Krafft, Johann Christian Gottlob Ludwig - Sieben Predigten über das 53. Kapitel des Propheten Jesaias - Vierte Predigt.

Krafft, Johann Christian Gottlob Ludwig - Sieben Predigten über das 53. Kapitel des Propheten Jesaias - Vierte Predigt.

Text: Jesaias 53, 7.
Da Er gestraft und gemartert ward, that Er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummet vor seinem Scherer, und seinen Mund nicht aufthut.

Unser Textkapitel enthält; wie wir gleich anfangs gesehen haben, eine prophetische Zeichnung des Erlösers, eine mehr als 700 Jahre zum voraus geschriebene Ges schichte seiner Leiden, seines Todes, seiner Auferstehung und seines Sieges. Mit treuen und starken Zügen ist diese Zeichnung entworfen und diese Geschichte geschrieben. In den ersten drei Versen ist die Niedrigkeit des Erlösers und der Anstoß, den man daran nehmen werde, die Knechtsgestalt, worin Er auftreten, und die große Verachtung, die Er tragen werde, geweissagt. Die drei folgenden Verse enthalten den näheren Aufschluß darüber in einem überaus bestimmten und hellen Zeugniß von dem stellvertretenden Leiden des Erlösers, von der Thatsache, daß Er für uns, an unsrer Stelle, leiden werde. „Fürwahr, sagt der Prophet, Er trug unsre Krankheit, und lud auf sich unsre Schmerzen.“ Hierauf öffnet sich dem Propheten ein neuer Blick in das Heiligthum dieser Geschichte, er sieht die Lammesgeduld und Sanftmuth, womit der Erlöser seine Leiden tragen wird, und betrachtet sie mit Verwunderung. „Da Er,“ so legt er Zeugniß ab von dem, was er gesehen, in unsern heutigen Textesworten, „da Er gestraft und gemartert ward, that Er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummet vor seinem Scherer, und seinen Mund nicht aufthut.“ Das gibt der Prophet, oder vielmehr der heilige Geist, der durch ihn redet, zum Zeichen, woran man diesen Knecht Gottes, dessen Leiden er weissagt, in seinen Leiden werde erkennen können. Auf dieses Zeichen laßt uns denn nun auch aufmerken, und zuerst uns erinnern, wie unser Heiland in seinen Leiden solche Geduld und Sanftmuth wirklich bewiesen hat, zweitens hören, worin diese Geduld und Sanftmuth des Erlösers ihren Grund, ihre Quelle hatte, und drittens, wozu uns diese Betrachtung dienen soll. Er, der Herr, lasse es im Segen und zu unsrer Erbauung geschehen.

I.

