Baur, Gustav Adolph - Ist Christus unser Leben, so ist Sterben uns Gewinn.

Baur, Gustav Adolph - Ist Christus unser Leben, so ist Sterben uns Gewinn.

Am Todtenfeste. (25. Sonntage nach Trinitatis.)

Gelobet sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Todten, zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das behalten wird im Himmel! - Amen.

In Christo geliebte Gemeinde! Es ist vor wenigen Tagen erst von dieser Kanzel aus darauf hingewiesen worden, wie unsere liebe Jacobikirche im Laufe der letzten Wochen verschiedenen Festen die freundliche Stätte dargeboten hat. Zuerst hat die Jahresfeier der inneren Mission auf diejenigen uns hingewiesen, welche innerhalb der christlichen Gemeinde selbst durch äußere oder innere Gründe Gott und dem Erlöser entfremdet worden sind, und hat uns daran erinnert, wie es heilige Pflicht eines jeden lebendigen Christen ist, nachdem er sich selbst zu Christo bekehret hat, auch seine schwachen Brüder zu stärken. Dann hat uns die Jahresfeier der Heidenmission wieder den Befehl Christi eingeschärft: „Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehret sie halten Alles, was ich euch gesagt habe!“ - und gegen diesen ausdrücklichen letzten Willen unseres Herrn kann ja und darf ja kein menschliches Bedenken aufkommen. Und die Jahresfeier des Gustav-Adolf Vereins hat uns endlich hingewiesen auf die mannichfaltigen kirchlichen Nothstände, unter welchen unsere evangelischen Brüder in großer Zahl leiden und seufzen, und hat uns gemahnt, in rechter Samariterliebe Gutes zu thun an den bedrängten Glaubensgenossen, um ihnen eine freundliche kirchliche Herberge zu bereiten. Bei allen diesen Gelegenheiten nun, meine geliebten Freunde, hat sich uns ein Bild mannichfaltiger und großer, ja oft wahrhaft entsetzlicher Noth aufgethan; wie kommen wir doch dazu, unter solchen Gedanken noch eine festliche Feier zu begehen? Darum dürfen wir es thun, Geliebte, weil mit uns gegen solche Noth der Mann streitet, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen an das Licht gebracht hat. Jesus Christus ist es. der den armen Heiden, die noch in Finsterniß und Schatten des Todes sitzen, das Licht seines seligmachenden Evangeliums freundlich aufgehen läßt. Er gibt der suchenden Liebe die Leuchte in die Hand und heißt sie. in Hütten und in Palästen, in dem Kämmerlein der Armuth und in den Höhlen der Sünde suchen, was verloren ist. Er treibet uns an, denjenigen brüderliche Handreichung zu thun, welche an den äußeren Mitteln des kirchlichen Lebens einen schmerzlichen und verderblichen Mangel leiden. Und wenn seine Liebe, mit welcher er gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, auch unser Herz ergriffen hat, wenn wir die Hand gelegt haben an das Werk der Liebe, und wenn es unter feinem mächtigen Beistande auch Frucht gebracht hat; dann muß uns unser Herz auch treiben, daß wir wallen zum Hause Gottes, um zu frohlocken und zu danken mit dem Haufen, die da feiern. Ja, meine lieben Brüder und Schwestern, der Herr, dessen Namen ist: Wunderbar, Rath, Kraft, Held, Friedefürst, der versteht es, auch aus tiefer Noth Festesfreude hervorzurufen. Das zeigt sich am allerdeutlichsten an dem letzten Feste im Kirchenjahre, an dem Feste des heutigen Tages. Wir feiern an diesem letzten Sonntage des Kirchenjahres das Todtenfest, das Fest der Erinnerung an unsere lieben Heimgegangenen, zumal an die, welche in dem jetzt verstoßenen Jahre von uns haben scheiden müssen, und zugleich das Fest des ernsten Gedenkens daran, daß auch wir vier keine bleibende Stadt haben, sondern die zukünftige, die selige Gottesstadt des himmlischen Jerusalems, von welcher wir vorhin gesungen haben, suchen sollen. Aber weil der Herr, dem wir durch den Glauben angehören, dem Tode die Macht genommen und durch seine heilige Gotteskraft uns wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung und zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das da behalten wird im Himmel, darum wird auch dieser Tag der Todesgedanken uns zu einem Todten feste, zu einem Feste des ewigen Lebens und unzerstörbarer Freude. Und weil diese unzerstörbare Freude des ewigen Lebens, zu welcher die verlorenen und verirrten und bedrängten Brüder hingeführt werden sollen, doch am Ende auch das gemeinsame Ziel der Liebesthätigkeit der drei christlichen Vereine ist, welche ihre Jahresfeier in diesen Tagen hier begangen haben, darum schließt unser heutiges Todtenfest die Reihe dieser Feste gut ab. O daß wir doch heute uns recht Eins fühlen und Eins werden möchten mit dem, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen an das Licht gebracht hat!

