Flügge, Carl August - Charakteristik der Evangelien

Flügge, Carl August - Charakteristik der Evangelien

Das Evangelium ist die frohe Botschaft von dem in Christo erschienen Heil, die zuerst im Auftrage Jesu durch den Beistand des Heiligen Geistes mündlich verkündigt wurde und dann auf uns gekommen ist durch die Niederschrift zweier Apostel (Matthäus und Johannes) und zweier Apostelschüler (Markus - Petrus und Lukas - Paulus).

Diese Frohbotschaft ist kein philosophisches System, nicht ein ergrübeltes Gebäude von Lehrmeinungen, sondern eine Reihe von Tatsachen, ein Bericht von dem, was Jesus getan und gelehrt, die seligmachende Botschaft von der für uns vollbrachten Erlösung.

Wir haben nicht vier, sondern nur ein Evangelium. Es heiße nicht: Das Evangelium des Matthäus, Markus, Lukas oder Johannes, sondern das Evangelium nach Matthäus, nach Markus, nach Lukas und nach Johannes.

Die vier Evangelisten erzählen uns nur eine Geschichte, aber nicht alle alle, und nicht jeder dieselben Geschichten. Sie schrieben, was sie gesehen und gehört hatten und was ihnen von oben her offenbart worden war. Sie schrieben als heilige Menschen Gottes, getrieben von dem Heiligen Geist, der sie vor allem Irrtum bewahrte, aber sie liessen sich auch (denn sie waren nichts weniger als bloße Schreibautomaten) leiten von äußeren oder inneren Motiven, dies so und jenes so zu berichten, jenen Zug ganz auszulassen und einen anderen neu hinzuzufügen.

Sie schrieben nicht etwa gemäß einer Verabredung, und doch ergänzen sie sich oft aufs glücklichste. Hätten sie als bloß menschliche Schriftsteller geschrieben, der unerschöpfliche Reichtum des Darzustellenden hätte sie in tausend Verlegenheiten gebracht, es wäre eine unaufhörliche Qual der Auswahl gewesen. Johannes, der vielleicht als Letzter schrieb und die Aufgabe hatte, bewußt oder unbewußt einige Ergänzungen zu den synoptischen Evangelien zu machen, läßt uns in seinem letzten Vers, als er eben die Feder aus der Hand legen will, etwas davon ahnen (Joh. 21,25). Obwohl sie unabhängig voneinander schrieben, jeder in seiner Weise, allein abhängig vom Heiligen Geist, so sind sie doch frei von Widersprüchen, und jeder bringt wertvolle Bereicherungen zum Gesamtbilde.

Bengel, ein Theologe von Gottes Gnaden, sagt: „Wenn einer eine Stadt auf der Seite von Morgen und ein anderer von Abend her abmalt, so müssen zwar alle beide die höchsten und vornehmsten Türme und Gebäude vorstellen, im übrigen aber können und müssen beiderlei Risse sehr weit voneinander unterschieden sein, nachdem der eine diesen, der andere wiederum einen anderen Teil vor Augen legt. Und dennoch haben es beide getroffen.“

Irenäus, gest. 202, einer der Kirchenväter, sagte etwa: So wie es vier Himmelsgegenden gibt in der Welt, worin wir uns befinden, und vier Hauptwinde, so gibt es vier Säulen der Kirche, welche über die ganze Erde sich verbreitet, die vier Evangelien, in welche die eine Säule und Stütze der Kirche, das Evangelium und der Geist des Lebens sich verzweigt, und als vier Lebensgeister oder Winde verbreiten sie von allen Seiten unvergängliches Leben und beleben wieder die Menschen. Ihre Vorbilder waren die Cherubim (Hes. 1) vierfacher Gestalt.

Hieronymus, gest. 420, der die Bibel in das Lateinische übertrug, die sog. Vulgata, war der erste, der diese Symbole in folgender Ordnung, die seitdem auch in der christlichen Kunst zu einer feststehenden geworden ist, auf die vier Evangelisten bezog. Der trunken und träumerisch im Licht sich wiegende Adler ist Attribut des Johannes, der dem Lichte entgegenfliegt und alle Dinge der Welt im Lichte des Geistes schaut, der Adler der Betrachtung, der beschaulich hoch über den Höhen der Erde schwebt. Johannes hat, wie Lange sagt, das Evangelium der ewigen Idealität der Geschichte Gottes geschrieben, die Verklärung oder historische Vollendung aller Ideen und Idealität im Lichte Christi.