„Da Er gestraft, oder mißhandelt, und gemartert ward,“ heißt es in unsrem Texte zu Anfang, und mit diesen Worten ist auf der einen Seite die ganze Größe der Last, der Bitterkeit der Leiden ausgedrückt, die der Erlöser nach dem Rathe Gottes zu tragen übernommen hatte, und das Maß der Geduld angedeutet, deren en bedurfte, hier stille zu halten und mit williger Ergebung auszuhalten bis ans Ende; auf der andern Seite ist mit diesen Worten auch das ganze Maß von Unrecht ausgesprochen, das Ihm, dem Sohne Gottes, dem Gerechten, von Seiten der Menschen mit solcher Mißhandlung zugefügt wurde, und also auch das Maß der Sanftmuth angedeutet, deren es hier bedurfte, sich durch nichts erbittern und durch nichts sich die Liebe schwächen zu lassen bis ans Ende. Was sagt nun der Prophet von der vollkommenen Geduld und Sanftmuth, die der Erlöser in seinen Leiden wirklich beweisen werde? Er vergleicht Ihn mit einem Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, mit einem Schafe, das verstummet vor seinem Scherer, und seinen Mund nicht aufthut. Ohne Widerstand, ohne Sträuben, ohne einen Laut von sich zu geben, läßt ein Schlachtlamm sein Leben und ein Schaf seine Wolle, es hält dem Schlächter stille, des es tödtet, wie dem Scherer, der ihm sein Kleid nimmt. Solche Lammesgeduld und Lammessanftmuth, sagt der Prophet, werde in seinen Leiden und seinem Tode auch der Erlöser beweisen. Die Erfüllung dieser Weissagung finden wir in der evangelischen Geschichte in rührenden Zügen beschrieben. Während des Lehramts Jesu trat seine verborgene Hoheit besonders in der Weisheit und Kraft und Freimüthigkeit seiner Lehre und in seinen Thaten hervor; als aber seine Stunde gekommen war, offenbarte sich diese seine verborgene Hoheit vorzugsweise in seiner Geduld. Nachdem Er den schweren Kampf in Gethsemane gekämpft, ging Er der Schar, die Ihn zu greifen herannahte, entgegen, stellte sich ihr dar als den, den sie suchte, und ließ sich binden und hinführen vor das Gericht seiner Feinde. Gleich zu Anfang des gerichtlichen Verhörs, als Er um seine Lehre befragt ward, und erklärte, daß Er frei öffentlich geredet habe vor der Welt, und gelehret habe in der Schule und im Tempel, wo alle Juden zusammen kommen, und seine Lehre mithin kein Geheimniß sey, wurde Er aufs ungerechteste von der Diener Einem ins Angesicht geschlagen, als habe Er dem Hohenpriester ungeziemend geantwortet. Jesus erwiderte diese Mißhandlung mit der sanftmüthigen Antwort: „Habe ich übel geredet, so beweise es, daß es böse sey, habe ich aber recht geredet, was schlägst du mich?“ - Als im Fortgang des Verhörs falsche Zeugen wider Ihn aufgestellt wurden, welche arglistig seine Worte verdrehten, daß es den Schein gewinnen sollte, als habe Er vom Tempel verächtlich geredet, und Er aufgefordert wurde, sich zu verantworten, heißt es von Ihm (Matth. 26, 63.): „Aber Jesus schwieg stille.“ Er antwortete nur, wo es nöthig war, Gott und der Wahrheit die Ehre zu geben. Auf die Frage des Hohenpriesters V. 63.: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, daß du uns sagest, ob du seyst Christus, der Sohn Gottes,“ erwiderte Jesus mit größter Bestimmtheit: „Du sagst es.“ Als Er aber um dieses seines Zeugnisses willen als ein Gotteslästerer vom hohen Rathe zum Tode verurtheilt ward, schwieg Er. Andern Missethätern pflegt nicht mehr Leid zugefügt zu werden, als ihr Urtheil mit sich bringt, man pflegt sie nicht zu verhöhnen. Jesus wurde, nachdem Er in der Nacht verurtheilt worden, auch geschmäht und verspottet und darauf bis an den andern Morgen einer Dienerschaft überlassen, die ihren Muthwillen und Frevel an Ihm ausließ. Gleich nach gefälltem Todesurtheil über Ihn heißt es V. 67. 