Dieffenbach, Georg Christian - Vier große Worte des Herrn an sein Volk.
Predigt am Silvesterabend über Jes. 43, 1-3
von D. G. Chr. Dieffenbach, Geh. Kirchenrat und Oberpfarrer in Schlitz.
Georg Christian Dieffenbach (* 4. Dezember 1822 in Schlitz (Vogelsbergkreis), Oberhessen; † 10. Mai 1901 ebenda) war ein deutscher evangelisch-lutherischer Pfarrer und Dichter.
Der letzte Abend des scheidenden Jahres hat uns noch einmal im Hause des Herrn versammelt. Wir wollen im Namen des Herrn und mit seinem Wort das Jahr beschließen, wie wir dasselbe angefangen haben und morgen das neue Jahr beginnen wollen.
Die verlesenen Worte aus dem Propheten Jesaias sollen unsren Gedanken die rechte Richtung geben. Es ist der Herr, der ewige Gott selbst, der durch den Propheten zu uns redet; darum lasst uns auf solche Worte wohl merken.
Vier große Worte sind es, die der Herr durch den Propheten Jesaia uns heute zuruft, - reich an Trost und Mahnung sind dieselben. Diese vier Worte sind zwar zunächst an das alttestamentliche Gottesvolk gerichtet; sie gelten aber auch heute noch, auch uns, dem neutestamentlichen Gottesvolke. Wohl dem, der darauf achtet!
Vier große Worte des Herrn an sein Volk.
I. Fürchte dich nicht! (V. 1.)
II. Du bist mein! (V. 1.)
III. Ich bin der Herr, dein Gott. (V. 3.)
IV. Ich bin dein Heiland. (V. 3.)
Meine Freunde, diese vier Worte sind so groß und klar, dass sie kaum der Auslegung bedürfen, doch wollen wir dieselben etwas näher erwägen und insbesondere bedenken, was uns dieselben am letzten Abend des scheidenden Jahres sagen. Zu solcher andächtigen Betrachtung verleihe der Herr uns seines Heiligen Geistes Hilfe und seinen Segen!
1.
1. Zur Furcht haben wir oft Ursache auf Erden unter den mancherlei Anfechtungen, Leiden und Stürmen dieses Lebens. Wie viel Elend trifft uns auf Erden, wie viel Leid hat auch im vergangenen Jahre viele unter uns heimgesucht. Wie köstlich und trostvoll ist da des Herrn Wort: Fürchte dich nicht!
Was uns am meisten mit heiliger Furcht erfüllen muss beim Rückblick auf das vergangene Jahr, das ist der Gedanke an unsere mannigfache Sünde. Wer kann bestehen vor dem Herrn, wenn er mit uns rechnen will? Wer muss nicht im Angedenken an das vergangene Jahr sich niederbeugen und mit dem Zöllner an seine Brust schlagen und sprechen: „Gott sei mir Sünder gnädig?“ Wie viele Tage, wie viele Stunden des vergangenen Jahres können gegen uns auftreten als Kläger vor Gott, dem ewigen Richter! Wie manches haben wir getan, das wir hätten lassen sollen, wie manches auch unterlassen, das wir hätten tun sollen! Mit guten Vorsätzen haben wir ohne Zweifel das Jahr angetreten, und ach, wie viele sind unerfüllt geblieben! Wenn Gott mit uns rechnen wollte, wer könnte bestehen? Ja wahrlich, wir haben alle Ursache, uns vor dem heiligen und gerechten Gott zu fürchten. Aber er ruft uns tröstend und beruhigend zu: „Fürchte dich nicht!“ und begründet solch trostreichen Zuruf, indem er hinzufügt: „Denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“ O, welche Fülle des Trostes gießt dies Wort in betrübte Herzen! Insbesondere dürfen wir bei dem Gedanken an unsere Sünden nicht zittern, denn erlöst hat uns der Herr und uns bei unserem Namen gerufen, zu seiner Gemeinde hinzugezählt. So nimmt er uns zu Gnaden an, um Jesu Christi willen!
