Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Fünfzehnter Vortrag. Erfolg der galiläischen Thätigkeit.

Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Fünfzehnter Vortrag. Erfolg der galiläischen Thätigkeit.

Wir vernehmen aus dem Munde Jesu zwei Aussprüche, welche miteinander in Widerspruch zu stehen scheinen, richtig verstanden oder vielmehr richtig verbunden die Aussage enthalten, daß der Erscheinung Jesu gegenüber auch diejenigen, denen man es äußerlich noch nicht absehen könne, innerlich bereits zu einer Entscheidung gekommen seien. Einmal sagt Jesus: „wer nicht mit mir ist, der ist wider mich“ (s. Luk. 11, 23); ein ander Mal: „wer nicht wider uns ist, der ist für uns“ (s. Marc. 9, 40) Beide Aussprüche gehen auf Solche, welche zu Jesu noch keine bestimmte äußere Stellung eingenommen haben. Man sollte nun denken, daß so lange dies nicht geschehen, auch über ihr inneres Verhältniß zu Jesu noch Nichts festgestellt werden könne, und doch geschieht das Letztere und zwar nach zwei verschiedenen Seiten hin. Es wird also aus der äußeren Stellung zu Jesu, obwohl dieselbe sich einstweilen nur noch bloß negativ ausdrücken läßt, es ist eine Stellung entweder „nicht mit“ oder „nicht gegen“, dennoch schon eine innere Stellung erkannt und zwar eine ganz entgegengesetzte, je nachdem die äußere Unentschiedenheit als Mangel der Zuneigung oder als Mangel der Feindschaft zu bezeichnen ist. Daß Jesus zur Entscheidung und Scheidung gekommen ist, wird uns aus manchen Thaten und Worten klar und hat sich uns schon in verschiedener Weise herausgestellt, aber wie tief und scharf diese große Weltkrisis, die in Jesu beschlossen ist, angelegt ist, das erhellt aus Nichts so sehr, wie aus der Zusammenstellung jener beiden Aussprüche. Wir ersehen aus derselben, daß diese Entscheidung und Scheidung ganz leise und tief verborgen anhebt, und häufig schon da ist, ehe sich in der äußeren Stellung des Menschen irgend Etwas ändert; ferner aber, daß das geisterprüfende Auge auch da schon, wo die äußere Stellung nur noch die bloße Abwesenheit einer Entscheidung ausdrückt, eine entschiedene Richtung erkennen könne. Es ist leicht einzusehen, daß Jesus nur deshalb mit solcher Sicherheit von einer vorhandenen Entscheidung sprechen kann, wo sich dieselbe äußerlich noch so sehr verbirgt, weil er weiß, daß in seiner Persönlichkeit die Macht ruht, die in den Grund jeder Menschenseele hineingreift und keine Seele auf der Stelle bleiben läßt, wo sie sich findet, sie muß sich entweder zu- oder auch abwenden, sie läßt sich entweder anziehen oder sie wird abgestoßen.

Diese Grundmacht der Persönlichkeit Jesu dürfen wir aber nicht ruhend denken, vielmehr ist dies recht eigentlich die Geschichte Jesu, daß diese Grundmacht sich durch ihre Selbstbewegung in der Welt auswirkt. Wir wissen jetzt, daß Jesus Galiläa erwählt hat als denjenigen Schauplatz, auf dem er am längsten verweilte, um am allseitigsten sein Inneres zu offenbaren. Daß diese Selbstoffenbarung als eine Thätigkeit, als ein Wirken im eigentlichen Sinne zu denken ist, haben wir bereits erkennen müssen, es ist aber wichtig und nöthig, namentlich in Rücksicht auf die herrschenden ungeschichtlichen Vorurtheile in Betreff der Person und des Werkes Jesu, daß wir uns dieses recht klar und lebendig einprägen. Zu dem Ende wollen wir uns einige Züge merken, welche allein deshalb aufgezeichnet sind, damit wir Jesum in seiner Arbeit schauen sollen. Marcus erzählt: Jesus kam einst während seiner galiläischen Wirksamkeit unter dem Volke mit den Seinen zu Hause, da versammelte sich abermals ein Volkshaufe, so daß sie nicht essen konnten (vgl. Marc. 8, 31), und als die Seinen das hörten, gingen sie hinaus, ihn abzuhalten, denn sie sprachen: er ist von Sinnen (s. Marc. 3, 20. 21). Wir ersehen aus diesem kurzen Bericht, daß Jesus sich bereits so lange mit dem Volke beschäftigt haben mußte in Reden und Wunderthun, daß die Seinen es für die höchste Zeit halten, daß er sich erquicken und starken müsse. Als Jesus nun dessenungeachtet sich abermals dem herbeiströmenden Volke hingab, indem er offenbar das Haus wiederum verließ und zu der Menge hinausging, hielten sie es für nöthig, ihm Einhalt zu thun, denn sie meinten, da er in seinem Eifer alle Rücksicht auf sich selber hintansetzte, sei er seiner selbst nicht mehr mächtig, und es sei daher Wicht für die Seinen, sich seiner anzunehmen. Der heilige Evangelist hält es nicht für nöthig, zu bemerken, daß Jesus durch solche Gedanken und Reden der Seinigen sich nicht habe aufhalten lassen, das verstand sich für ihn und die Leser, welche er voraussetzt, von selber, ihm ist es nur darum zu thun, durch diesen charakteristischen Zug der um Jesum besorgten aber thörichten Liebe aufzuweisen, bis zu welchem Uebermaß die Mühe und Arbeit Jesu gegangen sei, damit die Gläubigen für alle Zeiten sich ihrer Trägheit und Bequemlichkeit schämen möchten. Um diesen Zug übrigens völlig zu würdigen, müssen wir noch hinzunehmen, daß diese Sorge und Furcht der Liebe um Jesum nicht etwa die Stimmung verweichlichter und sentimentaler Menschen gewesen ist, denn die Angehörigen des Herrn gehörten zu den Gesundesten ihres ganzen Volkes und standen auf dem Boden des wirklichen und richtigen Lebens. Um so mächtiger müssen wir uns natürlich den Eindruck der rastlosen und übermenschlichen Anstrengung Jesu vorstellen. Dieser bis zu einer unfaßlichen Höhe der Anstrengung sich steigernden Hingebung an die Beschäftigung mit den Volkshaufen steht gegenüber das Aufsuchen der Einsamkeit, welches nicht selten von den Evangelisten erwähnt wird. Aber auch dieser Zug der Menschlichkeit Jesu ist wiederum das gerade Gegentheil aller Weichlichkeit und Bequemlichkeit. Seinen Jüngern zwar verschafft er dadurch eine Ruhe, daß er sich mit ihnen aus dem Getümmel des Volkes zurückzieht an einen einsamen Ort und sie geradezu auffordert, sich ein wenig auszuruhen (s. Marc. 6, 31). Was ihn selber anlangt, so vergißt er, um für sich Ruhe und Einsamkeit zu erlangen, des Schlafes, wie er um der Arbeit willen der Speise vergißt (s. Joh. 4, 31. 32). Am anschaulichsten ist uns dies wiederum von Marcus beschrieben worden. Eines Abends, da bereits die Sonne untergegangen war, brachten sie zu Jesu, der in Kapernaum weilte, allerlei Kranke und die ganze Stadt versammelte sich vor der Thür seines Hauses, er heilete die Kranken und trieb die Teufel aus. Des anderen Morgens, noch tief in der Nacht, steht der Herr auf von seinem Lager, geht aus der Stadt und begibt sich an einen einsamen Ort, um dort zu beten. Hier weilt er noch, als Petrus und die Anderen ihn aufsuchen, sie mußten also diese Gewohnheit an ihm kennen, und als sie ihn finden, sagen sie zu ihm: Alle suchen dich (s. Marc. 1, 32-37). Gesteigert erscheint uns dieses heilige Wachen Jesu um des Gebetes willen in der einsamen Natur zur Nachtzeit, als er, nachdem er drei Nachtwachen allein auf dem Berge im Gebete zugebracht, in der vierten Nachtwache seine Jünger auf dem galiläischen See vom Sturm bedroht sieht und seine Einsamkeit verlassend sie aufsucht in ihrer Gefahr und Noch, um ihnen Hülfe zu bringen (s. Matth. 14, 23-34. Joh. 6, 16-21).

