen habest? Höre den Herrn! Er bezeichnet das letztere, und stellt die erstere dir ins hellste Licht.

Der Herr nennt, was Er im Auge hat, „das Schwerere im Gesetz“, weil es ohne vorhergegangene Erneuerung des Herzens nicht zu üben ist. Er nennt es mit demselben grundtextlichen Worte, das Beides bedeutet, zugleich das „Wichtigere“, weil, wo es fehlt, alle andere Gesetzeserfüllung kernlos und werthlos ist. Der Herr zählt zu jenem „Gewichtigeren“ und „Schwereren“ zuerst „das Gericht“; griechisch: die Krisis. Dieser Ausdruck bezeichnet zunächst das gesunde, sittliche Urtheil über das, was mir befohlen ist, und sodann die „Gerechtigkeit“, d. i. das diesem Urtheil entsprechende Verhalten, oder, wie wir's zu nennen pflegen, „das Thun unserer Schuldigkeit.“ - Von der Glaubensgerechtigkeit, der aus Gnaden zugerechneten, ist hier nicht die Rede. Lasset mich euch veranschaulichen, was hier gemeint ist! Wenn ich als Hausvater mich allerlei gottesdienstlichen Uebungen und frommen Betätigungen hingäbe, aber darüber die Versorgung, Leitung und Heiligung meines eigenen Hauses versäumte; wenn ich als Beamter auf's emsigste mit Gottes Wort und göttlichen Dingen mich beschäftigte, aber den gegründeten Vorwurf auf mich lüde, daß ich, was meines amtlichen Berufes sei, unverantwortlich vernachlässige; wenn ich als Soldat den Ruhm eines „religiösen“ Mannes mir erwürbe, aber mich nicht zugleich treu, prompt, exakt und eifrig im Dienst erfinden ließe; kurz! wenn ich, in welcher Stellung auch immer, meine kirchlichen und gottesdienstlichen Obliegenheiten wohl in Obacht nähme, aber meine bürgerlichen, gesellschaftlichen und häuslichen Verpflichtungen ans den Augen verlöre und hintansetzte: dann, Freunde, läge es klar am Tage, daß mir's an dem, was der Herr hier „Gericht“ nennt, nemlich an dem erleuchteten Urtheil über das, was Gott von mir fordere, gar sehr noch gebreche. Ich thäte dann mit Nichten meine Schuldigkeit. Ich hätte mich vielmehr von dem Wege der Gerechtigkeit weit verloren. Ja, dann träfe mich in der That etwas von der schweren Anklage wider die Pharisäer, daß sie „Münze, Till und Kümmel verzehnteten; aber das Wesentlichste und Schwerste im Gesetz dahinten ließen.“ Die Pharisäer verrichteten unläugbar Vieles, was anerkennenswerth und löblich heißen mußte; aber sie unterschieden nicht, was zunächst und vor allem Anderen ihnen oblag. Und leider! widerfährt mitunter auch wahren Gläubigen solche beklagenswerthe Verdunkelung ihres Bewußtseins um die Christenaufgabe, die sie zunächst zu lösen haben. Es bleibt ihnen freilich wohl die Zeit nicht aus, da sie in schmerzlichem Selbstgericht das ihnen abhanden gekommene erleuchtete Urtheil wiedergewinnen werden. Aber oft gehen sie lange in der Irre, und richten durch ihr widerspruchsvolles Thun gar großen Schaden an. Wie manchmal hat es schon geheißen, und nicht aus Haß, sondern mit nur zu triftigen Gründen: „Wir können diesen Beamten, oder Officier, oder Knecht, oder diese Magd ihrer Frömmigkeit wegen nicht mehr gebrauchen!“ Entsetzlich dies! O wie muß das unser Evangelium verdächtigen! Doch Gottlob! daß der Ausdruck hier ein falsch gewählter war. Man hätte sagen müssen: „Ihres Mangels an wahrer und gesunder Frömmigkeit wegen können die Leute uns nicht mehr dienen“; denn die rechte Gottseligkeit hat zur nothwendigen Folge ein einheitliches und harmonisches Verhalten nach Gottes Wort, und läßt, dem Worte des Herrn in unserm Texte gemäß, während sie das Leichtere und Untergeordnetere thut, „das Schwerere und Wichtigere im Gesetze“ nicht dahinten.