68.: „Da speieten sie aus in sein Angesicht, (auch das mußte der Herr der Herrlichkeit sich gefallen lassen) und schlugen Ihn mit Fäusten. Etliche aber, um Ihn als einen nun entlarvten falschen Propheten zu höhnen, verdeckten sein Angesicht, schlugen Ihn dann mit Fäusten und sprachen: Weissage uns, Christe, wer ist es, der dich schlug?“ „Und viele andere Lästerungen sagten sie wider Ihn, setzt Lukas hinzu (Kap. 22. 65.). Alle diese Mißhandlungen litt Er schweigend. Es entfuhr Ihm kein ungeduldiges Wort. Er schalt nicht wieder, da Er gescholten ward, und dräuete nicht, da Er litt. - Dasselbe bedeutsame Schweigen setzte Er den Verläumdungen entgegen, mit welchen Er am folgenden Morgen vor dem Pilatus als ein Volksaufwiegler, der sich zum Könige habe machen wollen, verklagt ward, also, daß sich auch der Landpfleger sehr verwunderte. Wenn Er von Pilatus bei Seite genommen und ernsthaft gefragt wurde, hielt Er nicht zurück, und legte Zeugniß ab, wer Er sey, und wozu Er in die Welt gekommen; auf des Herodes eitle Fragen aber antwortete Er nichts, und schwieg, als Er von den Höflingen dieses Königs verspottet ward. Er verstummt, als Er zum Pilatus zurückgeführt wird, und das mittlerweile aufgereizte Volk nun um des Barrabas Loslassung bittet, über Ihn aber das Kreuzige ruft, und als der schwache Richter, immer weiter nachgebend, den Befehl zu seiner Geisselung gibt. Es erfolgt diese der Kreuzesstrafe vorausgehende blutige Geisselung. „Und die Kriegsknechte flochten eine Krone von Dornen, und setzten sie auf sein Haupt, und legten Ihm ein Purpurkleid an, und gaben Ihm ein Rohr, als Königsscepter, in die Hand, und beugten die Kniee vor Ihm, und spotteten Ihm und sprachen: Gegrüßt seyst du, der Juden König! Und spieen Ihn an, nahmen das Rohr, und schlugen damit sein Haupt. So zugerichtet, führte Pilatus, von Mitleid bewegt und von der Geduld des Unschuldigen gerührt, Ihn noch einmal vor das Volk und die Obersten, ob sein Anblick sie etwa besänftige, und gab noch einmal öffentlich seiner Unschuld Zeugniß, und sprach: „Sehet welch ein Mensch!“ Es war nun erfüllt, was im 50sten Kapitel unsers Propheten geweissagt steht (V. 6.): „Ich hielt meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften; mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“ Aber es mußte auch das Uebrige noch erfüllt werden. Er nahm, als Er auch von Pilatus zum Tode verdammt war, sein Kreuz auf sich, und trug es, so weit die Kraft reichte, zur Richtstätte, Er ließ sich entkleiden und kreuzigen. - Er hatte seine Jünger gelehrt: „liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.“ Das übte Er selbst hier aus. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!“ mit diesen Worten bat Er für seine Feinde und Mörder um Verlängerung ihrer Gnadenzeit, um Aufschub der göttlichen Gerichte, ein Gebet, das auch erhört ward, denn vierzig Jahre hindurch noch wurde dem jüdischen Volke das Evangelium gepredigt, ehe das gedrohte Gericht über dieses Volk vollzogen ward. Unüberwindlich blieb Er in Liebe, als seine Feinde sich an seiner Schmach und Marter weideten, als es hieß: „Andern hat Er geholfen, Ihm aber kann Er nicht helfen; Er steige herab vom Kreuze, so wollen wir Ihm glauben. Wahrlich, Er hat seine Feinde geliebt, nicht mit Worten, sondern mit dem Herzen und mit der That. Seine Liebe und Sanftmuth blieb in dem Allen unüberwunden, wie seine Geduld unüberwunden blieb in diesen bangen Stunden seiner Kreuzesmarter. Im 22sten und im 69sten Psalm hören wir die Worte seines schweren Glaubenskampfes in diesen Stunden, bis Er ausgerungen hatte, bis Er ausrufen konnte: Es ist vollbracht! und sein Haupt neigte und verschied.