Wenn wir nach diesen sprechenden Zügen uns das Bild des heiligen Wirkens Jesu in Galiläa vergegenwärtigen und hinzunehmen, daß er es darauf anlegt, das ganze Land zu durchreisen (s. Marc. 1, 38. 39), wie wir ihn denn auch wirklich nach allen Seiten hin bis an die Grenzen der Heiden vordringen sehen, wenn wir endlich noch bedenken, daß er auch die Hülfe der beiden engeren Jüngerkreise, der Siebenzig und der Zwölf in Anspruch nimmt, um sein Wirken zu unterstützen, so ersehen wir, daß hier die Selbstmacht Jesu, welche zur Krisis der Welt eingesetzt ist, in der höchsten und angestrengtesten Bewegung begriffen ist, und dürfen deshalb mit Sicherheit erwarten, daß in diesem Kreise eine allgemeine Bewegung erfolgt, welche ein erkennbares Ergebniß zu Tage bringen muß.

Wir fragen demnach, welches ist dieses Ergebniß, welches ist der Erfolg der galiläischen Thätigkeit Jesu? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die drei Kreise unterscheiden, auf welche sich die Thätigkeit Jesu erstreckt, und in deren jedem wir die Wirkung in bestimmten Zügen verfolgen können. Den ersten und weitesten Kreis bildet das Volk. Die Rede und Thätigkeit Jesu hat immer das Ganze und Große im Auge, frei und öffentlich redet und handelt er und nicht im Winkel (s. Joh. 18, 20. 21. Luk. 22, 52. 53). Selbst was er zunächst den Jüngern anvertraut, ist doch nach seiner eigentlichen Bestimmung für die größte Oeffentlichkeit: „was ich euch sage in der Finsterniß, das sollt ihr sagen im Lichte, und was ich spreche ins Ohr, das sollt ihr auf den Dächern: predigen“ (s. Matth.„ 10, 27); und was er nachher den Jüngern im vertrauten Kreise erklärt, hat er seinem Inhalt nach vorher in öffentlicher Versammlung geredet (s. Matth. 13, 34-37). So wie nun die Richtung der Thätigkeit Jesu, so ist auch die Wirkung. Es ist die ganze Masse des galiläischen Volkes, welche von ihm durch Wort und That in Bewegung gesetzt wird. Es ist bekannt, daß die Tausende ihm folgten in die Wüste und dort tagelang bei ihm verharrten, bis all ihr Vorrat!) verzehrt worden war, ohne daß ihre Aufmerksamkeit abgelassen hätte, ja ohne daß sie ihrer eigenen Verlegenheit und Noth inne geworden wären! Es ist das in der That ein ganz ungewöhnlicher Grad von geistiger Anspannung des Volks, welche durch Jesum hervorgerufen wurde, und wir begreifen es, daß Jesus durch die Wahrnehmung einer solchen Hingabe des Volks an ihn gerührt wird (s. Matth. 15, 32). Ein ander Mal spricht das Volk: „dieser ist wahrhaftig der Prophet, der in die Welt kommen soll“ (s. Joh. 6, 14). Ja aus dieser Stimmung und Rede entnimmt Jesus, daß sie im Begriff sind zu kommen, um ihn zum König zu machen, wie sie denn wirklich bei einer anderen Gelegenheit voll Staunen ausrufen: „ist dieses nicht der Sohn Davids“ (s. Matth. 12, 23), und nur durch das Aufsuchen der Einsamkeit entgeht er den Zumuthungen dieser allgemeinen Begeisterung. Aber kaum gibt es einen stärkeren Beweis von der das ganze Volk ergreifenden Kraft der Rede und Persönlichkeit Jesu als jenes Wort aus dem Munde eines Weibes aus dem Volke, welche mitten unter der Rede Jesu mit lauter Stimme ausruft: „selig der Leib, der dich getragen, und die Brüste, die du gesogen hast“ (s. Luk. 1 1, 27).

Aber das Wirken Jesu hat es nicht sowohl auf eine Höhe der Begeisterung angelegt, als vielmehr auf einen Stand der Gesinnung, und nach diesem Maßstab ergibt sich bald, daß auch die Galiläer weit entfernt sind, Jesum aufzunehmen. Die Galiläer stehen zwar nicht in dem Maße unter der Herrschaft und Leitung der Schriftgelehrten, Priester und Pharisäer, wie die Judäer, aber schon als Juden der damaligen Zeit haben sie sich keineswegs von den verderblichen Einflüssen des selbstgerechten Gesetzesthums frei gehalten und außerdem erfahren wir, daß sich auch in Galiläa Schriftgelehrte und Pharisäer größtentheils in böser Absicht an Jesum heranmachen, um ihn beim Volke verdächtig zu machen, ja es wird berichtet, daß die volksverführenden Widersacher Jesu von Jerusalem nach Galiläa kamen, um ihr finsteres Werk auch hier zu betreiben (s. Matth. 15, 1. Marc. 3, 22. 7, 1). Auch in Galiläa versuchen diese Volksführer allerlei Künste, um den Einfluß Jesu auf das Volk zu hintertreiben, sie wagen es bis zur Verlästerung seiner Gesinnung, indem sie sagen, daß er den Teufel austreibe durch Beelzebub, der Teufel Obersten (s. Matth. 12, 24. Luk. 11, 15. Marc. 3, 22), und andererseits verbinden sie sich mit den Inhabern der Gewalt in Galiläa, mit den Anhängern des galiläischen Fürsten Herodes (s. Marc. 3, 6), und diese Verbindung ist geradezu, wie Marcus berichtet, auf den Untergang Jesu angelegt. Die Feindschaft gewinnt also in Galiläa denselben Charakter und dieselbe Heftigkeit, wie in Jerusalem, der Unterschied ist nur der, daß die eigentlichen Träger dieser Feindschaft in Galiläa nicht denselben Einfluß haben wie in Jerusalem und Judäa, weshalb wir in Galiläa, abgesehen von einer plötzlichen Aufregung in Nazaret (s. Luk. 4, 29. 30), von eigentlichen feindlichen Demonstrationen des Volks gegen Jesum Nichts erfahren. Allein da sich die Sache nun bald so stellt, daß die Galiläer, wie Jesus in der Bergrede sagte, die Auctorität der Schriftgelehrten und Pharisäer darangeben mußten, wenn sie Jesus folgen wollten, anderenfalls aber die von Jesu empfangenen Eindrücke nicht festhalten konnten, so zeigte es sich mehr und mehr, daß Hie Galiläer zu dieser entschiedenen Lossagung von ihrer Gewohnheit sich nicht entschließen konnten. Johannes hat uns im sechsten Kapitel seines Evangeliums ein Beispiel angeführt, in welchem wir das Ringen Jesu mit dem galiläischen Volke anschaulich dargestellt erkennen können. Es ist hier zwar nicht die leidenschaftliche Heftigkeit, die wir bei den ähnlichen Kämpfen in Jerusalem wahrnehmen, aber wir sehen doch deutlich, wie die Galiläer in Kapernaum in demselben Maße, als Jesus sein inneres Heiligthum mehr und mehr enthüllt, sich von seinem Einflusse losmachen und in ihre gewohnheitsmäßigen Vorstellungen zurücksinken, ja wir erfahren, daß viele von seinen Jüngern, nachdem Jesus die ganze Fülle seiner hingebenden Liebe ausgesprochen, sich abwenden, indem sie sagen: „das ist eine harte Rede, wer kann sie hören?“ (s. Joh. 6, 60). Jesus vergleicht die Galiläer deshalb mit den spielenden Kindern auf dem Markte, die ihren Genossen zurufen: „wir haben geflötet und ihr habt nicht getanzt, wir haben Trauerlieder gespielt und ihr habt nicht geklaget“ (s. Matth. 11, 17). Aber wehe denen, die in Zeiten großer Entscheidungen ernste Dinge spielend behandeln, diese bringen sich gar bald um den letzten Rest aller besseren Eindrücke, die sie aufgenommen haben! Wer erst mit dem Ernst sein Spiel hat, dessen Zustand wird bald einen sehr ernsthaften Charakter annehmen. Darum dürfen wir uns nicht wundern, wenn Jesus ungeachtet all der tiefen und gewaltigen Eindrücke, welche sein Gang durch die Städte und Fluren Galiläas in dem Gemüthe und Gewissen des Volkes hervorrief, schließlich das ganze Geschlecht als ein ehebrecherisches bezeichnet (s. Matth. 12, 39. 16, 4. Marc. 8, 38). Ohne Zweifel haben wir diesen Ausdruck in dem biblischen Sinn zu verstehen, nach welchem das Verhältniß zwischen Jehova und Israel als ein eheliches aufgefaßt wird, welche Auffassung hier um so mehr geboten ist, da wir wissen, daß dieses eheliche Verhältniß zwischen Jehova und Israel in der Lebenseinheit Jesu mit seiner Gemeinde zur Vollendung kommen soll. Jesus will also mit diesem Worte den Abfall seines Volkes zu den unreinen Geistern dieser Welt strafen, wobei freilich nicht ausgeschlossen ist, daß er zugleich den Ehebruch im fleischlichen Sinne meint, indem, sobald die Befleckung des Geistes durch den Abfall von Gott eingetreten ist, die Befleckung des Leibes eine natürliche Folge ist. Darin ist nun aber zugleich gegeben, daß die Wirkung Jesu, auf das Ganze gesehen, eine der ursprünglichen Absicht entgegengesetzte Richtung nimmt. Erfolgen nämlich muß eine Wirkung, das liegt in der Persönlichkeit Jesu und in seiner auf das Höchste gerichteten Thätigkeit; wird das Volk nicht besser und heiliger, so muß es, indem es sich der heiligenden Macht Jesu erwehrt, seine Sünde und Gottlosigkeit steigern. Das ist es, was Jesus namentlich über die Ortschaften Galiläas ausspricht, in denen er sein Inneres am häufigsten und anschaulichsten offenbart hatte, Chorazin, Betsaida und Kapernaum. Von der letzten Stadt, die er, wie wir gesehen, vor allen zu seiner galiläischen Wohnstäte sich erwählt hatte, sagt er schließlich: „und du Kapernaum, die du bis zum Himmel erhoben worden bist, bis zur Hölle wirst du heruntergestürzt werden; denn wären zu Sodom solche Thaten geschehen, wie in dir geschehen sind, sie stände noch bis zum heutigen Tage. Jedoch ich sage euch, es wird dem Lande der Sodomiter erträglicher ergehen am Tage des Gerichtes, denn dir“ (s. Matth. 11, 23. 24. Luk. 10, 15).

