Binde, Fritz - Wie enthüllt sich das Geheimnis der Person Jesu?
Um die Beantwortung dieser Frage einzuleiten, weise ich auf einen Vorgang im Leben Jesu hin, der im Evangelium nach Matthäus Kapitel 16 von Vers 13 an berichtet wird. Es heißt da:
„Als aber Jesus in die Gegenden von Cäsarea Philippi gekommen war, fragte er seine Jünger und sprach: Was sagen die Menschen, daß ich, der Sohn des Menschen, sei? Sie aber sagten: Etliche, Johannes, der Täufer; andere aber: Elias; und andere wieder: Jeremias oder einer der Propheten. Er spricht zu ihnen: Ihr aber, wer sagt ihr, daß ich sei? Simon Petrus aber antwortete und sprach: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Glückselig bist du, Simon, Bar Jona; denn Fleisch und Blut haben es dir nicht geoffenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist. “
Wir leben in einer Zeit des erneuten Fragens nach Jesus. Vor bald vierzig Jahren warf David Friedrich Strauß, der unbedachte Bibelkritiker, die Frage auf: Sind wir noch Christen? Heute lautet die Frage: Sind wir schon Christen? Und die Beantwortung dieser Frage: fällt zusammen mit der Beantwortung der Frage: Wer ist Jesus? oder: Wie enthüllt sich uns das Geheimnis der Person Jesu?
Denn die Person Jesu ist in ein Geheimnis gehüllt, das verborgen bleibt vor ungeöffneten Augen. So war es zu seinen Lebzeiten, und so ist es heute noch. Deshalb das nie endende Interesse an seiner Person. Man wird nicht mit ihm fertig, weil er aus allen Kategorien fällt. Seine Einzigartigkeit überragt alle Maßstäbe. Wieviel menschliche Ellenlängen sind doch schon an seiner Größe zuschanden geworden!
Schon damals! Er lehrte vor ihnen auf der Straße, und sie sahen ihn und sahen doch nichts. Sie hörten ihn und hörten doch nichts. Sie sahen und hörten nur ein Geheimnis, das verborgen blieb vor ihren Augen und Ohren. Wie reizte sie doch dies Geheimnis! „Bis wann hältst du unsere Seele hin?“ (Joh. 10,24) murrten sie. Und seine Antwort war nur ein neues Geheimnis. Und nun seht, wie sie ihn zu ermessen suchen! Sie raten. Etliche sagen: „Er ist der wiedererstandene Johannes, der Täufer. “ Auch Herodes, der freche, feige Fuchs, dachte so. Etliche sagen: „Er ist der wiedergekommene Elias; wird er nicht Feuer vom Himmel herabwerfen, wird er nicht die ausrotten, die der Witwen Häuser verzehren?“ Andere sagen: „Nein, er ist der wiedererschienene Jeremias; er muß dem Volke neues Gericht ankündigen. “ Und viele andere sagen: „Er ist der Propheten einer. “ – So machten sie ihn zu nichts weiter als zu einem wieder lebendig gewordenen großen Toten. Das war vorerst der einzige Maßstab, den die Masse des in toten Religionsformen versunkenen Judenvolkes zur Hand hatte. Dann aber, des langen Fragens und Ratens müde, reizte sie das Geheimnis seiner Person zur wilden Wut. „Er wiegelt das Volk auf! Er hat einen Teufel! Er hat Gott gelästert! Hinweg mit diesem! Kreuzige ihn!“ Meinung hin – Meinung her: Schafft den Sonderling aus der Welt, so seid ihr die Qual des Fragens los! – So erledigten sie denn die Außerordentlichkeit und darum Unerträglichkeit seiner Erscheinung, indem sie solchen ärgerlichen Übeltäter ans Kreuz nagelten. – Und als es zum Kreuze hinaufging, da wußten auch die Seinen nicht mehr, wer er war – und ärgerten sich alle an ihm.
Verborgen – verborgen – verborgen!
Wie es Johannes sagt: „Er war in der Welt, und die Welt ward durch ihn, und die Welt kannte ihn nicht“, sondern schlug ihn ans Kreuz, stand vor ihm und schüttelte geärgert den Kopf über ihn.
Das ist das tiefste Gericht und der ärmlichste Bankrott für alle menschliche Weisheit und Gerechtigkeit und die beschämendste Enthüllung ihrer Gottentfremdung.
Und so ist es heute noch. Die Person Jesu ist auch heute noch in ein Geheimnis gehüllt, trotzdem man so viel von ihm gehört und weiß und sein Werk nun schon seit bald zweitausend Jahren offenbart ist. Auch heute noch geht das alte Gerede um: Etliche sagen: Er ist der. Etliche sagen: Er ist jener. Die Welt ist voller Meinungen über Jesus, und die Leute glauben, wenn sie eine Meinung über Jesus hätten, hätten sie gerade genug von ihm. Sie fühlen und wissen wohl, man kommt nicht an ihm vorbei, etwas muß man über ihn denken, denn tatsächlich kann vor Jesus niemand parteilos bleiben. So erledigt man denn auch heute noch das Geheimnis seiner Person mit einer gelehrten oder ungelehrten Meinung über ihn. Man studiert Jesus. Man studiert ihn zeitgeschichtlich. Man studiert ihn theologisch, philologisch. Und dann bringt man solche Weisheit in ein Buch und betitelt es: „Das Leben Jesu“, „Das Selbstbewußtsein Jesu“, „Jesus von Nazareth, wie wir ihn heute sehen“, „Jesus von Nazareth, Untersuchung seines Lebens nach der neuesten psychologischen Methode“, und dergleichen mehr. – Würde Jesus die Seinen heute fragen: „Wer sagen die Leute, daß ich sei?“, so müßte man ebenso wie damals antworten: „Etliche sagen, etliche sagen, etliche sagen. “
Aber was ist mit alledem gesagt? Nichts anderes als das: „Verborgen, verborgen, verborgen!“
Denn es bleibt bei dem, was Jesus dem Petrus zur Antwort gab: „Fleisch und Blut haben es dir nicht offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist. “ Das will heißen: „Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen. “ Und wer das Reich Gottes nicht sehen kann, der kann auch den Sohn Gottes nicht sehen. Denn der Sohn Gottes und sein Reich werden nicht erstudiert und dann gewußt, sondern werden geoffenbart und dann geglaubt. Fleisch und Blut, d. h. der natürliche, unwiedergeborene Mensch ist aussichtslos unfähig, das Geheimnis der Person Jesu zu enthüllen. Alle seine Enthüllungsversuche sind gescheitert, werden scheitern und müssen scheitern. Das Kreuz und der gekreuzigte Gottessohn bleiben dem natürlichen Menschen eine Torheit und ein Ärgernis. Und weil das Geheimnis der Person Jesu sich deckt mit dem Geheimnis des Kreuzes, so gilt allen Weisen dieser Welt, denen das Wort vom Kreuz eine Torheit ist: Verborgen, verborgen, verborgen!