2.

Als die zweite der Hauptforderungen des göttlichen Gesetzes nennt der Herr die Barmherzigkeit, die Liebe. In dem Maaße, wie diese von den Pharisäern verleugnet wurde, wird ein gläubiger Christ sie nie verleugnen und verletzen können. Die Pharisäer standen überall unter den Antrieben der niedrigsten Selbstsucht, und verrichteten auch ihre besten und frömmsten Werke nur im Absehn auf eigenen Vortheil und eigene Ehre. Bei ihrem Bekehrungsgeschäfte selbst ging es ihnen nur um die Befestigung ihrer Herrschaft über die Gewissen; nicht um der Leute Heil. Pflegten sie doch den unter den Gesetzesbürden, die sie ihnen aufluden, verzweifelnden Menschen geflissentlich den Trost der Gnade zu verkümmern, um sie nur desto sicherer unter ihrer hierarchischen Botmäßigkeit zu erhalten. Schrecklich dies! Aber ereignet sich im Kreise gläubiger Christen niemals dem wenigstens Aehnliches? Ach, wenn sie von ihrer Gläubigkeit Anlaß nehmen, auf Solche, die noch in der Irre gehn, statt herzliches und hoffendes Mitleid mit ihnen zu empfinden, mit kaltem Stolz und vornehmer Miene herabsehn; wenn sie Christenthum rein als Parteisache behandeln, und nur zu ihrer Lehr- und Factionsfahne zu werben suchen, statt zur Fahne des Herrn; wenn sie in grimmem Haß entbrennen gegen die Brüder, deren Glaubensanschauung mit ihrem theologischen Systeme nicht gerade bis auf Tüttel und Jota sich deckt; wenn sie, statt mit den Engeln Gottes über jeden Sünder, der Buße thut, sich kindlich zu freuen, die Neubekehrten herzlos von sich stoßen, die sich nicht alsobald geneigt finden lassen, das Malzeichen ihrer Schuldoctrin an ihre Stirn zu nehmen, und ihre dogmatischen Stichwörter unbesehen zu adoptiren; wenn sie zu Gericht sitzen über Andere mit innerem Behagen, statt mit Wehmuth; wenn sie die Sünder nur vornehm bedauern, statt Retterhände nach ihnen auszustrecken; wenn sie in ekler Selbstgefälligkeit nur anklagen, statt, der eigenen Sünde sich bewußt, freundlich zuzudecken und liebende Fürbitte einzulegen: seht, in allen diesen Fällen find auch sie in ein pharisäisches Geleise hineingerathen. Und da hilft's nicht, daß sie kirchlich sind, Almosen geben, an christlichen Vereinen sich betheiligen, für die Wahrheit streiten, und was sie sonst an und für sich ganz Löbliches verrichten mögen. Sie thun das „Leichtere“ im Gesetz; aber das „Schwerere“ und „Wesentlichere“: die „Barmherzigkeit“, die „Liebe“ - ich will nicht sagen: „lassen sie dahinten“; - aber verletzen sie in so erheblicher Weise, daß sie sich wohl vorsehn mögen, daß es nicht von all' ihrem Frommsein heißen müsse: „Gewogen, und - zu leicht befunden!“

3.