Alles zusammenfassend spricht Jesus gegen Ende seiner galiläischen Thätigkeit sein Schlußurtheil über das Volk dahin aus, daß dem zeichensüchtigen Geschlecht kein anderes Zeichen gegeben werden soll, als das Zeichen des Propheten Jona (s. Matth. 12, 39-41. Luk. 11, 29-32. Matth. 16, 4). Jona, nachdem er dem Reiche Israel die letzte Gnade Jehovas verkündigt hatte (s. 2 Kön. 14, 25), wurde nach Ninive, der heidnischen Weltstadt, gesandt, und während Israel nicht erweicht wurde durch Jehovas Gnade, that Ninive in Folge der Strafpredigt Jonas Buße in Staub und Asche, und weiter verfiel das Reich Israel dem Untergang und der Vollstrecker des Gerichtes über Israel war Assur, der seinen Hauptsitz in Ninive hatte. Der Inhalt des Zeichens Jonas ist also der Uebergang der göttlichen Gnade von den Juden zu den Heiden. Darum sagt Jesus: „die Männer von Ninive werden aufstehen im Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen, denn sie thaten Buße nach der Predigt Jonas; und siehe, hier ist mehr denn Jona.“

Es ist erschütternd, daß das große Werk Jesu in Galiläa, welches das ganze Land in innere und äußere Bewegung setzte, einen so traurigen Ausgang nimmt. Freilich dürfen wir hoffen, daß durch das drohende Wehe, welches Jesus über die Städte Galiläas ausruft, Einzelne aus der Masse des Verderbens wie ein Brand aus dem Feuer herausgerissen wurden, wie wir denn später nach der Vollendung des Werkes Jesu in Galiläa den hauptsächlichsten Sammelort der Treugebliebenen finden (s. 1 Kor. 15, 6. vgl. Matth. 28, 16. Joh. 21, 1), aber das Ganze des galiläischen Volks wird von Jesu aufgegeben und dem jähen Sturz in den Abgrund überlassen. Von diesem größesten Kreise der öffentlichen Thätigkeit Jesu unterscheiden wir nun die engeren Kreise, zu denen er ein näheres und innigeres Verhältniß hatte, in denen sich daher auch der Erfolg seiner Wirksamkeit anders herausstellte, als in jenem großen Kreise. Indessen würden wir sehr im Irrthum sein, wenn wir annehmen wollten, die Erfolglosigkeit des Wirkens in der Masse des Volkes sei dem Herrn ersetzt worden durch die Frucht seiner Thätigkeit innerhalb der vertrauteren Kreise; wenn wir meinen wollten, hier sei die treue und unablässige Arbeit Jesu durch einen ruhigen, sicheren Fortschritt der ihm Zugewandten belohnt worden. Denn so bestimmt wir allerdings den vertrauteren erwählten Kreis scheiden müssen von dem großen Kreis des gemischten Haufens, so müssen wir doch nicht übersehen, daß sich in dem Zurücksinken des Volkes von der Höhe, auf welche es durch Jesu Wort und Werk gehoben worden war, das allgemeine Verderben der menschlichen und jüdischen Natur offenbart, und daß eine völlige Befreiung von diesem allgemeinen Verderben nicht eher vorhanden ist, als bis das Geistesleben Christi in den Seinen einen festen persönlichen Bestand gewonnen hat, daß mithin, so lange die Fülle des heiligen Geistes noch nicht ausgegossen ist über das Fleisch, auch diejenigen, welche Jesu näher standen, noch in das allgemeine Verderben verflochten bleiben. Der Blick auf diese engeren Kreise zeigt uns erst die ganze Tiefe des Verderbens, aber andererseits auch die unergründliche Tiefe, in welcher die Liebe und die Arbeit Jesu ruht. Wir betrachten zunächst diejenigen, welche ohne sein Zuthun und ohne seine Wahl ein näheres Verhältniß zu Jesu haben, sodann diejenigen, die er sich für seine Gemeinschaft ausersehen und erwählet hat. Zu den ersteren gehört der Täufer mit seiner Umgebung und Maria, die Mutter Jesu, mit ihren Zugehörigen. Johannes war auf die heilige Warte hingestellt, um den Kommenden zu verkündigen und den Gekommenen vor Israel zu bezeugen. Er hatte Beides gethan und war in seinem Zeugniß beharrt, als er bereits erfahren mußte, daß Niemand Jesu Zeugniß aufnehmen wollte. Aber wird Johannes den Herrn auf seinem weiteren Gange auch noch verstehen, wird er ihn begreifen, wenn er von der Höhe seines königlichen Handelns hinabsteigt in das Thal seines galiläischen Prophetenthums, wenn er, anstatt sein Reich herzustellen und offenbar zu machen, in das Vorbereitungswerk seines Reiches zurückgreift, wenn er, anstatt sich als den König Israels zu offenbaren, sein eigener Vorläufer wird und in das Werk eintritt, welches ihm, dem Johannes, zugewiesen war? Wird der Täufer auch dann noch den zu fassen vermögen, den er als den Größeren und Unvergleichlichen angekündigt hat? Von den Jüngern des Johannes lesen wir, daß sie sich an Jesum wandten mit der Frage: warum er nicht seine Jünger anleite zu der Uebung der Fasten und Gebete, wie sie selber in Uebereinstimmung mit den als Vorbild der Heiligkeit dastehenden Pharisäern es verhielten, während Jesu Jünger im Genießen von Speise und Trank sich keine Schranke auflegten (s. Matth. 9, 14. Marc. 2, 18. Luk. 5, 33)? Man steht, Jesu selber zwar wagen sie keine Vorhaltung zu machen, dazu ist ihnen die Erinnerung an die Aussagen ihres Meisters über Jesu Person noch zu mächtig, aber an seinen Jüngern ist ihnen die Freiheit und die Abweichung von den strengeren Satzungen, welche für das heilige Leben sanctionirt waren, im hohen Grade anstößig. In der That traf aber der Vorwurf Jesum selber (s. Matth. 11, 19) und beruht auf einem gänzlichen Mangel an Verständniß für das ursprünglich Neue, was für das Leben der Menschheit in Jesu erschienen war. Darum erinnert sie der Herr an ein Wort ihres Meisters, nach welchem er der Bräutigam sei und die Seinen die Hochzeitgäste. Diesen könnte man, fährt er fort, nicht zumuthen, traurig zu sein, so lange der Bräutigam bei ihnen sei, ferner verweist er sie auf das Gleichniß vom neuen Lappen auf einem alten Kleide und vom neuen Most in alten Schläuchen und will sie bedeuten, daß sie sich erheben müßten zu der Anschauung eines neuen Lebens, welches, in ihm der Welt aufgegangen, sein eigenes inneres Gesetz und seine eigene ihm selbst entsprechende Ordnung habe und daher nicht mit einem anderswoher und sei es auch von der höchsten und besten Stäte der bisherigen Welt entlehnten Maßstabe gemessen werden dürfe. Es ist klar, es hat sich den Jüngern des Johannes das Bild Jesu im Verlauf seines prophetischen Wirkens schon getrübt und es ist nicht anzunehmen, daß die Weisung Jesu sie von ihrer Verblendung geheilt hat, zumal da wir später eine ähnliche Verdunkelung bei ihrem Meister selber finden. Als nämlich die Jünger des Johannes ihrem gefangenen Meister die Werke Christi erzählen, sendet dieser zwar seine Jünger an Jesum und läßt ihn fragen: „bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines Anderen warten“ (s. Matth. 