II.

So bewies der Herr in seinen leiden und seinem Tode die Lammesgeduld und Sanftmuth, die der Prophet in unsern Textesworten weissagt. Wir fragen nun für das Andre: Worin hatte diese Geduld und Sanftmuth denn ihren Grund, ihre Quelle? Diese Geduld und Sanftmuth Jesu war nichts weniger, als Wehrlosigkeit oder Ohnmacht. Deß zum Zeugniß wichen diejenigen, die Ihn greifen sollten, auf seine erste Antwort: „Ich bins, den Ihr suchet,“ zurücke und fielen zu Boden. Deß zum Zeugniß heilte Er in eben diesen Augenblicken - es war sein letztes Wunder - die durch Petrus dem Knechte des Hohenpriesters geschlagene Wunde, und sprach zu Petrus, den Er hieß das Schwert einstecken (Matth. 26,53): „Meinest du, daß ich nicht könnte den Vater bitten, daß Er mir zuschickte mehr denn zwölf Legionen Engel?“ - Die Geduld und Sanftmuth Jesu hatte auch nichts gemein mit Furcht oder Schrecken, oder mit irgend einer Bestürzung. Denn auch mitten in seinen Leiden brach Er sein Schweigen und öffnete freimüthig seinen Mund, so oft es die Ehre Gottes und das Zeugniß der Wahrheit erforderte. Er war sich seiner höchsten Würde auch in dieser tiefsten Erniedrigung vollkommen bewußt, und erklärte sich darüber offener, als je zuvor, vor dem hohen Rathe mit einem Eide, daß Er sey Christus, der Sohn Gottes, und vor dem heidnischen Richter auf die Frage, ob Er denn wirklich ein König sey? mit der Antwort: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“ - Eben so wenig endlich hatte die Geduld und Sanftmuth Jesu irgend eine Gemeinschaft mit einem Zustand von Schwäche oder Abstumpfung und Betäubung, dem wohl Leidende im Uebermaße schmerzlicher Eindrücke unterliegen, sonst würden wir diese höchste Besonnenheit nicht wahrnehmen, nicht diese höchste Ruhe und Klarheit, die Jesus auch unter dem härtesten Andrang seiner Leiden bis ans Ende behauptet, die sich in jedem seiner Worte bis ans Ende kund gibt, und worin sein ungeschwächtes Bewußtseyn und die vollkommene Ordnung seines Innern bis ans Ende sich abspiegelt. Der wahre Grund, die eigentliche Quelle der Lammesgeduld und Sanftmuth unsers Herrn in seinen Leiden, finden wir dagegen in der Schrift mit der größesten Bestimmtheit angegeben auf zweierlei Weise, nämlich in seinem Gehorsam gegen seinen Vater, und in seiner Liebe zu uns.

1.