Der Vater im Himmel vermag solchen menschlich Weisen und Verständigen nichts zu offenbaren, denn sie dünken sich zu klug für die Einfalt des Glaubens. Also bleibt es diesen Hoffärtigen verborgen. Ja. Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir! Matth. 11,25.
Laßt uns nun einmal zusehen, was der menschliche Verstand nicht alles ersonnen hat, um das Geheimnis der Person Jesu zu enthüllen. Und wenn ich jetzt in großen Zügen die verschiedenen Versuche, die Person Jesu menschlich zu erklären, vorführe, so gib, bitte, acht, wenn die Meinung zur Sprache kommt, die du dir über Jesus gemacht und heute mit hierher gebracht hast. Möchtest du doch kuriert werden von aller Meinungsmacherei über Jesus.
So viel will ich gleich sagen, alle Meinungen über Jesus lassen sich in zwei Klassen zusammenfassen. Entweder sagt man: „Das, was über seine Person berichtet wird, hat keinen Anspruch auf Wirklichkeit“, oder zweitens: „Das Wirkliche seiner Person hat keinen Anspruch auf Göttlichkeit“; auf Göttlichkeit natürlich in dem Sinne, wie es Gottes Wort sagt.
So ist denn die billigste Art, mit dem Geheimnis der Person Jesu fertig zu werden, die, daß man sagt: Er hat gar nicht gelebt. Er ist keine Person, sondern nur eine Personifikation. Wie meint man das? Nun, ungefähr so. Die Menschheit hat allezeit Ideale gehabt und kann ohne Ideale nicht leben. Das geben selbst die Materialisten zu. So muß also, wie sie sagen, der Mensch träumen vom Guten, Wahren und Schönen, von Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. So mußte er auch träumen von dem guten, dem wahren, dem schönen Menschen, in dem sich Gott selbst und jede Freiheit und Unsterblichkeit verkörpert. Leider aber hat es nie einen solchen Menschen gegeben. Und doch verlangt das Herz nach einem solchen Menschen, weil es nicht nur von Träumen, sondern von Wirklichkeit leben will. So mußte man sich also einen solchen Menschen erfinden, damit man ihn vor Augen und zu Händen habe als unverlierbares ideales Vorbild, als Inbegriff höchster Menschlichkeit. So erfand man Jesus. Was sagst du dazu? Jesus, eine unverbindliche Träumerei, ein ergötzliches Gedankenspiel, eine revidierte und gekürzte und, wie manche meinen, bedeutend verschlechterte Wiederholung alter Götter-Vorstellungen. Genügt dir das? Nein, es kann dir nicht genügen, denn die nächste Frage wäre doch: Wie kommt der Mensch zu solchen Träumen und zu einem so hohen Traumbilde? Mit Recht hat man gesagt, „die Erfinder der Jesusfigur wären größer als ihre Erfindung“. Und in der Tat, die Worte, Aussprüche, den Wandel und die Hoheit Jesu zu erfinden, hieße selber mehr als Jesus sein. Auch hat man es bisher nirgends in der Menschheitsgeschichte erlebt, daß große Geistesbewegungen auf eine Träumerei zurückgeführt werden konnten, sondern jede große geschichtliche Bewegung hat ihre Träger von Fleisch und Blut und trat zuerst in Erscheinung durch einen Menschen aus Fleisch und Blut. Die Wirkungen des Geistes Christi auf eine Träumerei einer Zeitepoche zurückführen wollen, hieße deshalb alle Geschichtlichkeit und jede Möglichkeit, Geschichte zu treiben, auf den Kopf stellen und auflösen. Wie sollten von einer Traumfigur solche Ströme wahrhaftigen Lebens entsendet werden können! – Es sollte deshalb das menschlich Verständlichste sein, nicht an der Geschichtlichkeit der Person Jesu zu zweifeln, wenngleich das Geheimnis seiner Person ein übergeschichtliches ist und wir wohl verstehen können, daß man es eben gerade deshalb auch als ein außergeschichtliches unter die Träumereien zählen möchte. Aber damit ist das Geheimnis der Person Jesu weder enthüllt noch erledigt.
Laßt uns nun einen zweiten Versuch, das Geheimnis der Person Jesu zu enthüllen, ins Auge fassen. Etliche nämlich sagen: „Er hat doch gelebt, aber er war ein Irrsinniger. “ Bitte, gib jetzt Obacht, wie jeder Versuch darin gipfelt, die Außerordentlichkeit der Erscheinung Jesu loszuwerden, indem man ihn erstens aus der Geschichte und nun zweitens aus der Bahn des gesunden Menschenverstandes hinauszurangieren sucht. Aber so meistert man sein Geheimnis nicht, sondern treibt Pfuscharbeit. Laßt mich auch darauf hinweisen, daß alle solche Pfuschversuche nicht eigentlich neu, sondern so alt als die Erscheinung Jesu sind. Schon damals sagten sie: „Er ist von Sinnen. Er hat einen Dämon!“ (Mark. 3,21; Joh. 7,20). Was Wunder, daß man auch heute, wo man ja in der Konstatierung des Pathologischen so viel Arbeit zu leisten hat, diese Arbeit auch in bezug auf die Enthüllung des Geheimnisses der Person Jesu leisten möchte. Die Außerordentlichkeit der Person Jesu widerspricht dem Sinn des Menschen und Menschlichen, mithin entspricht sie einem verirrten, einem irren Sinn. Ist das nicht sehr einfach? Wie? Allerdings! Denn anderenfalls müßte man eben den Satz umkehren und schließen: Der Sinn Jesu ist allein der gesunde und richtige Sinn, und aller Sinn der Menschheit ist ein Sinn des Irrens, ja tatsächlich Irrsinn gegenüber dem Sinn der Erscheinung Jesu Christi. Aber das wäre ja Bankrott und Verzweiflung aller menschlichen Eitelkeit und Herrlichkeit! Und das will man doch nicht! Mithin sagt man: Jesus war ein Irrsinniger. Aber, nicht wahr, du merkst, es reicht nicht aus, du merkst, es handelt sich um Unsinn.