Lied: 191, 1.
Jesus lebt, mit ihm auch ich!
Tod, wo sind nun deine Schrecken?
Er, er lebt und wird auch mich
Von den Todten auferwecken.
Er verklärt mich in sein Licht;
Dies ist meine Zuversicht,

Text: Matth. 9, 18-26.
Da er solches mit ihnen redete, siehe, da kam der Obersten einer, und fiel vor ihm nieder, und sprach: Herr, meine Tochter ist jetzt gestorben; aber komm, und lege deine Hand auf sie, so wird sie lebendig. Und Jesus stand auf, und folgte ihm nach, und seine Jünger. Und siehe, ein Weib, das zwölf Jahre den Blutgang gehabt, trat von hinten zu ihm, und rührete seines Kleides Saum an. Denn sie sprach bei sich selbst: Möchte ich nur sein Kleid anrühren, so würde ich gesund. Da wandte sich Jesus um, und sahe sie, und sprach: Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Und das Weib ward gesund zu derselbigen Stunde. Und als er in des Obersten Haus kam, und sahe die Pfeifer und das Getümmel des Volks, sprach er zu ihnen: Weichet! denn das Mägdlein ist nicht todt, sondern es schläft. Und sie verlachten ihn. Als aber das Volk ausgetrieben war, gieng er hinein, und ergriff sie bei der Hand; da stand das Mägdlein auf. Und dies Gerücht erscholl in dasselbige ganze Land.

Ihr sehet, meine geliebten Freunde, ich habe für unser heutiges Fest keinen besonderen Text gewählt, sondern will mich einfach an das Evangelium des heutigen Textes halten. Wie sollte auch nicht ein jeder längere Abschnitt aus den Evangelien uns Gelegenheit geben, Jesus Christus als den Todesüberwinder zu preisen? Und unser heutiger Text fordert uns ja ganz besonders dazu auf. Durch die beiden wunderbaren Thaten des Herrn, von welchen er berichtet, zeigt er uns, wie von dessen Kraft die rechte Hülfe ausgeht im Leben und im Sterben. So stelle ich denn an die Spitze meiner heutigen Todtenfestpredigt den Hauptsatz: „Wenn Christus unser Leben ist, so ist uns Sterben Gewinn.“ Wohlan, meine Lieben, laßt uns zuerst sehen, wie Christus unser Leben ist und werden muß, und wie uns dann zweitens auch Sterben Gewinn ist.

I.