Als die dritte vom Gesetz erforderte Cardinaltugend bezeichnet der Herr endlich nicht den „Glauben“, wie Luther das allerdings doppelsinnige grundtextliche Wort Pistis hier verdolmetscht, sondern die „Treue“, welche mit der Lauterkeit und innern Wahrheit gleichbedeutend ist, und freilich allein am lebendigen Glauben ihren Ausgangspunkt und ihre Quelle hat. An dieser Tugend mangelte es den Pharisäern gänzlich. In der That waren sie nicht mit ganzem Ernst darauf bedacht, Gott in Allem gerecht zu werden, und sich unbedingt seinem Willen zu unterwerfen. Vielmehr suchten sie Gott in allerlei Weise zu täuschen und zu hintergehen. Und kleideten sie sich nichtsdestoweniger vor dem Volk in den Schein des Gegentheils, nemlich einer rückhaltlosen Unterthänigkeit unter Gottes Befehle, so war dies eben nur Schein und Maske, und gar nichts weiter. Fehlt einem Christen die lautere, entschlossene Willigkeit, ungetheilt des Herrn eigen zu sein, und seinem ganzen Willen sich unterthänig zu erweisen, so ist er eben kein Christ, sondern noch ein unbekehrter Mensch, des Geistes Christi baar. Gibt er dennoch sich das Ansehen, als wandle er vor Gott, überall nur Seines Winks gewärtig, so ist er ein Pharisäer und Heuchler obendrein, und fällt unter das volle „Wehe“ unsres Gottesspruchs. Doch kann es durch des Teufels List auch gläubigen, d.h. wirklich zur Bekehrung gelangten Christen widerfahren, daß sie nicht allein Manches nur thun, um von den Leuten gesehen zu werden, und sich mit dem Strahlenglanz einer besondern Heiligkeit zu umgeben; sondern daß sie auch dies und das, worauf der Bann des göttlichen Gesetzes ruht, sich heimlich vorbehalten, und von Anderm, was das Gesetz ihnen gebietet, einen Dispens oder Erlaß sich ausbedingen, also mit dem allmächtigen Gotte markten und feilschen wollen. Da geschieht's denn, daß der Eine dem Geiz, oder der Ehrsucht, woran er krankt, nicht entschieden den Krieg erklären, ein Anderer irgend einem sündlichen Verhältnis welches ihm lieb geworden, nicht entsagen mag; daß ein Dritter allerlei Winkelzüge, Fälschungen, und subtile Betrügereien, die ihm Vortheil bringen, aber vom göttlichen Gesetze ausdrücklich verdammt sind, wider beßres Wissen und Gewissen vor Gott zu beschönigen sich bemüht; ein Vierter, den der Heilige Geist in seinem Innern einer fleischlichen Gesinnung bezüchtigt, mit allem Eifer vor Gott nach Ausflüchten hascht, um nur seiner Luxurie in Kleidung, Speise, Trank und andern sinnlichen Ergötzungen nicht Valet geben zu müssen. Diese vom schmalen Wege weit abgewichenen Christen schweben in der That in großer Gefahr. O, daß ihnen auf ihrem Nachtwandlergange das „Wehe“ des Herrn zur guten Stunde noch weckend und warnend wie ein Donner durch die Seele schlüge! Denn wisset, Freunde, wenn wir nicht lauterlich wandeln vor dem Herrn, d. h. nicht von ganzem Herzen gewillt sind, m Allem seinem heiligen Willen uns zu unterwerfen; wenn wir mit Reservationen, Vorbehalten, Ausflüchten und Ausbedingnissen noch umgehn vor Gott, und darauf aus sind, Versteck vor Ihm zu spielen; wenn unser Herz' noch zögert, unbedingt in den Paulus ruf: „Herr, was willst Du, daß ich thun soll“, und in den Samuelsruf: „Herr rede, dein Knecht höret“, einzustimmen; ja, wenn wir uns nicht entschließen können, falls es sein müßte, um Gottes willen auch „die Hand uns abzuhauen, die uns ärgert, und den Fuß, der uns irre führt“: o, dann - ich wiederhole es - nützt es uns nicht im Geringsten, daß wir gottesdienstlich, kirchlich, ehrsam, ja unanstößig wandeln, oder gar den Ruhm großer „Wohlthäter“ und „verdienter Bürger“ uns erwarben. Wir sind dann an das Pharisäerthum schon nahe herangerückt; und wirklich wehe auch uns, schlagen wir nicht bei Zeiten noch an unsre Brust, und biegen in das rechte gerade Geleise wieder ein. Frieden haben wir in diesem Stande einmal sicher nicht; denn der Friede flieht solch' treuloses unlauteres Verhalten zu Gott, dem Herrn; und wie es uns jenseits einmal im Gerichte Dessen, „der Augen hat wie Feuerflammen“ ergehen werde, das haben wir abzuwarten.