Kommen wir deshalb zu einem dritten Versuch, das Geheimnis der Person Jesu zu enthüllen. Er lautet: „Jesus war ein Betrüger. “ Wer ist ein Betrüger? Nun, ein Mensch, der bewußt die Lüge als Wahrheit ausgibt, um andere zu schädigen und sich zu nützen. War Jesus ein solcher Mensch? Sehen wir einmal zu. Entsinne dich, daß selbst seine Feinde von ihm sagen: „Meister, wir wissen, daß du die Wahrheit lehrest“ (Matth. 22,16). Entsinne dich, daß die Pharisäer ihn als einen Volksverführer – und das heißt doch als einen Betrüger – verdächtigten und Diener aussandten, ihn zu greifen. Entsinne dich, daß die Diener mit leeren Händen zurückkamen und auf die Frage der Pharisäer: „Warum bringt ihr ihn nicht?“ antworten mußten: „Niemals hat ein Mensch so geredet, wie dieser Mensch redet. “ Da blieb den Pharisäern nur übrig auszurufen: „Seid auch ihr verführt – betrogen worden?“ Denn anderenfalls hätten sie bekennen müssen: „Niemals ist dieser Mensch ein Betrüger“ (Joh. 7,45-49). Entsinne dich, daß kein Mensch, der mit Jesus in Berührung kam, auch nicht die Pharisäer, die Tatsächlichkeit seiner Wunder und Heilungen bezweifelte (Joh. 11,48). Entsinne dich, daß Jesus den Geheilten in den allermeisten Fällen gebot, über ihre Heilung zu schweigen, und also weder Ehre noch Lohn beanspruchte. Sagte er doch ausdrücklich: „Ich nehme nicht Ehre von Menschen“ (Joh. 5,41). Seit wann leben und reden so die Betrüger? Entsinne dich ferner, wie Jesus starb. Ohne von seinem Kreuzgang überrascht worden zu sein, ohne Groll, ohne innere oder äußere Auflehnung gegen seine Peiniger, fürbittend für seine Feinde, fürsorgend für die Seinen vollbrachte er am Kreuze in aller Klarheit das Werk, das ihm der Vater aufgetragen hatte, daß er es tun sollte, und befahl seinen Geist in seines Vaters Hände. Seit wann sterben so die Betrüger? Und seit wann sagt man von den Betrügern, wenn man ihr Leben zusammenfassen will: „Er zog umher und tat wohl“? (Apg. 10,38). Und seit wann entquellen dem Leben der Betrüger Ströme der Wahrheit auf Jahrtausende hinaus? Jesus nur ein Betrüger? O, längst hätte man ihn abgeschüttelt! Längst hättest du ihn abgeschüttelt. Was solltest du jetzt hier sitzen und dich mit einem nun bald vor zweitausend Jahren verstorbenen Betrüger beschäftigen? Nicht wahr, du merkst, es reicht nicht aus, und die Jesus als Betrüger erledigen wollen, sind selbst Betrüger.
Aber nun laßt uns einen weiteren Versuch prüfen, das Geheimnis der Person Jesu zu enthüllen. Nämlich etliche sagen: „Er war ein vermessener Träumer. “ Beobachte, jetzt ist seine Person kein Traumbild mehr, doch soll sie jetzt darbieten das Bild eines Träumers. Kein Irrsinniger, aber ein Phantast, kein Betrüger, aber doch eigentlich ein unbewußter Betrüger, ein von sich selbst betrogener Betrüger! Wie meint man das? Nun, ungefähr so. Man sagt: Jesus von Nazareth entstammte dem geistig beweglichen, rebellischen Mischvolke der Galiläer. Er war wohl nicht eigentlich ein Jude, aber die Knechtschaft des Judenvolkes unter der Römer Herrschaft und Pharisäer Herrschaft ging auch Galiläer an und beschäftigte wohl frühe den Geist des jungen Nazareners. Aus den aramäisch überlieferten heiligen Schriften ersah er die verblaßte göttliche Geschichte Israels und sog den Zukunftstraum vom zukünftigen Messias ein, dem Befreier seines Volkes. So bildete sich sein Verhältnis zu Gott, den er schon frühe eigentümlicherweise seinen „Vater“ nannte. Hier liegen die Anfänge seiner Träumereien. So hört er von Johannes, dem Täufer, und eilt an den Jordan. Und Johannes sieht, welch ein Geist in dem dreißig-jährigen Galiläer arbeitet, und erblickt plötzlich in ihm den Retter des Volkes. Von der Stunde an folgen einige der Johannesjünger Jesus nach. Man fängt an, an Jesus zu glauben. Um so mehr glaubt auch er nun an sich selbst. Ungewöhnliche Kräfte entdeckt er in sich – es wächst ja der Mensch mit seinen höheren Zwecken –, es gelingen ihm Zeichen und Wunder. Die Menge seiner gläubigen Anhänger wächst. Auf eine gewagte harte Rede hin, die die Menge sichten sollte, verlassen ihn viele. Die anderen folgen ihm um so bedingungsloser nach. Mit diesen zieht er hinauf an die Grenzen des Landes in die Gegend von Cäsarea Philippi. Dort wagte er das Äußerste. Nachdem er sich erkundigt, was die Menschen über ihn sagen, fragt er die Seinen: „Wer sagt ihr, daß ich sei?“ Da antwortet Simon Petrus, der Sprecher der Zwölf: „Du bist der Christus – das heißt der Gesalbte, alttestamentlich der Messias – der Sohn des lebendigen Gottes. “ Nun war es ausgesprochen. Und Jesus nimmt diese Antwort als eine Offenbarung seines Vaters über ihn, indem er dem Simon antwortet: „Fleisch und Blut haben es dir nicht offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist. “ Fortan steht es ihm fest, er ist der verheißene Messias, der Christus, der Sohn Gottes. Als solcher macht er sich auf, nach Jerusalem zu ziehen, um sein erträumtes Königreich zu proklamieren. Der erbitterte Widerstand der Pharisäer belehrt ihn indes, daß sein erträumtes Reich nur aus seinem Tode erstehen kann. Er wird sterben müssen, aber der Vater wird ihn auferwecken. Dann muß der Zusammenbruch aller alten Herrschaft kommen und dann sein machtvoller Regierungsantritt und sein Reich. So gibt er sich in die Hände der Menschen und läßt sich ans Kreuz schlagen. Aber unter den Schmerzen am Kreuze zerreißt der Nebelschleier seiner Träumereien. Er muß ausrufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Ein verzweifelter Einblick in den Irrgang und Betrug seines Lebens und Strebens, ein zu später Schmerzensschrei über alles Ärgernis, das er angerichtet – so stirbt der vermessene Träumer am Kreuz. Alles andere, Auferstehung und dergleichen, ist nur eine unheilvolle Weiterspinnung seiner vermessenen Träumereien durch seine verblendeten Anhänger.
