Beste, Wilhelm - Wegweiser zum inneren Frieden - 10. Vom Tugendmachen.
„Ein Mensch kann Nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Himmel.“1) Ich kann nicht selbst die Sünde in mir ausrotten, kann mir nicht selbst die Gerechtigkeit einpflanzen. Ach, das Tugendmachen führt nur zu leicht zum Zerrbilde der Tugend. So hat Mancher mit der Gottseligkeit ein Gewerbe getrieben, ist als Sünderfreund umbergegangen unter den Verbrechern und hat sich doch im geistlichen Hochmut mehr gebläht, als die Kinder der Welt, welche den Verbrecher fliehen wie die Pest. Jedes himmlische Bild der Tugend hat sein höllisches Gegenbild, eine gänzlich misslungene Kopie mit einigen Schattenstrichen, welche mit dem Urbilde übereinstimmen, so: die Strenge in der Härte, die Festigkeit im Starrsinn, die Seelenruhe in der Gleichgültigkeit, die Güte in der Liebesweichlichkeit, die Weltüberwindung in der Weltflucht, die Demut in der Selbstwegwerfung; die Herablassung zu den Sündern sogar ein doppeltes: die Sündervertraulichkeit und den Hochmut auf die Demut. Nur der heilige Geist vom Himmel kann die unverzerrte Tugend in mir erzeugen und gestalten. Drum will ich fern von aller Tugendmacherei Dich mein Gott bitten: „Schaff in mir Gott ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist.“2) Schaffe mich neu nach Deinem Bilde, durch Christum, aus einem Guss, in einem Stück!