11, 2. 3)? Diejenigen, welche sich künstlich des Gedankens zu erwehren suchen, daß Johannes diese alternative Frage aus seiner eigenen Seele gestellt habe, verschließen sich selber den Blick in die Tiefe des Wirkens Jesu, aus Furcht, dem Johannes zu nahe zu thun, und vereiteln damit den Zweck, um dessen willen diese evangelische Erzählung geschrieben ist. Ein wankendes Rohr, das der Wind hin und her wehet, ist Johannes mit dieser zweifelnden Frage nicht geworden, denn er beharret dabei, daß der, von welchem er gezeuget hat, der ist, der über die Hauptfrage der Gegenwart allein und endgültig Aufschluß geben könne, an ihn und an keinen Anderen wendet er sich mit seiner Frage. Diejenigen, welche wankend werden, wenden sich anderen Meistern zu mit ihren Fragen, nämlich solchen, von denen sie die ihnen zusagenden Antworten erwarten dürfen. Das ist die traurige Gestalt des wankenden Rohres, wie wir sie alle Tage in unserer Mitte finden können. Einem solchen Rohr gleicht Johannes auch jetzt nicht. Aber allerdings fragt er jetzt und zeugt nicht, wie früher, von dem Gekommenen, sondern denkt und spricht aus die Möglichkeit eines Anderen, der kommen soll. Wenn man dies in der Seele des Johannes völlig undenkbar findet, so hat man sich noch niemals die Kluft zwischen der ersten Ankündigung des Kommenden einerseits, wie sie namentlich der Geburt und der ganzen Stellung des Täufers zu Grunde liegt, und der damaligen Gegenwart Jesu andererseits klar gemacht, und somit die eigentliche Wahrheit und Wirklichkeit des Lebensganges Jesu noch niemals verstanden, was schließlich darin begründet fein muß, daß man die ganze Tiefe der Sünde noch nicht erkannt hat. Jesus ist angekündigt als der Sohn Davids unter den Lobgesängen auf den Gott Israels, der die Gewaltigen von ihren Thronen stürzt und die Niedrigen erhöhet (s. Luk. 1, 52), der sein Volk errettet aus der Hand der Feinde und Hasser, auf daß Israel, wie zur Zeit der Erlösung aus Aegypten befreiet aus der Gewalt der Widersacher, seinem Gott dienen könne ohne Furcht (s. Luk. 1, 68. 75). Nun ist er da der Gesalbte und als der Sohn Gottes Erwiesene, und siehe, in der äußeren Lage des Volkes Israel ändert sich nicht das Allermindeste, ja Johannes eben muß es erfahren, daß es schlimmer steht, denn je zuvor. Er, der treue Zeuge Gottes, der Erste nach vierhundertjährigem Verstummen der himmlischen Stimme ist in der Hand des ehebrecherischen Idumäers, der einen Theil des israelitischen Landes inne hat, und sein Weib sinnt auf Gelegenheit, ihn zu tödten (s. Marc. 6, 19). Während Elia sein alttestamentliches Vorbild dem Haß des Königs Ahab und den Nachstellungen der Königin Isabel entrinnt, ja während dieser seinen mächtigen Feinden ein Schrecken ist, muß er als der höhere Elia im Kerker des Herodes schmachten und kann jeden Augenblick aus der Hand der ergrimmten Herodias den Tod erwarten. Jesus zieht hin und her durchs Land, lehret und verrichtet Wunder, aber den Bestand der öffentlichen Verhältnisse rührt er mit keinem Finger an und um den himmelschreienden Widerspruch zwischen der Treue des gottgesendeten Zeugen und seiner Gefangenschaft und drohenden Todesgefahr scheint er sich gar nicht zu bekümmern. Es gab nur eine Erwägung, welche im Stande gewesen wäre, diese Disharmonie, welche die Seele des Täufers durchdrang, aufzulösen, es war der Gedanke, daß die Sünde der Welt, welcher sich Jesus als das Lamm Gottes unterstellt hatte, sich so tief und durchgreifend erweist, daß auch für das Handeln des Sohnes Gottes in der äußeren Sphäre der öffentlichen Dinge zuletzt keine Stelle und keine Möglichkeit mehr übrig bleibt und demnach nur ein innerliches Handeln beim Erleiden der äußeren Gewalt, also ein Erleiden des Todes durch die äußere Gewalt der Welt möglich ist. Das ist der Gedanke, der im prophetischen Schauen wohl hier und da aufblitzt, aber die Gestalt und Kraft wirklicher d. h. erfahrungsmäßiger Erkenntniß kann dieser Gedanke erst erlangen in der Seele Jesu Christi; weil Niemand außer ihm und vor ihm weiß, welch eine Macht der Liebe, der Heiligkeit und Weisheit in ihm ruht, und daher auch Niemand wissen kann, was die wirkende Kraft Jesu Christi in der Welt der Sünde auszurichten vermag. Diese Erkenntniß, daß die Macht der Weltsünde nur durch das Blut des eingeborenen Sohnes Gottes überwunden wird, wie sie in. dem Geiste Jesu Christi geboren und vollendet ist, wird durch denselbigen Geist nur denen mitgetheilt, welche durch die Versöhnung und Erlösung in dem Blute Jesu das neue Leben empfangen haben. Zu diesen aber gehört Johannes der Täufer noch nicht, er ist der Größeste in der Welt des alten Lebens, der Größeste unter allen vom Weibe Geborenen, aber der Kleinste im Himmelreich ist größer denn er (s. Matth. 11, 11). Das ist die Berechtigung der Frage des Johannes, der höchste Repräsentant der alten Welt wirft diese Frage auf, weil in der gesammten Weisheit der alten Welt keine Antwort auf diese Frage zu finden ist (s. 1 Kor. 1,20. 21), er bringt die Frage aber an den, der sie allein zu lösen im Stande ist, weil in ihm das Geheimniß der neuen Welt beschlossen ist. Freilich kann Jesus die vollständige Lösung noch nicht geben, weil das Geheimniß seiner höchsten Liebe noch verborgen und noch nicht geschichtlich vollzogen ist. Aber er beruhigt den Täufer, indem er alle seine fragenden und zweifelnden Gedanken zusammenfaßt und wiederum auf seine allgenugsame Persönlichkeit zurücklenkt. Er verweist ihn auf seine Wunderwerke und fordert ihn auf, sich noch einmal in diese wunderthätige Offenbarung seiner Persönlichkeit zu versenken, woraus ihm dann wiederum die Gewißheit entstehen müsse, daß er der sei, welcher kommen sollte, hinsichtlich aber alles Weiteren sagt er hier das bedeutungsvolle Wort: „selig ist, der sich nicht an mir ärgert“; womit er das unbedingte Vertrauen für sich in Anspruch nimmt, welches auch dann Stand hält, wenn sein Verhalten und seine Erscheinung nicht immer den messianischen Erwartungen entspricht. Wir dürfen nicht zweifeln, daß dieser Bescheid des, Herrn dem Täufer in seiner Kerkerhaft zur Beruhigung genügt haben wird und er in dieser vorläufigen Lösung seiner zweifelnden Frage die Kraft gehabt haben wird, obwohl er von der Offenbarung des Reiches Christi Nichts weiter gesehen hatte, sein Haupt in schweigender Ergebung dem Schwert des Henkers hinzustrecken.