Nun, was sagst du hierzu? Ist dir nun das Geheimnis seiner Person enthüllt? Jesus, ein vermessener Träumer, du aber endlich ernüchtert, ihn endlich los geworden, endlich enthüllt, endlich entlarvt. Fertig! –
O nein, nimmermehr fertig! Du merkst es längst, es reicht nicht aus. Das Geheimnis blieb unenthüllt. Er kann nicht nur ein vermessener Träumer gewesen sein! Sieh doch nur hinein in die Klarheit und Bestimmtheit seines Lebensganges. Was Napoleon der Große über die Christen gesagt haben soll, nämlich, daß sie Leute seien, die sich keine Illusionen machen, gilt zuallererst dem Christus. Er hat sich nie nach der Art vermessener Träumer Illusionen hingegeben. Sein ganzes Leben ist eine einzigartige Ruhe, Sicherheit und Klarheit. Niemals Unentschiedenheit – auch in Gethsemane nicht –, niemals Überrumpelung durch Menschen und Verhältnisse. Niemals Treiberei und Eile. Immer ist er der Weisheitsvolle, der Klare, der Überlegene. Seit wann sind das die Eigenschaften eines vermessenen Träumers? Er weiß, was im Menschen ist. Er gibt sich nicht der geringsten Selbsttäuschung hin. Er sagt dem Judas, daß er ihn verraten, und dem Petrus, daß er ihn verleugnen werde, und den Jüngern, daß sie sich alle an ihm ärgern werden, und ebensowenig, als er sich über die Seinen täuscht, täuscht er sich über die Aufnahme, die er und die Seinen bei den Menschen haben werden. In einer tatsächlich übermenschlichen Nüchternheit ist er sich seiner Außerordentlichkeit und Fremdheit unter den Menschen vollkommen bewußt. Und doch stößt er die Menschen nicht ab, sondern zieht sie an. Er weiß auch, daß sie ihn für einen Träumer halten, sagen sie doch zu ihm: „Was machst du aus dir selbst?“ (Joh. 8,53). Aber er bleibt dabei: Der Vater ist es, der mich gesandt hat, der Vater ist es, der mich ehrt. Ich kenne den Vater. Ihr kennet den Vater nicht. Ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. Und er weiß, daß sie ihn töten werden. Seit wann haben die vermessenen Träumer eine solche Nüchternheit? In gleicher Weise kündigt er seinen Jüngern an, daß sie um seines Namens willen gehasst werden müssen von allen Menschen. Ja, daß man sie töten und damit meinen wird, Gott einen Gefallen zu erweisen. Trotz solcher verzweifelt traurigen Einsicht gibt er ihnen dennoch die bestimmteste Aussicht auf den Sieg des Evangeliums über die ganze Erde hin und stirbt mit dem Rufe: „Es ist vollbracht!“ Seit wann haben die vermessenen Träumer solche Kenntnis der Wirklichkeit und solche weittragende Voraussicht über den wirklichen Gang der Dinge? Wo ist hier Vermessenheit, wo Träumerei. Hat je einer mit der Wirklichkeit gerechnet, so ist er es gewesen, der Christus. Und doch hat er über alle Wirklichkeit hinaus gerechnet und wird es einst allen Menschen beweisen, daß er sich nicht verrechnet hat. Da aber der Menschen Ellenlängen nicht ausreichten, ihn zu ermessen, blieb ihnen eben nichts anderes übrig, als zu sagen: „Er hat sich vermessen, der vermessene Träumer!“ Aber die Vermessenheit und die eitlen Träume sind auf der anderen Seite.
Die nächsten Versuche, das Geheimnis der Person Jesu zu enthüllen, die uns jetzt beschäftigen sollen, möchte ich Spezialversuche nennen, weil sie mehr speziellen Richtungen angehören. Dahin gehört: „Jesus war der erste Sozialdemokrat. “ Auch ich sagte früher so. Ich wußte damals von der Bibel nicht viel mehr als den einen Satz: „Wer zwei Röcke hat, gebe dem einen, der keinen hat. “ Dieser Satz genügte mir, Jesus zu einem Sozialdemokraten zu machen. Gab es irgendwelche Schmähungen und Verfolgungen zu ertragen von seiten der bürgerlichen Gesellschaft, so blickte ich auf Jesus und sagte mir: „Du, der edelste und vielleicht erste aller Sozialdemokraten, hast ja noch viel mehr gelitten“; und das gab neuen revolutionären Mut. Freilich wurde ich später, als ich die Bibel kennenlernte, sehr beschämt. Da mußte ich einsehen, daß Jesus den Satz: „Wer zwei Röcke hat, gebe dem einen, der keinen hat“ gar nicht gesagt, sondern daß es ein Ausspruch Johannes des Täufers ist (Luk. 3,11). Ferner wurde ich durch die Evangelien davon überführt, daß Jesus trotz seines Wohltuns und seiner Aufforderungen zum Wohltun niemals die Verbesserung der materiellen Lage der Menschen als seinen Lebenszweck betrieben hat. Er betont viel mehr ausdrücklich: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh. 18,36). Wohl war Jesus ein Revolutionär. Ja, ich bin gewiß, er ist der größte Revolutionär, der je gelebt. Aber eben als solcher konnte er sich nicht genügen lassen an einer Revolutionierung der wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern will den ganzen Menschen revolutionieren und auf den Kopf stellen. Nicht seine Verhältnisse nur müssen anders werden, nein, der ganze Mensch muß neu werden. Das gipfelt in dem Ausspruch: „Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh. 3,3). Eine ganz neue, eine wiedergeborene Menschheit auf einer neuen, wiedergeborenen Erde unter einem neuen, wiedergeborenen Himmel, das ist das unüberbietbare, revolutionäre Ziel des größten aller Revolutionäre, der da spricht: „Siehe, ich mache alles neu“ (Offb. 21,5). Wie hoch geht das doch hinaus über die Lösung der Messer- und Gabelfrage gemäß dem sozialdemokratischen Parteiprogramm! Wenn einmal alle sozialistischen Versuche, das Himmelreich auf Erden einzurichten, an der Tatsache gescheitert sein werden, daß die Ursache der Ungerechtigkeit nicht die verkehrte Wirtschaftsweise, sondern die verkehrte Stellung des Menschen zu Gott, nämlich die Sünde ist, dann wird die Menschheit reif geworden sein für das Reich Jesu Christi. Dann aber wird nicht mehr gelten die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur des Königs aller Könige und zugleich größten Revolutionärs Jesus Christus, nämlich des Zerstörers des Reiches Satans.