Markus schreibt vorzugsweise das Evangelium der unmittelbaren urtatkräftigen Erscheinung und Wirkung Christi, die Verklärung aller ursprünglichen Gottestaten. Charakteristisch ist ihm der häufige Gebrauch des Wörtchens „alsbald“; mit einer Ausnahme beginnt jedes Kapitel, ja, jeder Abschnitt mit „und“, in dem nicht zu langen fünften Kapitel z.B. heißt es 94 mal „und“; es ist, als fände Markus nicht Zeit, einen Punkt zu machen bei der Schilderung der schnell fortschreitenden Handlungen Jesu, des Löwen aus dem Stamm Juda. Ihm ist darum der alles überwindende, herrschende, königlich-freie Löwe zugeeignet.

Das Sinnbild der stillen, geduldigen Arbeit, des leidenden Wesens, das das ganze Weh der Welt bis auf den Grund durchkostet, das zur Hingebung an sein Geschick geschaffen ist, das unschuldig duldende und verblutende Opfertier, das Kalb oder Rind, der Farren oder Stier, weist auf Lukas hin.

Das Menschenbild endlich, das Bild Gottes nach seiner Bestimmung, ist Symbol des Matthäus.

Aber wäre es nicht richtiger, diese beiden letzten Symbole zu vertauschen? Entspricht nicht die Menschengestalt, dieses geistige Lebensgebild, welches alle jene Vorstufen und Bilder alles Lebendigen in einer höheren Einheit reproduziert (Off. 4,7) vielmehr dem dritten, und das Bild des Opferstiers, entspricht es nicht mit ebensoviel Recht dem ersten Evangelium? Es war wohl Lange, der zuerst darauf hinwies, indem er sagte: „Das erste Evangelium ist nämlich vorzugsweise das Evangelium der Geschichte, der Erfüllung des Alten Testamentes durch das tragisch-priesterliche Opferleiden des Christus und seine versöhnende Wirkung, das Evangelium also mit dem Zeichen des Opferfarren.

Das dritte Evangelium ist vorzugsweise das Evangelium der menschlichen Milde im Lichte der göttlichen Gnade, der Verklärung der menschlichen Humanität zur göttlichen, Symbol das Menschenbild.“

Nach der gewöhnlichen Auffassung indessen erhielt Matthäus als Attribut einen geflügelten Menschen, weil er sein Evangelium mit der menschlichen Geburt Christi anfängt, Markus einen geflügelten Löwen, weil er mit Johannes in der Wüste anfängt, Lukas einen geflügelten Stier, weil er mit dem Priester Johannes beginnt, Johannes einen Adler, weil aus ihm der göttliche Geist am mächtigsten spricht.

Auf den ältesten christlichen Bildwerken werden sie mit den vier Flüssen des Paradieses verglichen und als vier Flüsse dargestellt, die aus einem Felsen fließen. Unter dem Felsen aber wurde der Fels verstanden, den Moses schlug, um das dürstende Volk zu erquicken, als Vorbild des Heilandes, der die Quellen des ewigen Wortes aufgetan hat.

Matthäus beschreibt uns Christus als den Messias der Juden, er beginnt mit Abraham. Markus schildert ihn für die Römer als den tätigen Arbeiter, er beginnt mit Maleachi. Lukas zeichnet ihn als Menschen für die Bekehrten aus den Heiden, er beginnt mit Johannes dem Täufer. Der vierte Evangelist beschreibt Christus als den persönlichen Heiland, er beginnt mit Gott selber. Alle vier Evangelien münden dann in das Strombett der Apostelgeschichte, dem Evangelium des Heiligen Geistes.