2. Fürchte dich nicht! Das Wort erfülle uns mit Trost bei dem Gedanken an das vergangene Jahr mit seinen Leiden und mit seinen Sünden; das Wort erquicke und tröste uns auch, wenn wir vorwärts schauen in das neu anhebende Jahr. Was wird dasselbe uns bringen? Noch liegt es dunkel und verhüllt vor uns, aber das wissen wir, dass es an mancherlei Leid und Not nicht fehlen wird. Krankheit wird in manchem Hause einkehren; Armut und Not wird in manchem ihren Einzug halten. Der Tod wird in manchen freundlichen Kreis schmerzliche Lücken reißen. Aber das große Wort des Herrn: „Fürchte dich nicht!“ gilt ja noch, es gilt auch für das neue Jahr, das wir morgen beginnen. Ist aber Gott mit uns, wer mag wider uns sein? Redet er selbst uns so freundlich und tröstend zu, was kann Welt und Hölle uns da schaden? Auch an mancherlei Sünden wird es nicht fehlen, ob wir schon davor uns zu hüten entschlossen sind; auch bei dem Gedanken tröste uns des Herrn freundliche Mahnung: Fürchte dich nicht! Gottes Gnade wird uns tragen. Seine Erlösung ist ja eine ewige Erlösung; er hat uns ja bei unseren Namen gerufen. Gewiss, der kennt den heiligen Gott nicht, der es mit den Sünden leicht nehmen wollte, aber den Trost der Erlösung und Vergebung dürfen wir festhalten und ohne diesen Trost müssten wir verzagen. Unter dem Schuh des Allmächtigen, im Lichte seiner Liebe und Gnade beschließen wir das alte Jahr und treten ein in das neue! Wir fürchten uns nicht, denn er selbst sagt es uns: Fürchte dich nicht!
II.
„Du bist mein!“ so lautet das zweite große Wort des Herrn.
1. „Du bist mein!“ Empfindet ihr die ganze Macht dieses Wortes? Welch große Macht hat doch das Wörtlein Dein und Mein! Mein Weib, mein Mann, mein Kind! Welche Macht der Liebe liegt in dem Worte! Damit ergreifen wir gleichsam unser Lieben als unser Eigentum. Ich bin dein, damit geben wir uns in Liebe hin zu treuer Gemeinschaft. Wenn das Wörtlein Mein schon unter Menschen große Kraft hat, wie viel mächtiger ist es doch, wenn der allmächtige Gott zu uns sagt: Du bist mein! Er hat uns in Christo zu seinem Eigentum erwählt und uns sich selbst in Liebe gegeben. Wenn er uns für sein Eigentum erklärt mit den Worten: Du bist mein!, dann kann nichts in der Welt uns schaden. Darum wollen wir Gott Lob und Dank sagen, denn er hat die Wahrheit dieses großen Wortes reichlich erwiesen auch im vergangenen Jahre dafür sei ihm Lob und Dank dargebracht von Herzensgrunde.
2. Du bist mein! Dies Wort gilt auch für das kommende Jahr und dient uns zum reichsten Troste. Der Herr kann sein Eigentum nicht vergessen noch verlassen. Sind wir des Herrn, so sind wir wohl geborgen. Er ist unsere feste Burg, unser sicherer Hort. Er trägt uns in seinen Händen. Wie groß und herrlich ist die Verheißung, die er hinzufügt: „Denn so du durchs Wasser gehst, will ich mit dir sein, dass dich die Ströme nicht sollen ersäufen, und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen und die Flamme soll dich nicht anrühren.“ (V. 2.) Du bist mein! Damit zieht der Herr uns an sein Herz und umfasst uns mit Armen der Liebe. Damit nimmt er uns in seinen allmächtigen Schutz! O, sei du aber auch recht sein eigen! Sagt Gott zu dir: Du bist mein! so sage du in fröhlichem Glauben: Und du bist mein, mein Gott und Herr, mein höchstes Gut, mein treuster Freund! Und willst du wirklich ganz sein eigen sein, so stelle auch dein Leben und alle deine Sinne und Gedanken, und alles, was du bist und was du hast in seinen Dienst. Dieser Bund ewiger Liebe gelte auch im neuen Jahre, wie er im alten gegolten hat!
III.
„Ich bin der Herr, dein Gott“, so lautet das dritte der vier großen Worte.
1. Der Herr und unser Gott! Das hat er bewiesen im vergangenen Jahre. Es war kein leichtes Jahr. Mancherlei Not und Trübsal ist über uns gekommen, - Sorge, Krankheit, Trauer, Todesleid, wer zählt all die Heimsuchungen auf, die diesen und jenen betroffen haben! Aber der Herr war mit uns. Als der Herr, der Macht hat, zu helfen, hat er sich offenbart und ein treuer Gott war er uns, der sich gnädig zu uns neigte voll Erbarmen. Er ist der Herr: allmächtig und herrlich.
Er ist auch unser Gott, barmherzig und gnädig. Das haben wir reichlich erfahren im vergangenen Jahre. Darum muss heute unser Herz voll Lob und Dank sein.
2. „Ich bin der Herr, dein Gott!“ Das gilt auch für das morgen anhebende neue Jahr, und das sei unser Trost und erfülle uns mit fröhlichem Mute. Ist er der Herr, so sind wir in gutem Schutz und kein Leid kann uns anrühren, das er nicht schickt oder zulässt.