Es kann nicht Friede werden.
Bis Jesu Liebe siegt.
Bis dieser Ball der Erden
Zu seinen Füßen liegt. –
Eine weitere spezielle Redensart ist: „Jesus war der erste Anarchist. “ Ich habe diese Redensart in anarchistischen Kreisen sehr oft mit Stolz und Freude pflegen hören. Hat nicht Jesus in bezug auf seinen Landesvater Herodes gesagt: „Saget dem Fuchs“? (Luk. 13,32). Ist das nicht die ausdrücklichste Mißachtung, ja Verachtung der Throngewalt? Hat er nicht ferner gesagt: „Wenn ihr solche in weichen Kleidern sehen wollt, geht an die Höfe“? (Matth. 11,8). Ist das nicht die bündigste Verurteilung des höfischen Treibens? Hat er nicht ferner gesagt: „Die Könige der Nationen herrschen über dieselben, und die Gewalt über sie üben, werden Wohltäter genannt. Ihr aber nicht also“? (Luk 22,25). Heißt das nicht jede Regierungsgewalt ablehnen und auflösen? Ist das nicht Anarchismus? Weit fehlgeschossen, weil zu kurz gedacht! Denn in diesen Aussprüchen handelt sich’s einfach um die Verurteilung des gottlosen Mißbrauches der Regierungsgewalt, gegen die sich Jesus furchtlos auflehnt, nicht aber um Auflehnung gegen die Regierungsordnung selber, was durch mancherlei Aussprüche Jesu leicht zu beweisen wäre.
Andere wieder machen Jesus zum ersten Spiritisten, weil er von seiner Auferstehung geredet hat und nach seinem Tode wieder erschienen ist. Kennten sie die Bibel, so wüßten sie Gottes Urteil über die Totenbeschwörer und Wahrsager (5. Mose 18,11; Jes. 8,19) und wüßten auch, daß Jesus, der sich stets ans Wort seines Vaters band, nichts mit den Totenbeschwörern gemein hatte.
Ein spezieller Versuch, das Geheimnis der Person Jesu zu ergründen, ist auch der, Jesus den Theosophen zuzuzählen. Als solcher gilt er dann als ein in die Weisheit der alten Inder eingeweiht gewesener Adept, ja sogar als der aus einer höheren Sphäre des Daseins gekommene Lehrer der sogenannten fünften Wurzelrasse, ausgerüstet mit besonderen Offenbarungen aus der übersinnlichen Welt. So können indes nur die reden, denen niemals der Unterschied zwischen Buddhismus und Christentum bewußt geworden ist. Die Erlösungslehre des Buddhismus und jede Art von heidnischem oder heidnisch beeinflußtem Mystizismus predigt Selbsterlösung durch Selbstauflösung des Individuums, also Verflüchtigung, Untergang ins All, ins Nichts; das Christentum dagegen kennt nur reales, persönliches Leben, einen persönlichen Erretter aus unserer persönlichen Sünde, einen persönlichen Gott und unser persönliches ewiges Leben bei Gott. Wer Jesu Worte kennt und seines Lebens teilhaftig geworden ist, weiß, daß die Person Jesu mit den theosophischen Gedankenspielereien nicht das geringste zu tun hat.
Nicht wenig war ich belustigt, als ich einmal las, Jesus sei der erste Praktiker der Naturheilmethode gewesen. Er spützte auf die Erde, machte einen Kot und strich ihn dem Blinden auf die Augen (Joh. 9,6). Was ist das anders als – „Lehmbehandlung“! Ferner, er schickte den Blinden nach dem Teiche Siloah, sich zu waschen. Was besagt das anders als – „Wasserbehandlung“! Sodann sagte er jenem achtunddreißig Jahre mit einer Krankheit Behafteten: „Stehe auf, nimm dein Bett und wandle!“ Was ist’s anders als Anraten von etwas Bewegung in frischer Luft unter Anwendung einer „Wachsuggestion“! Denn Jesus gilt vielen auch als der erste praktische Hypnotiseur. Nur sonderbar, daß er dann nichts aus sich selbst tun konnte, währenddem unsere heutigen Hypnotiseure gerade durch ihre persönliche „Willensbeeinflussung“ so viel ausrichten oder, besser gesagt, anrichten.
Genug der Torheit und armseligen menschlichen Ellenlängen! Laßt uns zu Ende kommen! Noch einen Versuch, das Geheimnis der Person Jesu zu enthüllen, wollen wir ansehen. Es ist der gewagteste, ich möchte sagen der äußerste Versuch, die Außerordentlichkeit der Erscheinung Jesu nach einem menschlichen Maßstabe zu bewältigen und das Geheimnis seiner Person zu enthüllen. Indes ist auch dieser Versuch, wie alle anderen, nicht wesentlich neu, sondern nur neu in der Form.