Jesu Leiden und Tod war zuvörderst das Opfer eines freien Gehorsams, wie geschrieben steht (Phil. 2,8): „Er erniedrigte sich selbst, und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuze,“ - ein Opfer, welches, wie wir letzthin gesehen, die göttlichen Eigenschaften in dem Werke unsrer Erlösung erforderten, und welches der Sohn Gottes im Fleische darzubringen übernommen hatte. Als Mensch mußte Er nun Gehorsam leisten, um einen Rathschluß zu vollführen, dessen Miturheber Er, als Sohn Gottes, im Rathe der heiligen Dreieinigkeit war. Aus dem Gehorsam, den Er in diesem Werke als Mensch zu leisten hatte, erklärt sichs auch, warum Er in dem Zusammenhang unsers Textes, wo sein Leiden und sein Gehorsam geweissagt werden, immer der Knecht des Herrn genannt wird. Der Gehorsam aber, den Er als Mensch hier leistete, war ein durchaus freiwilliger. Das geht hell und glänzend schon aus seinem Verhalten hervor, das wir eben vorhin betrachtet haben. Er sagt es auch ausdrücklich selbst: „Niemand nimmt mir mein Leben, sondern ich lasse es von mir selber. Ich habe es Macht zu lassen, und habe es Macht wiederzunehmen. Solches Gebot habe ich empfangen von meinem Vater.“ Es bezeugts auch deutlich das prophetische Wort. Im 50sten Kapitel unsers Propheten, bei den vorhin angeführten Worten: „Ich hielt meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und verbarg mein Angesicht vor Schmach und Speichel nicht,“ heißt es unmittelbar vorher: „Der Herr Herr hat mir das Ohr geöffnet, und ich bin nicht ungehorsam und gehe nicht zurück.“ Im 40sten Psalm spricht der Messias die bekannten merkwürdigen Worte: „Opfer und Speisopfer gefallen dir nicht, aber die Ohren hast du mir aufgethan. Du willst weder Brandopfer noch Sündopfer; da sprach ich: Siehe, ich komme, im Buche ist von mir geschrieben.“ (Mit dem ganzen Opfergesetz ist es auf das Einige Opfer abgesehen, das ich darbringen soll für die Sünde der Welt.) „Deinen Willen,“ setzt Er hinzu, „deinen Willen, mein Gott, thue ich gerne, und dein Gesetz habe ich in meinem Herzen.“ Auf dieses Einige Opfer für die Sünde der Welt deutet auch der Prophet in unsrem Texte zugleich hin, wenn er den Erlöser einem Lamme vergleicht; denn dies geschieht in unverkennbarer Hindeutung auf das Opferlamm. So legte es auch Johannes der Täufer aus, als er im Lichte dieser Weissagung Jesum das Lamm Gottes nannte, das der Welt Sünde trägt. Sehet da, geliebte Zuhörer, in diesem Rathe Gottes von unsrer Erlösung den Einen Grund, die Eine Quelle der Geduld des Herrn und seiner Sanftmuth, womit Er litt. Das Wert der Erlösung konnte nicht durch Macht und Gewalt ausgeführt werden, und der Grund dazu mußte gelegt werden durch des Mittlers unschuldiges Leiden und Sterben. Die Stunde war nun gekommen, wo die Kraft mußte nicht im Thun, sondern im Dulden bewiesen werden, wo das Schweigen beredter war, als alle Worte, wo mit geduldigem und sanftmüthigem Leiden und Ausharren mußte gestritten, und der Feind übervortheilt, und die Welt überwunden, und ein Sieg errungen werden, dessen Frucht die ewige Seligkeit und Herrlichkeit der Erlöseten ist. Auf dieses Ziel war der Blick Jesu in seinen Leiben unverwandt im Glauben gerichtet, in diesem Glaubensblick hatte er die Kraft freiwilligen Gehorsams überschwänglich, das war die Quelle seiner Geduld. „Was soll ich sagen, sprach Er: Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen.“ Darum erinnerte Er auch so oft die Jünger daran, daß die Schrift müsse erfüllt werden: „Wie würde die Schrift erfüllt? Es muß also geschehen;“ daher sein eigenes genaues Aufmerken auf Alles, was in der Schrift von Ihm und seinen Leiden vorhergesagt war, auf daß es Alles erfüllt würde, von seinem feierlichen Einzuge an in Jerusalem bis zu seinem Ausruf am Kreuze: „Mich dürstet!“ wo es heißt (Joh. 19, 28.): „Darnach, als Jesus wußte, daß schon Alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllet würde, spricht Er: Mich dürstet! (V. 30). Und da Jesus den Essig genommen hatte, sprach Er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.“

2.