Eine andere Gruppe dieses näheren Kreises bildet die Maria, mit den Brüdern Jesu. Wir können hier nicht ausmachen, ob diese sogenannten Brüder Jesu nachgeborene Söhne der Maria oder ältere Söhne des Joseph, oder auch bloß Vettern Jesu gewesen sind, jedenfalls gehören sie dem Familienkreise Jesu an und treten während der galiläischen Wirksamkeit mit der Mutter Jesu aus. Von diesen Brüdern Jesu schreibt Johannes, „auch diese glaubten nicht an ihn“ (s. Joh. 7, 5). Aus dem Zusammenhang, in welchem diese Bemerkung vorkommt, können wir auch sehr wohl das Hinderniß ihres Glaubens erkennen. Sie verlangen nämlich von Jesu, er solle sich in Judäa offenbaren, und somit der Welt sich kund thun, indem sie seine Wirksamkeit in Galiläa für ein Handeln im Verborgenen ansehen (s. a. a. O. V. 3, 4). Da die Brüder nicht zu den boshaft Widerstrebenden gehörten, wir finden sie nach der Himmelfahrt in dem Kreise der Apostel (s. Apostelg. 1, 14), so wird es vornehmlich der fleischlich vermittelte Zusammenhang sein, in welchem sie zu Jesu stehen, was ihnen das Auge trübt, daß sie in der Gestalt des galiläischen Propheten die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater voller Gnade und Wahrheit nicht zu erkennen vermögen. Das äußerliche Verhältniß, in welchem sie zu ihm stehen, läßt uns um so eher übersehen, daß es noch ganz und gar an den nothwendigen Bedingungen in Israel fehlte, wenn Christus seine königliche Machtvollkommenheit in Jerusalem und Judäa entfalten wollte, deshalb erkennen sie auch nicht, daß Jesus für die Errichtung seines Reiches nichts Wirksameres thun könne, als an der Herstellung jener fehlenden Bedingungen zu arbeiten, was eben der Sinn seiner galiläischen Thätigkeit ist. In der Mitte dieser Brüder Jesu, welche an seiner galiläischen Verborgenheit Anstoß nehmen, erscheint Maria, die Mutter Jesu (s. Matth. 12, 46. Marc. 3, 31). Sollte auch diese reine und keusche Seele, welche als Mutter des Heiligen von sich selber rühmen darf: „mich werden selig preisen alle Geschlechter,“ sollte auch diese Hochbegnadigte von der Macht einer ähnlichen Verdunkelung ergriffen worden sein? Indem wir dieses zugeben müssen, beugen wir uns nur im Namen der Menschheit vor der Tiefe der göttlichen Geheimnisse in der Offenbarung Jesu Christi. Also selbst das Auge der Maria ist nicht rein und scharf genug, um den Heiligen, den ihr Leib getragen, den ihr Mund sprechen gelehret, auf der Bahn seiner galiläischen Thätigkeit mit voller Sicherheit in seiner göttlichen Würde und Herrlichkeit zu erkennen? In der That können wir uns, diesem Gedanken nicht entziehen, wenn wir Folgendes lesen: „es kamen herzu seine Mutter und seine Brüder und draußen stehend sandten sie zu ihm, ihn zu rufen, denn sie wollten ihn sprechen. Und rings um ihn saß das Volk. Sie aber sagten zu ihm: siehe, deine Mutter und Brüder sind draußen und suchen dich; und er antwortete ihnen und sprach: wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und indem er ringsum überschaute, die um ihn saßen, sprach er: siehe da meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes thut, dieser ist mein Bruder, meine Schwester und Mutter“ (s. Marc. 3, 31-35. Matth. 12, 46-50). Denn wie kommt Jesus zu dieser scharfen Gegenüberstellung seiner leiblichen Verwandtschaft, die als anwesend aber draußen stehend allen Zuhörern kund geworden war, zu seiner geistlichen Jüngerschaft, wenn er nicht eben das sagen wollte, daß es in dem Kreise seiner leiblichen Verwandtschaft an dem vollen Eingehen in den göttlichen Willen fehlte? Auf dem dunkelen Hintergrunde dieses Tadels, der auch die Maria trifft, erhebt sich die wunderbare Liebe und Göttlichkeit Jesu um so herrlicher. Indessen vergessen wir nicht, daß wir auch diesen Umstand geschichtlich zu betrachten haben, und also uns des Resultates nicht eher und nicht anders erfreuen dürfen, als nachdem wir das Werden desselben auf seinem eigenen Gebiete angeschaut haben.

Wir haben uns vorgenommen, den Erfolg der galiläischen Thätigkeit Jesu uns zu vergegenwärtigen: wir wissen, daß Jesus erkannte, für die Aufrichtung seines Königreiches fehle es in seinem Volke an den nothwendigen Grundlagen. Diese Grundlagen durch die Macht seines göttlichen Geistes zu schaffen, hat er Galiläa zum Schauplatz seines prophetischen Wirkens erwählet. Was der Ausgang dieser Thätigkeit bei dem galiläischen Volke gewesen, haben wir oben gesehen, jetzt ist uns klar geworden, daß auch Johannes der Täufer einer Zurechtweisung bedarf, um sich nicht an dem galiläischen Wirken Jesu zu ärgern, und daß selbst Maria, Jesu Mutter, einem empfindlichen Tadel nicht entgeht, weil sie sich über ihren Sohn andere Gedanken macht, als es dem Willen Gottes gemäß war. Wir müssen in Johannes und Maria die beiden Ausläufer der gesammten alttestamentlichen Geschichte und Vorbereitung erkennen, in diesen Beiden stellt sich das reinste Resultat aller Gottesführung mit seinem Volke dar, in Johannes die männliche Seite, in Maria die weibliche. Und was erreicht Jesus bei diesen Beiden durch seine Arbeit, in welcher er die mangelnden Bedingungen und Grundlagen für die Aufrichtung des Reiches, auf welches das Volk Israel angelegt ist, herstellig macht? Beide ärgern sich an seinem Thun und Wirken und können nur durch scharfe Worte wieder zurechtgebracht werden. In solche Tiefen muß man hineinschauen, in solchen Tiefen muß man verweilen, um den vollen Begriff von der Verderbtheit des menschlichen Geschlechtes zu gewinnen. In solchem Stück lebendiger Geschichte ist weit mehr fruchtbare Lehre über die verderbte Natur des Menschen, als in dem ganzen Lehrstück der Schuldogmatik über die Erbsünde. Und solchen Erfahrungen gegenüber muß man sich in das Gemüth Jesu versenken und sich fragen, was Jesus solchen Wahrnehmungen gegenüber zu empfinden und zu tragen gehabt hat, dann gewinnt man erst einen faßlichen, behaltbaren und wirksamen Eindruck von dem Leiden seiner Liebe, während die dogmatistische Lehre von seinem Versöhnungstode künstliche Gedanken vorhält, die mit unserem Seelenleben niemals Eins werden wollen.