Ja, sagt man, Jesus hat wirklich gelebt. Er war ein wirklicher Mensch. Und er war wirklich der Idealmensch. Nimmermehr war er ein Irrsinniger! Nimmermehr ein Betrüger oder vermessener Träumer! Nimmermehr darf man ihn für eine enge Sonderrichtung beschlagnahmen. Denn er ist der Gipfelpunkt der Menschheit. Er ist tatsächlich die Verkörperung des religiösen und sittlichen Ideals. Er ist das erhabenste Vorbild für jedes menschliche Streben. Er hat etwas Außerordentliches vollbracht: Er hat uns Gott als den Gott der Liebe, als unseren Vater geoffenbart. Er hat uns die reinste Lehre vom wahren Leben gebracht, deren Verkündigung ihm den Märtyrertod brachte. Ja, er ist tatsächlich nicht nur ein gewöhnlicher Mensch gewesen, sondern er ist ein Gottmensch, ja tatsächlich der Gottmensch! Er hatte eine ganz besondere Begabung von Gott. Er hatte eine ganz besondere Aufgabe von Gott. Er hatte ein ganz besonderes Bewußtsein von Gott. Ganz allmählich war dieses Bewußtsein von Gott in ihm herangereift. Der Vater lebt in mir und ich im Vater; das war der Inhalt dieses Bewußtseins. So wuchs sein Selbstbewußtsein immer enger zusammen mit seinem Gottbewußtsein, bis es die höchstmögliche Steigerung erreichte, die Jesus in die Worte kleidete: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh. 10,30). Damit war sein Ich-Bewußtsein zum Allbewußtsein erhoben und befand sich nun in unüberbietbarer Harmonie mit dem Unendlichen. In dieser Steigerung seines Bewußtseins bis zum Einssein mit Gott hinauf lag die Kraft und Autorität seiner Persönlichkeit, die Macht seiner Liebe und Weisheit, die Sorglosigkeit, Furchtlosigkeit und Bedürfnislosigkeit seines Wesens, die unerschütterliche Ruhe und Gelassenheit seiner Seele und endlich der Sieg über den Tod, der für ihn kein Tod mehr sein konnte, da er ja ewig im Vater lebte. – So ist er unser „Heiland“ geworden, unser Helfer, der uns gezeigt hat, was Leben heißt, nämlich treu bleiben sich selbst, das heißt dem Gott in uns, um in diesem Bewußtsein alles zu überwinden, was das Leben an Widerstand auch bieten möge. Denn Gott ist die Liebe, und unser Vater und seine hilfsbereite Liebeskraft für und in uns, das ist Gnade. So müssen wir Jesus nachfolgen, unserem herrlichen, erhabenen und verehrten Vorbilde!
Nun, was sagst du dazu? Ist dir nun das Geheimnis der Person Jesu enthüllt? Reicht’s nun aus? Ist die Außerordentlichkeit seiner Erscheinung nun hinlänglich erklärt? Wenn ja, dann besteht ja wohl für uns keine Schwierigkeit mehr, dasselbe zu erreichen, was er erreicht hat. Denn daran muß sich’s ja nun zeigen, ob wir seinem Geheimnis auf die Spur gekommen sind. Das Problem ist gelöst, die Lösung wird der Praxis übergeben, und in der Praxis hat sie sich zu bewähren.
Was soll ich sagen? Ich will jetzt sagen: Gehen wir also nach Hause, und benutzen wir von nun an jede Sekunde dazu, Jesus, unserem herrlichen, erhabenen Vorbilde, nachzufolgen. Steigern wir unser Selbstbewußtsein in fortgesetzter Übung bis zum Allbewußtsein, zum Gottesbewußtsein hinauf, daß auch wir einst in Wahrheit sagen können: „Ich und der Vater sind eins. “ Und dann, wenn auf diesem Wege jede Disharmonie aus unserem Wesen geschwunden ist, dann laßt uns vor die Menschen hintreten und sagen: „Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen?“ Laßt uns dann auch vor uns selbst hintreten und uns fragen: Kann ich mich vielleicht noch einer Sünde zeihen? Laßt uns dann auch zum „Vater“ beten: Vater, kannst du mich etwa noch einer Sünde zeihen? Und wenn dann weder Menschen, noch wir selbst, noch Gott uns einer Sünde zeihen könnten, dann wäre es ja wohl erreicht. Dann würde sich unser Bild ja mit unserem Vorbild in Gesinnung und Wesen decken. Dann wären ja auch wir der Gottmensch und – das Problem wäre recht gelöst. Jeder von uns könnte dann mit dem Rufe sterben: „Es ist vollbracht!“
Aber –
Aber, nicht wahr, du merkst, hier gibt’s ein Aber? Darum Scherz beiseite! Öffne die Augen und blicke hinein in den Betrug! Siehe, du könntest hundert Jahre leben, und du würdest niemals Jesus, dein Vorbild, erreichen! Ja, je furchtbarer es dir Ernst würde, ihm gleich zu sein, desto entsetzlicher würdest du von dir selbst enttäuscht werden. Siehe, hier redet einer zu dir, der hat es ehrlich versucht. Und je mehr er es versuchte, desto mehr mißlang es. Jesus als Vorbild? –: Entsetzliche Qual für jeden, der es ernst nimmt mit Jesu Wort: Folge mir nach! Zehntausendmal schlimmer als Moses und die Gesetzesparagraphen vom Sinai. Jesus als Vorbild? –: Anklagender, niederschmetternder als jede Höllenqual des Gewissens! Jesus, der stete Beurteiler deines Redens, deines Tuns, deines Denkens? –: Schauerlicher, unerträglicher als Galeerenketten! Jesus dein Vorbild? Sieh, was du doch faselst! Nicht eine halbe Stunde würdest du es dulden, daß er dir ins Herz und Handwerk hineinsähe! Jesus dein Vorbild? –: Nicht einen Blick von ihm könntest du empfangen, ohne daß er dir die Lüge, die Ohnmacht, den eitlen Selbstbetrug aufhellen würde, der in der Phrase liegt: Jesus mein Vorbild!
Aber vielleicht sagst du: „Er soll ja nicht nur mein Vorbild, sondern auch mein Helfer sein. “ Nun, was soll er dir denn helfen? Wenn sein Geheimnis darin enthüllt ist, daß er der Gottmensch ist, so ist er damit immer noch doch nur ein Mensch, obschon in der höchsten Steigerung des Menschlichen, aber dennoch nur ein Mensch. Und als Mensch ein Kind seiner Zeit. Und als Mensch seiner Zeit ein vor bald zweitausend Jahren gestorbener Mensch. Was soll der dir denn helfen können, daß du sein Vorbild erreichst? Er zwar hat’s ja so weit gebracht, wie er’s gebracht hat, wenn er wirklich der Gipfel der Menschheit ist. Aber davon hast du doch noch nichts. Wie sehr du dich auch bemühen magst, in ebensolche Stellung zum Vater zu kommen, wie er sie eingenommen, der Gottmensch Jesus kann dir dabei wirklich nicht im geringsten helfen. Denn du kannst nicht aus deiner Haut fahren, und seine Lehre allein kann dich nimmermehr umändern. Und zudem: Als Mensch und als Mensch seiner Zeit kann er doch auch in seiner Lehre geirrt haben. Denn noch nie gab es einen Menschen, der sich nicht irgendwie geirrt hätte. Aber nun sieh einmal an, wie schlecht es doch dann bestellt ist, nicht nur um deinen Helfer, sondern sogar um dein Vorbild?