Im Vertrauen auf seine Allmacht und Gnade, im Ausschauen zu ihm wollen wir eintreten in das neue Jahr und es wird ein Jahr des Heils für uns sein. In die treuen Allmachtshände des Herrn wollen wir uns und unser Leben befehlen, er kann alles wohl machen, denn er ist der Herr, und er wird alles gnädig führen und leiten, denn er ist unser Gott. In dem Worte: „Ich bin der Herr, dein Gott!“ liegt aber auch ernste Mahnung für uns. Ist er der Herr: so sollen wir ihm auch Gehorsam leisten und in seinen Wegen und nach seinen Worten wandeln. Ist er unser Gott, so sollen wir ihm auch vertrauen und all unser Hoffen auf ihn setzen. Unter dem mächtigen Segen dieses Wortes: Ich bin der Herr, dein Gott! lasst uns dies alte Jahr beschließen und das neue morgen getrost beginnen!
IV.
Noch ein Wort des Herrn an uns durch den Propheten Jesaias: „Ich bin der Heilige in Israel, dein Heiland.“
1. Ja, als unser Heiland hat er sich je und je erwiesen, auch im vergangenen Jahre. Als Heiland hat er sich insbesondere offenbart in der Sendung seines Sohnes zur Erlösung der Welt. Und solche Gnade hat er je und je mitgeteilt durch Wort und Sakrament. Daran hat er es auch im verflossenen Jahre nicht fehlen lassen. Dein Heiland, sagt er, nicht nur: ein Heiland, oder der Heiland. Jeder einzelne unter uns soll es wissen, dass dies verheißungs- und trostreiche Wort auch ihm gilt. Auch dein Heiland und mein Heiland ist er. Fort und fort tut er uns seine Heilandsliebe und Heilandstreue kund. Schon durch die heilige Taufe nimmt er uns auf und schließt uns in seine Liebe ein. In seinem Worte redet er zu uns freundlich und tröstend. Im heiligen Abendmahle neigt er sich zu uns herab und gibt sich uns liebend zu eigen. So hat er im vergangenen Jahre getan nach seiner Freundlichkeit und Gnade, obschon wir gar manchmal seine Heilandsliebe nicht recht erkannt und nicht angenommen haben. Für seine Gnade lasst uns an diesem letzten Abend des scheidenden Jahres ihm Lob- und Dankopfer darbringen. Die ganze Herrlichkeit seiner Heilandstreue werden wir erst in der Ewigkeit erkennen, wenn alle Jahre unsres Lebens in der Welt dahingerauscht sind, wie dies Jahr. Dann werden wir auch erst recht ihm danken und ihn preisen ewiglich!
2. „Ich bin der Heilige in Israel, dein Heiland“, das Wort gilt auch für das neue Jahr. Unser Heiland will er sein; an seiner Liebe, an seinem treuen Willen fehlt es nicht; wir aber sollen nur seine Gnade im Glauben annehmen, solange die Gnadenfrist währt. Der Heiland zwingt uns seine Gnade nicht auf, er bietet sie uns nur an, so im alten, wie im neuen Jahre. Er sendet uns fort und fort seinen Heiligen Geist, der unsere Herzen bereiten und willig machen soll, ihn, den Heiland, zu empfangen. Aber viele widerstreben solchem Wirken und verschließen ihre Herzen vor dem Herrn, der freundlich bei uns anklopft. Meine Freunde, lasst es bei uns nicht also sein! Vielmehr wollen wir auf des Heiligen Geistes Wirken achten und dem Heiland willig die Türe unsrer Herzen austun. Wer ihn einmal als Heiland erkannt hat, der will ihn dann nimmer wieder lassen. Jetzt ist er noch unser Heiland und kommt noch voll Gnade und Erbarmen. Einst kommt er gar viel anders als der Richter der Welt. Lasst uns die Gnadenfrist nützen; niemand weiß, wie lange sie noch dauern wird. Dies Jahr geht in wenig Stunden zu Ende. Wie viele Jahre sind uns schon entschwunden! Immer schneller und schneller eilen die Wellen des Stromes der Zeit dahin, immer kürzer erscheinen uns die Jahre, je älter wir werden. Es kann ja dies zu Ende eilende Jahr die letzte Gnadenfrist sein! Gar mancher unter uns wird sicher das Ende des morgen beginnenden Jahres nicht mehr erleben. Darum gilt es, die kurze Frist zu benützen. Wer das treulich tut, der kann mit Ruhe an die Flucht der Zeit denken. Wer allezeit des letzten Rufes gewärtig ist, der erschreckt nicht, wenn das letzte Jahr, die letzte Stunde kommt. Wie dies Jahr heute zu Ende geht, so wohl bald dein Leben. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, wollen wir darum beten!
Gewiss, meine Freunde, sind es vier gute Worte, die uns der Herr, unser Gott, durch den Propheten zuruft. Nehmt dieselben zu näherer Erwägung im Herzen mit nach Hause: Fürchte dich nicht!
Du bist mein! Ich bin der Herr,
Ich bin dein Gott! dein Heiland! Amen.