Dem widerstrebenden Volke gegenüber konnte Jesus sich auf seine vertrauteren Kreise zurückziehen; der Maria und den Brüdern gegenüber konnte er sich, wie wir gesehen, auf die Umgebung und Begleitung seiner Jünger berufen. Wie steht es nun mit den Jüngern, insonderheit mit den zwölf Aposteln? Hat denn Jesus wenigstens so viel erreicht, daß, während bei allen Anderen seine Arbeit und Liebe unverstanden bleibt, in diesem erwählten Kreise durch ein um so helleres und kräftigeres Verständniß ihm Ersatz gegeben wird? Allerdings haben wir die Freude, zu sehen, daß sich die Erwählung Jesu all den traurigen Erfahrungen gegenüber während seiner galiläischen Periode in diesem engsten Kreise auf unzweideutige Weise vor unseren Augen bewährt. Nachdem die Juden in der Synagoge zu Kapernaum mit Jesu gezankt und sogar viele seiner Jünger das tiefste Wort von seiner Liebe für eine harte Rede erklärt und sich von ihm abgewandt haben, stellt der Herr an die Zwölf die Frage: „wollt ihr nicht auch weggehen?“ (s. Joh. 6, 67). Wir können das Gewicht der Antwort auf diese Frage erst dann verstehen, wenn wir die Bedeutung der Frage selbst uns klar gemacht haben. Die Frage selbst aber verstehen wir erst dann, wenn wir uns von einem jetzt herrschenden Vorurtheil gründlich frei gemacht haben oder vielmehr wenn wir das helle Licht dieser Frage in die Finsterniß dieses herrschenden Vorurtheils haben hineinfallen lassen. Es gibt nämlich in unseren Tagen Viele, welche die Höhe und den Eifer ihres Christenthums dann suchen, daß sie im Namen Christi den Zwang empfehlen, ja sie sind so fanatisch verblendet, daß sie sich, wenn der Staat aus besserer Einsicht das unnatürliche Joch eines Zwanges in Glaubensangelegenheiten zu erleichtern beginnt, einem solchen erfreulichen Beginnen mit leidenschaftlichem Ungestüm entgegenstemmen. Und doch hat schon vor fünfzehn Jahren der Schriftgelehrteste unserer gegenwärtigen Theologen aus den Schriften der Propheten und Apostel den Beweis geführt und es ausdrücklich ausgesprochen, daß der christliche Staat eine Lüge sei, und was seitdem auf dem Gebiete des öffentlichen Lebens in Deutschland geschehen, ist für Alle, welche Augen zu sehen und Ohren zu hören haben, ein unmittelbarer Beleg für diese Behauptung. Aber mehr als alles Andere schlägt die oben erwähnte Frage Christi diese unverständigen und blinden Eiferer. Diese Frage des Herrn haben sie nie erwogen und in ihren tiefen lebensmächtigen Grund haben sie nie hineingeschaut. Denn hier zeigt sich ganz klar und deutlich, daß Jesus für sein Reich jeden Zwang und jede Knechtschaft verabscheut, mitten in dem allgemeinen Abfall ruft er die Frage: „wollt ihr nicht auch gehen,“ in den kleinen Haufen, der noch bei ihm geblieben, hinein. Es ist ihm nicht genug, daß sie sich aus freien Stücken ihm angeschlossen haben, er will kein anderes Bleiben bei ihm, als welches immerdar auf voller Freiheit ruht. Daraus muß doch jeder Denkende ersehen, daß Jesus kein anderes Reich will, als wo der Zwang aufhört, und daher, wo der Zwang anfängt, sein Reich ein Ende hat. Selbst auf die Gefahr hin, daß auch seine Treuesten ihn verlassen, und er in der ganzen weiten Welt wiederum einsam wird, wendet er sich in einem verhängnißvollen Augenblick ohne Locken und Schrecken rein und lauterlich an die freie auf sich selbst ruhende Entscheidung. Schlagender kann es nicht dargethan werden, daß Jesus keine Knechte und Miethlinge in seinem Reiche duldet und daß Jeder, der in seinem Reiche wirken und dasselbe ausbreiten will, seine Seele zu reinigen hat von allen Trübungen, in welche christliches Wesen und Leben durch Vorurtheile und Gewohnheiten, die aus dem Weltleben, das des Zwanges nicht entrathen kann, herstammen, hineingerathen ist. Jesus zeigt sich hier als die persönliche Freiheitsmacht, welche der geknechteten und „bedrängten Welt“ erschienen ist, und aus diesem tiefen göttlichen Grunde seiner Persönlichkeit will er in seiner Gemeinschaft Nichts dulden, als was sich ihm in freier Entscheidung zuwendet und in freier Entscheidung bei ihm ausharrt, damit er den Anfang der Freiheit, der von seiner Selbstdarstellung in der Tiefe der Seele geweckt wird, durch sein Wirken und Leiden zu einer selbstständigen Macht der Freiheit, die dann wieder in Anderen die Freiheit wirken und vollenden könne, erhebe. Entsetzen sollten sich daher jene Fanatiker des christlichen Staates, jene Lobredner des Glaubenszwanges, denn es muß ihnen ans dieser Frage Jesu klar werden, daß sich ihnen das heilige Bild des wirklichen und lebendigen Christus ganz verzerrt hat. Und wenn es uns sonst noch nicht deutlich geworden wäre, so müssen wir es hier erkennen, daß es in unserer Zeit kein tieferes Bedürfniß gibt, als dieses, daß das heilige Bild Christi von seinen ihm durch Vorurtheil und Gewohnheit angehefteten Entstellungen gereinigt und in seiner Ursprünglichkeit, wie es die Evangelisten gezeichnet haben, wiederhergestellt werde. Wer dieses Bild der persönlichen Grundmacht aller Freiheit, die in der Seele der Menschheit angelegt und vorhanden ist, angeschaut und in sich aufgenommen, der mag ermessen, wie verdüstert und verwirrt, wie armselig und freudenleer, wie ohnmächtig und verzagt eine Seele sein muß, die in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts nach so vielen traurigen und trostlosen erfahrungsmäßigen und offenkundigen Ergebnissen des Staatskirchenthums sich ängstlich und krankhaft sehnt und umsieht nach der Hülfe des weltlichen Armes, um kirchliche Ordnungen auch da aufrecht zu halten, wo der erklärte Gegensatz gegen die Kirche Bestand gewonnen hat. Aber auch den Vertretern der Freiheit des Unglaubens muß das Bild Jesu, wie es uns hier entgegentritt, zur Beschämung und Belehrung vorgehalten werden. Diese bilden sich ein, als ob die Freiheit, welche sie verlangen, ein Product des natürlichen Ganges der menschlichen Bildung sei, sie müssen aber wissen, daß die inhaltsleere Freiheit, für welche sie schwärmen, überall gar keine Geschichte besitzt und überhaupt gar keine geschichtliche Potenz ist, sondern ein bloßer Schatten, dessen Körper die Erscheinung und Offenbarung der Freiheit Jesu Christi ist. Sie mögen ihren Schatten genau ansehen, dann werden sie Umrisse finden, denen weder Sokrates, weder Galilei, noch Rousseau entspricht, sondern allein der Name dessen, vor dem alle Knie sich beugen sollen und auch diejenigen, welche in der Negation des Glaubens die Freiheit zu besitzen vermeinen.

Jene Gegner der Freiheit um des Christenthums willen und diese Gegner des Christenthums um der Freiheit willen, sie alle Beide sollen sich merken, wie sich der apostolische Glaube aus dem Munde des Petrus vernehmen läßt. Petrus antwortet auf die Frage Jesu im Namen Aller: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Worte des ewigen Lebens hast du und wir haben geglaubt und erkannt, daß du bist Christus der Sohn Gottes“ (s. Joh. 6, 68. 69). Eine solche Kraft und Entschiedenheit des Bekenntnisses kann die Staatskirche mit allen ihren Hülfen und Mitteln nie erzielen, weil sie wohl für das Ja des Bekenntnisses, aber nicht für das Nein desselben einen Raum hat. Weil die Staatskirche oder der christliche Staat die Macht der Freiheit nicht kennt und nicht liebt, denn ihm graut davor, und „Furcht ist nicht in der Liebe,“ so sind alle seine Bekenntnisse ohne Ausnahme verdächtig und die allermeisten derselben weisen sich auch bald als leere Worte aus, und diejenigen Bekenntnisse, welche sich bewähren sollen, müssen zuvor aus dem Geiste der Freiheit, die in Christo Jesu ist, welcher Geist allein das trübende und hemmende Element, das allem Zwange anhaftet, hinwegnimmt, gestärkt und geläutert sein. Das Beispiel des Petrus beweist, daß das wahre Bekenntniß, wie es von der Freiheit hervorgerufen wird, ebenso aus dem Geiste der Freiheit geboren wird und eben deshalb auch nur in der Atmosphäre der Freiheit leben kann und will. Wer also das Bekenntniß will und nicht die Freiheit, der will im Grunde ein anderes Bekenntniß, als welches Jesus fordert und Petrus ablegt, und wenn auch die Formel bleibt, das Wesen ist verfälscht. Umgekehrt ist es mit der anderen Seite. Diejenigen, welche das Bekenntniß nicht wollen um der Freiheit willen, mögen aus dem Beispiel des Petrus lernen, daß sie die wahre Freiheit noch gar nicht kennen. Petrus hat seine Freiheit bewährt vor dem jüdischen Synedrium und vor dem römischen Kaiser. Diese Probe der Freiheit wird Keiner bestehen unter denen, welche die Freiheit wollen, aber nicht das Bekenntniß des Petrus.