Also „Gericht“, oder „richtig sittliches Urtheil über das, was uns obliegt“, „Barmherzigkeit“ und „Treue“, oder Lauterkeit vor Gott und in Seinem Dienste: das sind die drei geistlichen Zehntopfer, die vor allem Andern der Herr in seinem Gesetze von uns fordert. Freilich wird auch der bewährteste Christ, mit dem Maaße dieser Anforderungen bemessen, noch weit vom Ziele der Vollkommenheit entfernt erscheinen. Wer aber jener drei Tugenden gänzlich baar, und nicht wenigstens ernstlichst beflissen ist, mehr und mehr in ihnen zuzunehmen, den sind wir nicht berechtigt, den Jüngern Christi beizuzählen. An pharisäischen Ansätzen siechen aber auch nicht wenige der wahren Gläubigen, und ihr Widersacher, der Teufel, ist immer und in allerlei Weise darüber aus, sie ganz dahin zu bringen, daß sie geistlicher Weise „Münze, Till und Kümmel verzehnten, aber das Schwerere im Gesetz dahinten lassen.“ - Brüder, seine Schlinge liegt auch vor unseren Füßen. Seien wir darum auf unsrer Hut! Versäumen wir die tägliche Selbstprüfung nicht! Neben wir in Folge derselben ein unnachsichtiges Selbstgericht! Lassen wir das Wort Gottes reichlich bei uns wohnen! Verkehren wir fleißig im Geiste mit den Propheten und Aposteln, die uns das Leben in Gott als das, was es sein soll und muß: als ein harmonisches Ganze zur klarsten Anschauung bringen. Vornehmlich aber halten wir an am Gebet und Flehen zu dem Herrn, daß Er uns vor Allem, was Pharisäerthum heißt, in Gnaden behüte; daß Er, was irgend uns aus der Einfalt, Wahrheit und Klarheit vor Ihm zu entrücken droht, zerstöre; daß Er uns lehre überall seiner Regel folgen: „Dieß soll man thun, und jenes nicht lassen“, und daß Er durch die Schöpfermacht seines Geistes auch aus uns zum Preise seiner Herrlichkeit etwas sittlich Ganzes mache! - Schlagen wir diese Wege ein, so wird's ja gerathen, daß wir wenigstens in Lauterkeit unsern Lauf vollenden, und auch an uns das johanneische Wort sich bewahrheiten sehen: „Wer von Gott geboren ist, der bewahret sich, und der Arge wird ihn nicht antasten.“ Ich schließe mit dem Gebete des Sängers:

Was vor Allem, mein Herr Christ,
Ich von Dir erflehe,
Ist, daß mir des Teufels List
Nicht den Sinn verdrehe.

Schlecht und Recht behüte mich,
Wo ich geh' und stehe.
O, mein süßer Heiland, sprich:
„Amen, es geschehe!“

Eins sei Wort und That an mir,
Eins sei Schein und Wesen;
Denn nur Ganzes hast Du Dir
Für Dein Reich erlesen.

Ach, mein Straucheln macht Dir Schmerz;
Doch vergibst Du gerne,
Ist goldgrundig nur mein Herz,
Und gesund im Kerne.

So durchlauf' mich denn ganz
Durch des Geistes Weben,
Daß ich frei von falschem Glanz
Dir nur wolle leben!

Hilf, daß als aus einem Guß
Ich mich stets erweise,
Und behalte bis zum Schluß
Mich in gradem Gleise. Amen. -

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