Auf das Engste hängt hiermit zusammen der zweite Grund, die zweite Quelle der Kraft der Geduld und Sanftmuth Jesu in seinen Leiden, nämlich seine Liebe zu uns. Der Rath Gottes, an dem Er als Sohn Gottes Theil hatte, und dem Er als Mensch gehorsam ward, ist der Rath von unsrer Seligkeit; der Zweck, wozu der Sohn Gottes Mensch ward, und sich hat für uns zerschlagen und verwunden lassen, ist unsre Lossprechung, unsre Begnadigung im göttlichen Gericht, unsre Wiederaufnahme in die göttliche Kindschaft und Erbschaft, „auf daß wir Friede hätten, und durch seine Wunden heil würden.“ Er sah, daß uns nicht anders zu helfen war. Es war keiner außer Ihm, der es vermocht hätte. Darum hat Er sich unser erbarmt, und hat uns geliebt, da wir noch Feinde waren, und gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, und auch das Kreuz nicht für zu große Schmach und Qual geachtet, es für uns zu dulden, und sein Blut nicht für einen zu theuern Preis geachtet, es zu vergießen für Viele zur Vergebung der Sünden. An unsrer Errettung aus der Obrigkeit der Finsterniß, an unsrer Erlösung und Seligkeit will Er seine Lust sehen, das ist der Preis, um den Er Alles hingegeben, der Lohn, um den seine Seele gearbeitet hat. „Sehet da, die Liebe unsers Herrn zu uns Unwürdigen, die wir von Natur seine Feinde und Mitschuldige seines Todes sind. In Kraft dieser Liebe übte Er solche Geduld und Sanftmuth, da Er litt. In Kraft dieser Liebe behauptete Er Milde und Schonung gegen seine Beleidiger bis ans Ende. Einer seiner Jünger war es, der Ihn verrieth. „Der mein Brod isset,“ mußte Er mit dem Psalmisten sagen, “,tritt mich mit Füßen. Aber keine Spur von Ungeduld. Nicht, daß Er die schreckliche That geringer gemacht, als sie war. Die Sanftmuth ist, wie alle Tugenden, mit der Wahrheit Eins. Jesus sprach die Worte der schrecklichen Wahrheit: „Es wäre diesem Menschen besser, er wäre nie geboren.“ - Die übrigen Jünger betrübten Ihn durch ihre große Schwachheit.“ „Könnt ihr“, mußte Er ihnen in Gethsemane sagen, „könnt ihr denn nicht Eine Stunde mit mir wachen“ und je leidender man sich fühlt, desto größer die Versuchung zur Empfindlichkeit und zum Eifer, wenn Andre nicht thun, was sich gebührt; und der Herr war wahrhaftiger Mensch. Aber kraft seiner Liebe blieb auch in den schwersten Stunden sein Blick, der Blick der Wahrheit, klar und ungetrübt. Er entschuldigt die Jünger auch, indem Er sie straft, dahin, daß es nicht aus bösem Willen geschehe. „Der Geist, sprach Er, ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ Mit gleicher Schonung beurtheilte Er nach seiner Geisselung den Pilatus, als dieser Ihn nochmals bei Seite nahm, und auf seine Macht trotzte, da Jesus schwieg, da brach Jesus sein Schweigen und sprach: „Diese Macht hättest du nicht über mich, wenn sie dir nicht wäre von oben herab gegeben; doch, der mich dir überantwortet hat, der hats größere Sünde.“ Kraft dieser Liebe ließ Er sich nicht erbittern, und legte Fürbitte für seine Feinde ein; denn ihre Seligkeit suchte Er, dazu war Er in diese Stunde gekommen, und Er wußte, daß Viele unter denen, die das Kreuzige über Ihn gerufen, nicht wußten, was sie gethan, auch noch zur Buße würden erweckt werden können. Kraft dieser liebe war Jesus auch in den Stunden seiner schwersten Leiden nicht mit sich allein beschäftigt. Er behielt seine Jünger, Er behielt Alles, was um Ihn her geschah, im Auge, und bewies Liebe bis ans Ende. Bei seiner Gefangennehmung sorgte Er für seine Jünger, daß diese entfliehen konnten, und nicht über Vermögen versucht wurden. Als Er, nachdem das Todesurtheil über Ihn gefällt werden, hinausgeführt wurde, vergaß Er nicht dem Petrus, der Ihn inzwischen auf dem Hofe verleugnet hatte, jenen Blick zuzuwerfen, der ihm gerade damals so nöthig war. Als Er mit dem Kreuze auf seinem Rücken hinausgeführt wurde, und ein großer Volkshaufe nachfolgte, und Weiber, die um Ihr klagten und Ihn beweinten, wandte Er sich und sprach: „Ihr Töchter von Jerusalem, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch und über eure Kinder,“ und erinnerte sie und das Volk noch einmal mit warnenden Worten an das, was ihnen konnte zum Frieden dienen. Auch die Einzelnen übersah Er nicht, und richtete den Einen der beiden Mitgekreuzigten, der Worte der Buße und des Glaubens hören ließ, mit der Zusage auf: „Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese seyn.“ Und zu seiner Mutter, die am Kreuze stand, sprach Er: „Weib, siehe, das ist dein Sohn,“ auf Johannes hinblickend, der mit ihr am Kreuze stand, und zu Johannes: „Siehe, das ist deine Mutter.“ In dieser liebe Jesu zu uns lag, wie in seinem Gehorsam gegen seinen Vater, die Kraft seiner Geduld und Sanftmuth in seinen Leiden. Kraft dieser Liebe ist das Opfer für die Sünde der Welt dargebracht, das ewiglich gilt, kraft dieser Liebe werden auch heute Alle, die sie erkennen, überwunden und Jesu zu Füßen gelegt.