Dies Alles zeigt uns, daß Jesus hier nach voraufgegangener schmerzlicher Erfahrung einen reinen Erfolg seines Wirkens geerntet hat. Aber weil er in keiner Freude über einen Erfolg, sich einer Selbsttäuschung hingibt, so bleibt auch dieser Freude über das Bekenntniß der Zwölf ein bitterer Tropfen beigemischt. Die durch solches Bekenntniß eingetretene freie Aussonderung und Scheidung der Zwölf von allen Uebrigen ist nicht ganz ungetrübt. Das spricht Jesus aus in der schmerzlichen Klage: „habe ich nicht eurer Zwölf erwählet und Einer unter euch ist ein Teufel?“ Dieselbe Mischung von Freude und Schmerz erkennen wir auch in den anderweitigen Zügen, welche uns einen günstigen Erfolg Jesu in seinem erwählten Kreise aufweisen. Als die Siebenzig zurückkehrten und mit Freuden berichteten: „Herr, in deinem Namen sind uns auch die Teufel unterthan“ (s. Luk. 10,17), sagt Jesus: „ich sahe den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel gefallen,“ und will allem Anschein nach damit aussprechen, daß er in den Thaten seiner Jünger die Fortsetzung des Sieges erkennt, den er im Anfange seiner Laufbahn über den Widersacher errungen hat, und wie er schon den völligen Sturz des Feindes von seinem weltmächtigen Thron in dieser Verbreitung seiner Siegesmacht erkenne. Aber er fühlt sich doch gedrungen, den erfreuten Jüngern die Warnung auszusprechen: „freuet euch nicht darüber, daß die Geister euch unterthan sind, freuet euch vielmehr, daß eure Namen im Himmel angeschrieben sind“ (s. Luk. 10, 20), aus welcher Warnung deutlich genug hervorgeht, daß Jesus die Freude der Jünger noch nicht völlig lauter findet. Indessen immerhin war diese Botschaft der Jünger eine Freudenstunde für Jesus in seiner galiläischen Wirksamkeit, und wir sollen es uns merken, daß Lukas ausdrücklich berichtet, in dieser Stunde habe sich Jesus im Geiste gefreuet und den Vater, den Herrn Himmels und der Erde gepriesen, daß er die Geheimnisse den Weisen und Verständigen verborgen, dagegen den Unmündigen geoffenbaret habe (s. Luk. 10, 21). Unter den Unmündigen meinte er ohne Zweifel vorzugsweise seine Jünger, die schlichten, geraden, nicht in die Labyrinthe der Verbildung verstrickten Männer, denn zu ihnen insonderheit gewendet, sprach er: „selig sind die Augen, welche sehen, was ihr sehet, denn ich sage euch: viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr sehet, und haben es nicht gesehen, und hören, was ihr höret, und haben es nicht gehöret (Luk. 10, 23.24), Die Freude erweitert Jesu das Herz und öffnet ihm den Mund gegen Gott und Menschen. Wir sehen daraus augenscheinlich, was sich freilich von selbst verstehen sollte, aber dennoch durch die ungeschichtliche Auffassung des Lebens Jesu Vielen unter uns immer wieder verdunkelt wird, daß Jesus nicht mit kaltem, unbeweglichem Herzen durch die Welt gegangen ist, daß, wie wir uns immer wieder einprägen müssen, seine Geschichte vor Allem in dem Grunde seiner Seele vorgeht und sie hier zuerst verstanden werden muß, wenn wir ihre äußere Gestalt richtig auffassen wollen. Vornehmlich ist es aber wichtig, seine Freude nicht unbeachtet zu lassen, weil wir nur dann den richtigen Standpunkt gewinnen, um die Schmerzen seiner leidenden Liebe, dieser Hauptmacht seines Wirkens, zu verstehen.

Jetzt begleiten wir Jesum mit seinen Zwölfen nach Cäsarea Philippi am oberen Jordan im hohen nördlichen Gebirgslande in der Nähe des alten Dan, welches die alttestamentliche Schrift als die nördliche, Grenzmark des Landes zu nennen pflegt. Am unteren Jordan hat der Herr seine ersten Jünger in seine Gemeinschaft aufgenommen mit der Einladung: „kommet und sehet,“ inzwischen haben sie ihn begleitet durch alle Theile des Landes, sie haben ihn geschauet und gehöret in den verschiedenen Lagen des äußeren und inneren Lebens. Jetzt mit ihnen weilend in der nördlichsten Gebirgslandschaft, von wo der Jordan hinabfließt in den galiläischen See bis hinunter nach Betanien, wo Johannes taufte und Jesus die erste Gemeinschaft gründete, überschaut er den ganzen Kreislauf seines Wandelns mit den Jüngern und es wird ihm klar, daß er zu einem vorläufigen Abschluß mit ihnen gekommen sei. In diesem Bewußtsein stellt er eine zusammenfassende Prüfung mit ihnen an. Denn wir wissen, daß er es von Anfang an auf die Bildung ihres Selbstbewußtseins angelegt hat. Jetzt begehrt er Rechenschaft über das, was sich in ihnen durch seinen Umgang gestaltet hat. Er beginnt mit der Frage: „für wen halten die Menschen des Menschen Sohn“ (s. Matth. 16, 13)? Die Jünger berichten die verschiedenen Ansichten derer, welche in Jesum den göttlichen Beruf erkannt haben, und ohne Zweifel ist dies der Eindruck der Allermeisten, diejenigen, welche ihm das Göttliche absprachen, waren in solch verschwindender Minderheit, daß die Jünger nicht nöthig finden, diese offenbar feindliche Ansicht von Jesu zu berücksichtigen. Nachdem nun Jesus sich überzeugt hat, daß die Jünger von den herrschenden Ansichten hinsichtlich seiner Person eine Kunde haben, tritt er mit der Hauptfrage hervor: „ihr aber, was saget ihr, daß ich sei?“ Da antwortet Simon Petrus: „du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Dem Inhalte nach war dies dasselbe Bekenntniß, welches bereits Natanael am unteren Jordan abgelegt hatte (s. Joh. 1,50), welches auch Petrus selber in Kapernaum aus freien Stücken gesprochen hatte (s. Joh. 6, 64). Aber doch hat dieses Bekenntniß in dem gegenwärtigen Moment eine höhere Bedeutung. Durch die Antwort auf die erste Frage ist nämlich den Jüngern zum Bewußtsein gekommen, daß die Ueberzeugung von der göttlichen Messianität Jesu im ganzen Volke keine namhaften Vertreter hat, daß sie sich weder in der Masse des Volkes findet, noch auch bei den hohen Auctoritäten, sie wissen, daß, was Derartiges hie und da einmal aufgetaucht ist, ebenso schnell und spurlos wieder verschwand; sie wissen sich also mit ihrer Ueberzeugung von Jesu im Gegensatz zu der ganzen Volksmeinung. Man erwäge, was das sagen will in einer Angelegenheit, in welcher eine ganze Weltanschauung eingeschlossen war und das unter einem Volke, wo Herkommen und Einstimmigkeit in religiösen Dingen eine Macht und Bedeutung hatte, wie in keinem anderen. Wenn wir dies erwägen, so werden wir begreifen, daß Jesus auf dieses Bekenntniß zu Cäsarea Philippi ein entscheidendes Gewicht gelegt hat. Jesus entgegnet nämlich dem bekennenden Petrus: „selig bist du, Simon, Sohn des Johannes, denn Fleisch und Blut hat es dir nicht geoffenbaret, sondern mein Vater im Himmel.“ Darin, daß sich Petrus in einer solchen Sache, die seine ganze Lebensstellung bedingte, von innen heraus entschied gegen die Ansicht der Meisten und der Höchsten in seinem Volk, hat Jesus die Gewißheit, daß diese Erkenntniß, welche Petrus ausgesprochen, ihm auf Keinerlei äußerliche Weise vermittelt ist, sondern ihm von dem himmlischen Vater mitgetheilt und versiegelt worden. Sobald aber Jesus erkannt hat, daß durch seine Selbstoffenbarung in Petrus der Anfang eines göttlichen Grundes gelegt ist, enthüllt er sofort seine innersten Gedanken und letzten Absichten. Es ist, als ob er schon lange sich nach dem Augenblick gesehnt habe, in welchem er die ganze Tiefe dessen, was ihn in Ansehung seiner Jünger erfüllte, aussprechen dürfte. Er fährt nämlich fort: „und ich sage dir, du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen, und geben werde ich dir die Schlüssel des Himmelreiches, und was du binden wirst auf Erden, das wird im Himmel gebunden, und was du lösen wirst auf Erden, das wird im Himmel los sein.“ Wir erinnern uns, daß Johannes der Evangelist von Glaubenden erzählt, denen Jesus sich nicht anvertraute, hier ist ein Glaubender und Bekennender, dem er das Höchste und Wichtigste anvertraut, er macht ihn zum Felsengrund seiner Gemeinde und erfüllt damit die weissagende Verheißung, die er an seinen neuen Namen geknüpft hatte, als er ihn zum ersten Male sah (s. Joh. l, 43), er übergibt ihm die Verwaltung derjenigen Schlüssel, deren Gewalt über Erde und Himmel, über Zeit und Ewigkeit entscheidet. Mit einem Wort, sobald Jesus in dem Simon den göttlichen Ueberzeugungsgrund seines Bekenntnisses zu ihm erkannt hat, behält er Nichts mehr für sich, sondern übergibt ihm, was in ihm selbst ursprünglicher- und ewigerweise gegründet ist, auf daß er es in der Kraft des göttlichen Geistes und damit frei und in persönlicher Selbstständigkeit verwalte und vollende. Indem er hier zum ersten Mal seine Gemeinde nennt und ihre Siegesmacht beschreibt, gibt er zu verstehen, daß er es mit seiner Gemeinde auf dieselbe in dem göttlichen Geiste ruhende Selbstständigkeit abgesehen hat, welche er dem Petrus, diesem von ihm zu legenden Felsengrunde der Gemeinde, verheißt.