Die in diesen fünf historischen Büchern des Neuen Testaments geschriebene Geschichte ist das Zentrum der allgemeinen Geschichte. Zuerst sehen wir das Himmelreich in der Person Christi, dann die Person Christi in dem Himmelreich. In dem vierfachen, einen, allseitigen Evangelium vom Reich Gottes (Mk. 1,14.15) haben wir die Geschichte der Offenbarung und Grundlegung des Himmelreiches in der Person und dem Erlösungswerk Jesu. Es endet das alte Zeitalter, indem das Prinzip des neuen erscheint. In den Evangelien sehen wir gleichsam das Herabkommen des himmlischen Jerusalem über die heilige Stadt, in der Apostelgeschichte dann die Verbreitung des Himmelreichs von Jerusalem bis Rom, wo Paulus predigte das Reich Gottes unverboten (Apg. 28,31).

Das erste ist das Redeevangelium, das zweite das kurze (und vielleicht älteste), das dritte das Gleichnis- und das vierte das Geistesevangelium. Das Hauptwort des Matthäus ist „Himmelreich“, das des Markus „Dienst“, das des Lukas „Menschensohn“ und das des Johannes „Sohn Gottes“.

Auffallend ist die Ähnlichkeit der drei ersten Evangelien, die darum auch Synoptiker d.h. Zusammenschauende, genannt werden. Diese Ähnlichkeit betrifft nicht nur die berichteten Tatsachen, sondern sogar den Wortlaut und die Übergänge. Daß trotzdem manche Abweichungen vorhanden sind, die sich nur schwer ausgleichen lassen, hat darin seinen Grund, daß die Evangelisten nicht in genauer Zeitfolge berichten, oder daß dem einen oft Einzelheiten wichtig erschienen, die der andere übergeht, ferner auch in der schon den Alten bekannten Tatsache, daß ähnliche Begebenheiten oder Reden Jesu sich auch öfter unter verschiedenen Umständen und in verschiedenen Zusammenhang ereignet haben können.

Die Synoptiker geben uns eine zusammenhängende Schilderung von der Wirksamkeit Jesu in Galiläa. Hier war die volkstümliche Spruch- und Gleichnisrede mehr am Platze, in der Jesus durch Tat und Wort das Evangelium vom Königreich Gottes predigte.

Das einzigartige vierte Evangelium dagegen schildert mehr Jesu Wirken in Judäa und Jerusalem, wie es der galiläischen Zeit teils voranging, teils derselben aus Anlaß der jeweiligen Festbesuche sich einfügte. Hier, wo Jesus die feindseligen Volksobersten und die erregbaren Bewohner der Hauptstadt als Zuhörer hatte, mußte die Botschaft vom Königreich zurücktreten, mußte die Lehr- und Streitrede im Vordergrund stehen, die über seine Person, über sein Verhältnis zum Vater, zu seiner Gemeinde, zur Welt tiefere Aufschlüsse gab. Wenn auch die Synoptiker einen mehrmaligen Aufenthalt Jesu in Jerusalem während seiner dreijährigen Wirksamkeit nicht erwähnen, so setzen sie ihn doch voraus oder lassen dafür deutlich erkennbare Lücken; vergleiche Mat. 23,37; Luk. 13,34; 10,38

Lehrreich ist die Betrachtung der Schlußworte der Evangelien. Matthäus schließt mit der Auferstehung, Markus mit der Himmelfahrt, Lukas mit der Verheißung des Geistes, Johannes mit der Mitteilung des Geistes und der Verheißung des Wiederkommens. „Ja, ich komme bald!“ ist das letzte Wort Jesu an die Menschen (Off. 22,20)

Die Apostelgeschichte beginnt mit der Erklärung, daß das Evangelium nur die Rede ist von dem, was Jesus anfing zu tun und zu lehren. Noch immer fährt er fort, durch seine geisterfüllten Jünger zu tun und durch sein geisterfülltes Wort zu lehren, wie es die Apostelgeschichte anfing zu berichten. So wird es bleiben „unverboten“ (Apg. 28,31), und der auf dem höchsten Thron Sitzende erklärt alles Weltgeschehen durch seine Offenbarung: „Siehe, ich mache alles neu“ (Off. 21,5). Man beachte und vergleiche die letzten Verse der Evangelien und die letzten Worte Jesu: „Ich bin bei euch …“ „Der Herr wirkte mit ihnen ….“ „… segnete sie durch Mitteilung der Kraft aus der Höhe …“ und spricht als letzten Satz: „Folge mir nach!“

Quelle: Flügge, Carl August - Der Schriftforscher

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