III.

Laßt mich mit wenigen Worten noch hinzufügen, geliebte Zuhörer, wozu hauptsächlich diese Betrachtung uns dienen soll. Nur zwei Hauptpunkte laßt mich herausheben für alle Gläubigen unter uns. Es liegt in dieser Betrachtung der Geduld und Sanftmuth des Herrn in seinen Leiden ein mächtiger Trost für uns, aber auch eine unabweisbare Aufforderung an uns.

1.

Höchst tröstlich ist es für uns, in allen unsern zeitlichen Leiden, Kämpfen und Anfechtungen zu wissen, daß wir einen Mittler und Hohenpriester im Himmel haben, der in den Tagen seines Lebens auf Erden, und besonders am Ende desselben also geübt, geprüft und versucht worden ist, der aus eigner Erfahrung weiß, was Schmerz und Anfechtung ist, der selbst durch Leiden vollendet worden ist, und der nach dem Rathe Gottes auch darum leiden mußte, damit Er vollkommen würde und ein barmherziger Hohenpriester, der Mitleid mit uns haben kann in unsrer Schwachheit. Unser armes, kleingläubiges Herz denkt so leicht, spricht so leicht zu sich selbst: „Ein so armseliges Geschöpf, wie du, bist der Aufmerksamkeit des Herrn der Herrlichkeit in seinem himmlischen Heiligthum gar nicht werth. Was bist du denn in dem großen Ganzen von Adam an bis hierhin unter der Schar der Menschenkinder, die da wohnen auf Erden?“ Solchen Gedanken, geliebte Zuhörer, sollen wir keineswegs Raum geben; die Geschichte der Leiden des Herrn ist der Beweis, daß es sich nicht so verhält. War Er in den Tagen seiner Erniedrigung und seiner Leiden auch der Einzelnen also eingedenk, und vergaß nicht, für seine Jünger zu sorgen, für sie zu beten, daß ihr Glaube nicht aufhöre, wenn Satan kommen werde, sie zu richten, und dem Petrus nach seinem Fall jenen Blick zuzuwerfen; wie viel weniger wird Er uns Einzelne übersehen jetzt in der Herrlichkeit.

Er bleibt in seiner Liebe gestern und heute und derselbe in Ewigkeit, in der Er ja auch gleich nach seiner Auferstehung nicht übersah, den Petrus aufzurichten von seinem Fall. Wir sollen demnach, auch wenn das Gefühl unsrer Unwürdigkeit uns sehr niederbeugt, uns nicht dadurch abhalten lassen, immer wieder aufs Neue uns ein Herz zu fassen zur Geduld und Sanftmuth unsers Erlösers, uns nicht abhalten lassen, zu Ihm zu kommen und uns Ihm zu überlassen, so wie wir sind, mit allen unsern Anliegen und Sünden und Nöthen. Denn daß Er und wahrhaftig geliebt hat und liebt, das sagt uns sein Wort, und darauf ist in der Geschichte seiner Leiden und seines Todes, für uns ein großes Siegel gedrückt. Für Gerechte wäre das ewiglich nicht noth gewesen. Für uns ist es geschehen. Und in dem Maß, als wir uns ganz arm und schwach und bloß fühlen, sind wir diejenigen, für die es geschehen ist, und denen durch Ihn Heil widerfahren soll, durch wie manchen schweren Kampf der Buße und des Glaubens es auch hindurchgehe.