Sowie das Bekenntniß des Petrus auf der nördlichen Hochwarte des galiläischen Landes Abschluß ist für die bisherige Bildung des Jüngerkreises, so wird dasselbe andererseits zu einer Höhe, von welcher herab der Herr in freudiger, wunderbarer Zuversicht die Zukunft seines Werkes überschaut und dieselbe bis an ihre äußersten Grenzen mit wenigen großen Strichen kennzeichnet. Das freudige Wort des Herrn an den Petrus ist uns die Besiegelung der Wahrnehmung, daß wir hier auf die Höhe des gesammten Erfolges gekommen sind, den Jesus während seines galiläischen Wirkens erreicht hat. Aber so gut ist es unserem Herrn nicht geworden, daß er sich dieses Erfolges nur rein hätte freuen dürfen. Zuerst beachte man, daß Jesus in Ansehung aller Erweiterung und Vollendung seines Werkes sehr bestimmt von der Zukunft redet, „ich werde bauen,“ „ich werde dir geben,“ spricht er und deutet damit an, daß, was auch immer Göttliches schon in ihm sei, doch dieses ihn noch nicht so durchdrungen habe, daß Petrus sofort in seine Bestimmung für das große Werk der Zukunft eintreten könne. Ferner führt uns das auf die Annahme eines in dem Kreise der Zwölf noch vorhandenen Mangels, daß Jesus ihnen auch jetzt noch verbietet, ihre Ueberzeugung, daß er der Christ sei, weiter zu verbreiten (s. Matth. 16,20). Offenbar hält der Herr die Selbstständigkeit ihrer Ueberzeugung von seiner göttlichen Würde noch nicht für gereift genug, daß sie dieselbe in ihrer vollen Reinheit und Kraft schon weiter verpflanzen könnten. Aber es bleibt leider nicht bloß bei der Wahrnehmung einer noch vorhandenen Lücke in der Erkenntniß der Jünger; ein jäher Fall von der Höhe, auf welcher wir Petrus gesehen haben, erfolgt kurz nach dem großen Bekenntniß des Apostelfürsten.

Von dem eben bezeichneten Zeitpunkte an begann Jesus den Jüngern sein bevorstehendes Leiden und Sterben zu zeigen (s. Matth. 16, 21). Theils wurde die Nothwendigkeit dieses leidentlichen Ausganges vor den Geistesaugen Jesu immer klarer, je mehr er die Erfolglosigkeit seines handelnden Wirkens in der Gesammtheit des Volkes überschaute, theils hoffte er in dem nunmehr offenbar gewordenen Anfange eines festen Glaubens in dem Herzen der Jünger einen genügenden Anhalt zu besitzen, um sie nunmehr in das Geheimniß seines Leidens einführen zu dürfen. Aber es zeigt sich sofort, daß Petrus, der in dem galiläischen Propheten den Sohn des lebendigen Gottes erkannt hatte, weit entfernt war, das Leiden Jesu verstehen zu können. Eine gewaltige Scene eröffnet sich vor unseren Augen. Petrus, nachdem er die Rede des Herrn von seinem Leiden vernommen, macht sich an ihn heran, faßt ihn und fängt an, ihm drohend zu bedeuten: „Herr, schone dein, und solches widerfahre dir nicht.“ Die Liebe des Herrn hat es in der Gemeinschaft mit den Seinen auf freie Gegenseitigkeit abgesehen, seine himmlische Heiligkeit und Majestät kleidet sich in die Gestalt wahrer Demuth und Sanftmuth und darum schrecken ihre Strahlen die Jünger nicht. So erklärt sich die Unbefangenheit, in welcher alle Jünger, den Verräther ausgenommen, mit Jesu verkehren. Der höchste Grad dieser Unbefangenheit kommt in diesem Verhalten des Petrus zu Tage. Er war sich seiner Liebe und Anhänglichkeit für seinen Herrn und Meister bewußt, und mochte wohl denken, daß je ausgemachter ihm nunmehr seine göttliche Sohnschaft und Messianität geworden, ihm, dem Bekenner, die Sorge um Erhaltung dieses unvergleichlichen Lebens nur um so besser anstehe. Aber Eins hat Petrus nicht bedacht, nämlich daß es Etwas gibt, das auch der Gottessohn durch Leben und Wirken nicht ausrichten könne, sondern nur durch Leiden und Sterben, und daß dieses eben jetzt immer deutlicher zu Tage tritt und demnach, was Jesus hier aussagt, für Petrus nichts Anderes sein sollte, als das feierliche Gelübde, das heilige und große Ziel seines Lebens, welches durch sein Wirken nicht hatte erreicht werden können, vermittelst seines Todesleidens um so sicherer zu gewinnen. Da aber Petrus für diese eigentliche große Hauptsache in der Rede Jesu weder Verstand noch Gefühl hat, so ist sein dreistes Vortreten Nichts, als die Aeußerung einer natürlichen Gutmüthigkeit, welche, indem sie sich lediglich von den Rücksichten des leiblichen Lebens bestimmen läßt, in geistlichen Dingen blind bleibt und daher nirgends weniger angebracht ist, als hier, wo es sich darum handelt, daß die heiligste Natur, welche vorhanden ist, der Leib Jesu, zur Gewinnung der ewigen Güter in den Tod gegeben werden muß. Von der Höhe seiner göttlichen Erkenntniß ist Petrus herabgesunken auf das Niveau der allgemein menschlichen Betrachtung und in solcher Oberflächlichkeit stehend wagt er es, seinem Herrn in seinem heiligsten Entschlusse entgegenzutreten. Jetzt erfahren wir, daß der Herr bei aller Herablassung und Freundlichkeit gegen die Seinen doch weit entfernt ist von einer weichlichen und schwächlichen Nachgiebigkeit. Der noch eben von ihm so hoch gepriesene und bevorzugte Petrus bekommt sofort seinen heiligen Unwillen über sein zudringliches, triviales Geschwätz in der heiligsten Angelegenheit der ganzen Welt ohne Schonung und Milderung zu fühlen. Jesus nämlich wandte sich zu Petrus und sprach: „hinter mich, Satan, denn ein Aergerniß bist du mir, denn nicht die Dinge Gottes hast du im Sinn, sondern die Dinge der Menschen.“ Wir aber lernen hier auf das Klarste, daß auch das Höchste, was der Herr bisher erreicht hat, der Glaube und die Erkenntniß des Petrus, nicht von der Art ist, daß er sich darauf verlassen kann, und damit wird es uns feststehen, daß Jesus in seiner galiläischen Wirksamkeit auch in Bezug auf seine Vertrautesten nicht über den Punkt hinausgekommen ist, den er selber gegen Ende dieser Periode so ausspricht: „wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch tragen?“ (s. Matth. 17,17). Hier faßt er seine Jünger mit dem ganzen Volk zusammen und bezeichnet das Ganze als ein ungläubiges und verkehrtes Geschlecht Alles also, was er in den Jüngern erreicht hat, ist immer noch kein selbstständiger, sich selbst tragender Grund, der sich allewege und immerdar von der verderbten Masse absonderte und heiligte, sondern er selber muß ihnen noch immerfort äußerlich zu Hülfe kommen, daß sie nicht wieder in das allgemeine Verderben des Unglaubens und der Verkehrtheit zurücksinken. Da nun aber das Werk Jesu eben auf die Herstellung eines solchen selbstständigen Grundes des neuen und heiligen Lebens angelegt ist, so hat Jesus ungeachtet der großen und herrlichen Erfolge, welche wir gesehen haben, nach diesem höchsten und allein entscheidenden Maßstabe gemessen, durch seine galiläische Thätigkeit Nichts erreicht.

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