Und in der Tat, die Jesus nur als vorbildlichen Menschen erledigen wollen, müssen selber zugeben, daß Jesus trotz seines hohen Gottesbewußtseins doch auch nur als ein Kind seiner Zeit anzusehen sei und an den Irrtümern seiner Zeit teilgehabt habe. So zum Beispiel hat er an Teufel und Dämonen geglaubt und die Krankheiten als dämonische Besessenheiten angesehen. Und nicht wahr, das kann ein Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts doch nicht mehr glauben? Dazu ist man doch zu gebildet! Dazu hat Jesus auch an den bevorstehenden Weltuntergang und an das kommende Gericht und an die Auferstehung der Gerechten und Ungerechten geglaubt; ebenso glaubte er an seine eigene Auferstehung. Und hinter all diese Dinge machen doch die Leute von heute, die Jesus nur als Gottmenschen erledigen wollen, viele Fragezeichen. Also kann dir der irrende Mensch Jesus doch eigentlich auch gar nichts Gewisses über Tod, Jenseits, Gericht und Ewigkeit sagen, ist also trotz seiner Gottmenschlichkeit im Grunde nicht fähig, dir die uralt ewigen Fragen des Woher? Wozu? Wohin? des Menschengeschlechtes zu lösen. Und zudem sagt man, Jesus habe nicht nur geirrt, sondern auch gesündigt; was ja ganz folgerichtig wäre, denn dicht neben dem Irrtum wohnt die Sünde. Siehst du jetzt, wie klein und unzulänglich doch eigentlich dein herrliches, erhabenes, verehrtes Vorbild ist? Siehe, so ist es! Erst windet man ihm den Lorbeer um die Gottesmenschenstirne und hinterher zeigt es sich, daß man es mit seiner Vorbildlichkeit doch nicht so ganz ernst nehmen kann, sondern daß man in vielen Dingen doch ein wenig klüger geworden ist als er war, und schließlich wieder ganz auf sich selbst angewiesen ist. Also der alte Jammer! Wo bleibt da die Erlösung?
Siehst du jetzt den Betrug ein? Denn soll diese Armseligkeit wohl die Enthüllung seines Geheimnisses sein? Nimmermehr! Es reicht nicht aus: Verborgen, verborgen, verborgen!
Es reicht auch nicht aus, weil diese letzte Erklärung eine gekünstelte ist. Sie muß allerlei Abzüge an der Person Jesu vornehmen, damit sie sich als Erklärungshypothese behaupten könne. Was nicht in ihren Kram paßt, wird entweder als zeitgeschichtlich bedingter Irrtum Jesu oder als Irrtum seiner Jünger oder als Fälschung der Urkunden über Jesus auf die Seite zu schaffen gesucht. Auf diese Art arbeitet man an der Person Jesu herum, bis er geradeso ist, wie man ihn haben will. Das heißt, man streicht alles Außermenschliche, alles wahrhaft Göttliche, Geheime und Unverstehbare aus seinem Bilde aus und reduziert alles aufs verständliche, bequeme, menschliche Maß, wenn auch in der höchsten Steigerung des Menschlichen. Das heißt aber nicht das Geheimnis enthüllen, sondern nur das Geheimnis leugnen. Ist also Pfuscharbeit gleich den anderen Versuchen und bewährt sich deshalb auch nicht in der Praxis. Denn ein solcher zurechtgestutzter Jesus, der im Grunde gerade ist, wie wir selber sind, nur ein wenig mehr in der Kultur zurückgeblieben, nützt, wie wir gesehen haben, keinem Menschen etwas. Als Vorbild ist er nicht zu erreichen, als Helfer nicht zu gebrauchen.
Oder gehe doch mit einem solchen Jesusbild hin zum Sünden- und Lasterknecht, etwa zu dem in der Trunksucht oder in der Unzucht Gebundenen und sage solchem Ärmsten: „Hier ist Jesus, dein Vorbild, bitte, steigere dein Bewußtsein und folge ihm nach und werde wie er. “ „Wie könnte ich, wie könnte ich!“ wird er ausrufen. „Ich habe ja keine Kraft dazu!“ – Oder gehe mit einem solchen Jesusbild hin zum Sterbenden, dem der heilige Gott die Ungenüge seines sündigen Lebens ins Licht gestellt hat. Sage zu dem Gequälten: „Lernen Sie von Jesus, dem Gottmenschen, wie man sterben muß! Lernen Sie es schnell noch, eins zu sein mit dem Vater, dessen Liebe und Güte Ihre Sünde übersehen wird!“ Er würde ausrufen müssen: „Ich bin nicht wie Jesus! Ich bin nicht eins mit Gott. Gott klagt mich an. Meine Sünde steht zwischen ihm und mir. Was wird aus meiner Sünde? Was wird aus mir? Ich muß sterben ohne Gewißheit! Ich bin verloren! Ich elender Mensch, wer rettet mich?“ – Siehe, wie armselig würdest du dann dastehen mit deinem menschlich zurechtgestutzten, auf so hoch und festen Postament gestellten, und doch so wertlosen Jesus! Oder wie armselig würdest du selbst daliegen in deiner Lebens- und Sterbensnot mit einem solchen Jesus im Kopfe, mit der Gewissensqual in der Brust und ohne Gewißheit über die Vergebung deiner Sünden und den Verlauf des dich erwartenden Gerichtes?!