2.

Es liegt aber in unsrer heutigen Betrachtung auch eine unabweisbare Forderung an alle Gläubigen unter uns, nämlich daß wir lernen sollen in unsern Leiden Geduld und Sanftmuth üben, wie der Herr sie geübt hat. Unserm alten Menschen nach geht uns das gar schwer ein, das geduldige Aufnehmen unsers Kreuzes täglich, das willige Leiden des Unrechts, und gehört doch wesentlich zum Bekenntniß des Herrn, und zur Laufbahn auf dem Wege der Nachfolge Jesu, wie Petrus auch in seinem Briefe auf den Grund unsrer heutigen Textesworte die Gläubigen dringend ermahnt. Unsre Leiden sind, so wir Frieden haben mit Gott durch den Glauben an Jesum Christum, nicht weiter eine Strafe oder ein Beweis der göttlichen Ungnade, sondern ein Beweis seiner väterlichen liebe, sie sind Züchtigung unsers Vaters im Himmel, auf daß wir seine Heiligung erlangen. O wie nöthig sind sie uns hierzu! Wir denken bei dem Schwersten, was uns drückt, wohl: wenn nur dieses nicht wäre, alles Andre wollte ich gern ertragen; aber siehe, gerade das ist gemeiniglich das Heilsamste und Wirksamste zu unsrer Reinigung, die ganz eigentlich für unsre Heilung berechnete Arznei. Wie nöthig sind uns Gottes väterliche Schläge zu unsrer Demüthigung, zu unsrer Sammlung und Einkehr in uns selbst, zur Aufmerksamkeit auf Gottes Wort und Absicht; denn wenn Trübsal da ist, suchen wir Ihn, und Anfechtung lehret aufs Wort merken. Darum hat auch das Stilleseyn und Harren in dem, was Gott hienieden zu tragen uns auflegt, so große Verheißung, die Verheißung, daß wirs Ihm danken werden zur rechten Stunde, daß Er unsers Angesichts Hülfe und unser Gott ist. Auch in dieser Hinsicht ists nur Segen für uns, wenn uns Unrecht zu leiden durch Gottes Führung auferlegt wird, wenn wir Gutes thun und Böses dafür leiden, wenn uns Gutes mit Bösem vergolten wird. Je mehr das geschieht, desto besser steht unsre Rechnung. Unserm alten Menschen nach will uns das freilich nicht ein. Wie sind wir da geneigt, uns zu sträuben oder ungebärdig zu stellen, wo uns Unrecht geschieht! Wie wenig sind wir da geneigt zum herzlichen Vergeben und Vergessen! zur herzlichen Versöhnlichkeit gegen unsre Beleidiger und Feinde! Wir könnens nicht, als in Kraft der Liebe Christi, daß wie diese im Glauben ergreifen, und erkennen und erfahren, wie Er uns geliebt, und noch täglich mit Barmherzigkeit uns trägt; da, und nur da lernt sichs, Liebe üben und Sanftmuth, wie Er sie geübt, und sein Kreuz auf uns zu nehmen täglich, wie Er uns befohlen hat, auch im willigen Leiden des Unrechts. Können wir es wagen, uns für seine Jünger auszugeben, wenn wir nicht hierin gesinnet werden, wie Er gesinnet war, und dem Vorbild nachfolgen, das Er uns gelassen hat? Können wir mit Gesinnungen, die Ihm wohlgefallen, zum heiligen Abendmahl hinzutreten, wenn wir nicht anerkennen, nicht sehen wollen, wie wir in dieser Hinsicht ohne Ihn gesinnet sind, und nicht ringen darnach, daß wir in das Bild. seiner Geduld und Sanftmuth, seiner Liebe verklärt werden? Wie viele nun unser nach der Vollkommenheit trachten, die lasset uns also gesinnet seyn. Amen.

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