Nein, nein, solcher Jesus hat noch keinen Menschen von der Schuld und der Macht der Sünde erlöst. Aber eine solche Erlösung und einen solchen Erlöser wollen alle diese Erklärer ja auch gar nicht. Bestreiten sie doch das biblisch geoffenbarte Wesen der Sünde, ebenso wie sie das biblisch geoffenbarte Wesen Jesu bestreiten. So steht hinter all diesen Enthüllungsversuchen des Geheimnisses der Person Jesu der stolze, selbstgerechte und selbstweise Mensch, der vor Gott weder ein Sünder noch ein Tor sein will und infolgedessen auch keinen Erretter aus Sünde und Torheit benötigt. Diesen Leuten gilt, was Jesus einst denen sagen mußte, die scheinbar so ernsthaft sich mit der Enträtselung Johannes des Täufers befaßten, nämlich: „Ihr aber wolltet nur für eine Zeit in seinem Lichte fröhlich sein“ (Joh. 5,35). Jawohl, ihre Beschäftigung mit Jesus ist nur eine Art selbstgefälligen Vergnügens. Deshalb muß um jeden Preis die Person Jesu ihrer biblisch geoffenbarten Göttlichkeit entkleidet und ins Menschliche heruntergezerrt werden. Solche Entkleidung, solche Beraubung nennt man dann seine „rein menschliche“ Enthüllung und Befreiung von aller „dogmatischen Übermalung“. Deshalb muß auch die Bedeutung seines Opfertodes für unsere Sünden um jeden Preis ausgemerzt werden. Denn andernfalls hätte er ja auch deine Sünde getragen und auch dich durch sein Sterben erlöst. Und dann wäre es ja mit deiner Selbstgerechtigkeit und Selbsterlösungsfähigkeit vorbei. Deshalb muß man um jeden Preis dies Ärgernis des Kreuzes (1. Kor. 1,18) auszurotten suchen. So sehr sich alle Erklärungsversuche der Person Jesu vom menschlichen Standpunkte aus untereinander widersprechen, so sind sie doch alle in dem Bestreben eins, die Bedeutung des Kreuzes Christi zu stürzen, das heißt das der Weisheit des Menschen Törichte und das der Selbstgerechtigkeit des Menschen Ärgerliche aus dem Leben und Sterben Jesu hinauszuschaffen. So ernten sie denn, was sie gesät haben. Nämlich das Geheimnis der Person Jesu, das, wie ich schon einleitend sagte, sich deckt mit dem Geheimnis des Kreuzes, bleibt ihnen verborgen, verborgen, verborgen!
Was ist denn das Geheimnis des Kreuzes? Nun, die biblisch geoffenbarte Tatsache, daß Gott Mensch wurde in Christus Jesus, also nicht, wie die törichten Erklärer sagen, daß der Mensch Jesus sich zum Gottmenschen hinauf entwickelte, sondern gerade umgekehrt, daß der ewig mit Gott dem Vater eins seiende Sohn sich zum Menschen hinab erniedrigte (Phil. 2,5-11), also nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren, gezeugt durch den Heiligen Geist, Mensch auf Erden wurde (Joh. 1,13 und Luk. 2,35). Dies ist zunächst das Geheimnis seiner Geburt, aber es bedingt das Geheimnis seines Kreuzes. Denn Jesus Christus, außerhalb des Bannkreises der gefallenen Schöpfung und Verschuldung von Gott erzeugt und doch das Fleisch der Menschlichkeit tragend, hatte nun erstens die Aufgabe, die Sünde im Fleische zu überwinden, das heißt Mensch zu sein und doch nicht Sünder, und zweitens die Aufgabe, sich als den, der Sünde nicht kannte, also als makelloses Schlachtschaf für uns zur Sünde machen zu lassen (2. Kor. 5,21), indem Gott die Sünde im Fleische des Sohnes am Kreuze verurteilte (Röm. 8,3), auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm. Also Jesus, der Sündlose, für uns am Kreuz zur Sünde gemacht, gestorben an unserer Statt, zu unserer Erlösung durch sein Blut, zur Vergebung unserer Sünden, ihm die Strafe, uns der Friede, ihm die Wunden, uns die Heilung: das ist das allen Menschenwitz übersteigende Geheimnis des Kreuzes. Und das ist zugleich, wie gesagt, das schreckliche Ärgernis im Leben Jesu, vor dem die Menschen nun seit bald zwei Jahrtausenden kopfschüttelnd, spottend, höhnend, streitend stehen, um es irgendwie los zu werden. Ja, als Marterzeichen im allgemein menschlichen Sinne oder als sittliches Anschauungsmittel zum Verständnis einer falsch verstandenen Liebe Gottes und des Leidensgehorsams Jesu möchte man das Kreuz schon gelten lassen, aber als blutiges Erlösungszeichen nimmermehr.
Wie? Ein Mensch soll Gott sein? Welche Vermessenheit!
Wie? Gott soll dieser Hilflose, Gekreuzigte sein? Wie lächerlich!
Wie, Gott soll nur um des Blutes seines Sohnes willen vergeben können?
Wie abscheulich und ärgerlich! Ach, Freund, wenn dir doch eine Sünde angesichts der heiligen und gerechten Liebe Gottes im gekreuzigten Christus schon einmal so abscheulich und ärgerlich geworden wäre, wie dir das Wort vom Kreuz bisher ärgerlich, abscheulich und töricht gewesen ist! Wer sich einmal gründlich an sich selbst geärgert hat, hört auf, sich am Opfertode Jesu zu ärgern.
Denn auch du bist ein Sünder vor Gott. Denn auch du kannst dich nicht selbst aus der Schuld und Macht der Sünde erretten. Denn auch du bedarfst der Erlösung von außen, von oben her. Denn auch dir bleibt kein anderes Opfer zur Versöhnung mit dem heiligen Gott, als das Sühnopfer Jesu Christi; denn Jesus starb auch für dich. Und darum gilt auch dir Jesu Wort: „Selig, wer sich nicht an mir ärgert“ (Matth. 11,6). Und deshalb sei es auch dir noch einmal gesagt: Das Geheimnis der Person Jesu läßt sich nicht menschlich studieren, sondern ist göttlich geoffenbart und muß kindlich gehorsam geglaubt werden. Und es wird allein von denen geglaubt, die aufhören, an ihre eigene Weisheit und Gerechtigkeit Gott gegenüber zu glauben. Ja, glückselig bist du, wenn dein Verstand einmal so gründlich vor dem Geheimnis des Kreuzes stille steht, daß er verzweifelt Bankrott macht! Dann wirst du einsehen, daß es sich hier nicht um ein äußerliches, zwangsweises Jasagen zu einem papiernen Lehrsatz handelt, sondern um ein inneres Erleben des Geheimnisses des Kreuzes. Und wirst dann auch einsehen, daß du vor dem Geheimnisse der Person Jesu nicht das Opfer deines Verstandes, sondern nur das Opfer deines Unverstandes zu bringen brauchtest.
Möchtest du Jesus so heilbringend für dein armes Leben enthüllt sehen? Möchtest du ihn als deinen Erretter erleben, der ein ganz neues Leben für dich bereit hält, sofern du nur endlich als ein Armer im Geiste, als ein Mühseliger und Beladener ihm zu Füßen fallen wolltest?
O, tue es!
Siehe, er steht vor dir.
Er fragt auch dich: „Wer sagst du, daß ich sei?“
Jetzt gib ihm die rechte Antwort: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, mein Herr und mein Gott.