Ein gewaltiges Buß- und Betlied unseres theuren Dr. Martin Luther beginnt mit den Worten: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tode umfangen.“ Das hatte das kranke Weib, von welchem unser Text erzählt, reichlich und schmerzlich erfahren. Denn was ist die Krankheit überhaupt anders, als ein Vorbote des Todes? Insbesondere aber ein so langwieriges, unausgesetztes, alle Lebenskraft lähmendes Siechthum wie das, von welchem dieses unglückliche Weib heimgesucht war - das muß uns ja gemahnen, als ob uns der Tod selbst schon mit seiner kalten Hand berührt und angefaßt hätte, um uns in langsamerem oder rascherem Gange hinzuführen zu seiner stillen und dunkeln Behausung. Es ist bei der Natur ihres Leidens nicht anzunehmen, daß diese Frau von ferne her werde gekommen sein, um die Hülfe des Herrn zu suchen; sondern sie wohnte wohl in Kapernaum, wo die Geschichte unseres heutigen Textes spielt. Dieß Kapernaum war aber, wie wir öfter gesehen haben, seine Stadt, d. h. die Stadt, welche Jesus vor andern zur Stätte seines Wirkens erwählt hatte. Wir dürfen also voraussetzen, daß auch diesem Weibe der Herr und sein Wirken vorher schon bekannt gewesen ist. Und wenn sie gleichwohl seine. Hülfe nicht früher schon gesucht hatte, so werden wir sie darum nicht tadeln dürfen. Denn es ist wohlgethan, daß wir in unserem Leiden die Anwendung der natürlichen Mittel menschlicher Kraft und Kunst nicht versäumen. Darnach hatte denn auch diese Frau gethan. Aber es war leider vergeblich gewesen. Das Evangelium des Marcus, in welchem, wie in dem des Lucas, diese Geschichte ausführlicher erzählt wird, sagt uns, daß sie viel erlitten habe von vielen Aerzten und all ihr Gut darob verzehrt, aber keine Hülfe gefunden habe, daß es vielmehr nur ärger mit ihr geworden sei. Da entschließt sie sich denn, ihre Hülfe bei Jesu zu suchen. Möchten doch alle, die da Leid tragen, darin ihrem Beispiele folgenlos kommt dem Geistlichen so oft vor, daß er angegangen wird von Bittsuchenden, die schwarz auf weiß den Beweis mitbringen, wie auch sie viel erlitten haben durch die wohlgemeinte menschliche Hülfe der Aerzte, wie sie ihr Gut darob verzehret und doch keine Hülfe gefunden haben, sondern es mit ihnen nur ärger geworden ist. Aber wenn man sie nun, um näher mit ihnen bekannt zu werden, fragt: „Wer ist denn euer Beichtvater? Wo geht ihr zur Kirche und wann seid ihr zum letztenmale bei dem heiligen Abendmahl gewesen?“ - da hört man vielleicht den Namen eines längst verstorbenen Mannes, oder weil sie sich schämen, den zu nennen, oder zurückzugehn bis auf den Tag ihrer Confirmation so verstummen sie lieber ganz. Sie wissen nur von menschlicher Hülfe, bei dem Herrn haben sie ihre Hülfe nicht suchen gelernt. Bei der Frau im Evangelium war das anders. Aber die Natur ihrer Krankheit und die natürliche Scheu des Weibes hält sie ab, in dieser Menge von Menschen dem Herrn ihre Bitte bestimmt und laut auszusprechen. Sie vertraut aber seiner wunderbaren Macht und spricht bei sich selbst: „Möchte ich nur sein Kleid anrühren, so würde ich gesund!“ Und da sie ihn nun anrühret, da wendet sich der allezeit hülfbereite Heiland in seiner liebreichen Freundlichkeit zu ihr um und spricht: „Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen!“ Da wich von ihr die verderbliche Macht der Krankheit, sie fühlte, wie aus der Kraft des Herrn die Kraft eines neuen Lebens sie durchdrang: sollen wir zweifeln, daß dieses neue Leben, welches sie von dem Herrn hatte, auch ein Leben in dem Herrn gewesen sein werde? - Es ist aber, meine geliebten Freunde, das Weib in unserem Evangelium ein Bild unseres ganzen Geschlechtes. Auch unser ganzes Geschlecht kann einstimmen in das Wort: Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen. Es ist umgeben von mancherlei Uebeln, welche Vorboten sind des letzten Uebels, welches allem Vergänglichen droht, des Todes; und es ist von den ersten Anfängen seines Lebens an ergriffen von der Todeskrankheit der Sünde, welche, wenn sie vollendet ist, den ewigen Tod gebieret für die unsterbliche Seele. Auch hat unser Geschlecht, um sein Verlangen nach Erlösung von dem Uebel und nach Versöhnung mit Gott, welchen das Gewissen ihm bezeugte, zu stillen, nicht versäumt, die natürlichen Mittel menschlicher Weisheit und Kunst anzuwenden. Es hat sich mit einer Menge von Göttern umgeben und hat seine Hülfe bei ihnen gesucht. Aber diese Götter haben sich als stumme und ohnmächtige Götzen erwiesen, die nicht helfen können. Die Völker haben den Glauben an diese schlechten Seelenärzte aufgegeben, und indem sie so jeden höheren Halt und alles Vertrauen verloren, ist es auch mit ihnen je länger, je ärger geworden. Auch das Gesetz, welches Gott dem Volke des alten Bundes gegeben hatte, hat die Krankheit nicht heilen können und sollen; es hat nur die Erkenntniß der Krankheit wecken sollen. Mit denjenigen, welche es nur als ein äußerliches Mittel zur Herstellung eines scheinbar reinen und gesunden Wandels benutzten, ist es in dem Herzen, in dem eigentlichen Mittelpunkte des Lebens, je länger, je ärger geworden; und auch bei denen, welche sich einen solchen äußerlich gesetzlichen Wandel nicht genügen ließen, sondern das Gesetz in ihr Herz und in ihren Sinn aufzunehmen trachteten, ist es doch insofern immer ärger geworden, als sie immer mehr erkannten, wie ihr natürlicher sündiger Wille mit dem heiligen Gesetze Gottes fortwährend im Streit lag. So gieng durch unser ganzes Geschlecht der Ruf der Todesangst hindurch: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes!“ Und die ewige Liebe antwortete auf diese Frage, indem Gott seinen eingeborenen Sohn sandte, damit von ihm aus die Kraft neuen Lebens die todtkranke Menschheit durchdringe. In Jesus Christus ist in diese Welt des Todes der lebendige Gott selbst in der ganzen Fülle und Kraft seines Lebens hineingetreten, also daß Tod und Hölle dieses göttliche Leben nicht wieder überwinden können. Aber Jesus Christus ist auch der einzige Fels, an welchem die unser Geschlecht zum Verderben des Todes hinabreißenden Wogen des sündigen Weltlebens sich brechen können; er ist der einzige Quell, von welchem aus Ströme lebendigen Wassers durch die Wüste dieses Weltlebens sich ergießen. Es gibt kein wahres Leben für uns außer ihm; sondern Christus allein ist das Leben unseres Geschlechtes, Am letzten Tage des Laubhüttenfestes, welcher der herrlichste war, ist einmal Jesus in Jerusalem aufgetreten und hat geprediget; möge er auch uns so predigen an dem heutigen letzten und so ernsten Festtage in diesem Kirchenjahr! Er rief aber damals und sprach (Joh. 7, 37 f.): „Wer da dürstet, der komme zu mir und trinke. Wer an mich glaubet, wie die Schrift saget, von deß Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Die Wahrheit dieses Wortes aber haben die erfahren, welche, nachdem sie alle Mittel menschlicher Hülfe erschöpft hatten, zu diesem Fürsten des Lebens hinaufsahen mit dem Auge des Glaubens und ihn anrührten und erfaßten mit der Hand des Glaubens. Es ist ihnen geschehen wie diesem kranken Weibe. Sie wurden gesund zu derselbigen Stunde, und sie konnten nun, wie der Herr im Evangelium des Lucas diese Frau zu thun auffordert, hingehn in Frieden; denn der schmerzliche Ruf der Todesangst hatte sich ihnen verwandelt in den seligen Preisgesang des neuen Lebens der erlösten Gemeinde des Herrn (Eph. 3, 20): „Dem, der überschwenglich thun kann über Alles, das wir bitten oder verstehen, dem sei Ehre in der Gemeinde, die in Christo Jesu ist, zu aller Zeit von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ - Und dieses Weib, meine lieben Brüder und Schwestern, ist endlich auch ein Bild eines jeden von uns. Es ist Niemand unter uns, dessen Leben nicht bedrängt oder umdroht wäre von mancherlei Noth und Gefahr; es ist Niemand unter uns, dessen innerstes Lebensmark nicht, so lange er nur zurückdenken kann, angefressen wäre von den Verderben der Sünde. Und wenn nun auch wir bekennen müssen: „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen,“ und diesem Bekenntniß die Frage hinzufügen: „Wen suchen wir, der Hülfe thu. daß wir Gnad erlangen?“ - wo sollen wir die Antwort finden auf diese Frage? Wirst du sie finden, liebe suchende Seele, bei den Weisen dieser Welt? Wirst du sie finden in den Büchern, die du, groß und klein und von da- und dorther, dir zusammenträgst? Ach, meine, lieben Freunde, ich habe in meinem frühern Amte als Universitätslehrer manche Erfahrung machen müssen in dieser Beziehung. Ich habe da oft erlebt, wenn, wie es ja nicht anders sein kann, die prüfende Wissenschaft bei diesem oder jenem den unbefangenen Glauben der Kindheit gestört hatte, daß da das von Zweifel geängstigt? Herz sie trieb, von diesem Lehrer zu jenem zu eilen, Haufen von Büchern zusammenzuschleppen und sie zu durchfliegen in ängstlicher Hast. Aber ich habe niemals erlebt, daß Einer den Frieden seiner Seele und neues Leben für sein krankes Herz gefunden hätte bei diesen menschlichen Aerzten; vielmehr, wenn er auch viel Geld an sie gewendet hatte, ist es nur ärger mit ihm geworden. Sondern, wie dort nach dem Sturm auf dem See Genezareth, ist es dann erst stille geworden, wenn das Herz auf die Frage: „Wen suchen wir, der Hülfe thu?“ die Antwort gefunden hatte, die auch Luther in seinem Liede gibt: „Das bist du, Herr, alleine!“ Und auch du, liebe Seele, mußt diese Antwort finden, wenn du einen festen Halt gewinnen willst in dem Sturme dieses Lebens. Und wenn du, wie die Frau im Evangelium, das Kleid Jesu anrührest, so mußt du doch, gleich ihr, in dieser Berührung die Kraft des lebendigen Heilandes selbst suchen. Ich habe euch schon öfter darauf aufmerksam gemacht, wie von Christo ein so reicher Segen auch in den Verhältnissen des äußeren Lebens ausgegangen ist, gute Ordnung und Zucht in der Ehe und Familie, heilsame Gesetze und Ordnungen im bürgerlichen Leben. Diese äußerlichen Segnungen sind gleichsam das Kleid des, Herrn. Und viele begnügen sich damit, nur dieses Kleid anzurühren, mit diesem Kleide sich zu schützen und zu wärmen, und vergessen darüber undankbar den Heiland selbst, haben aber auch darum keinen Antheil an der vollen Kraft des Lebens aus ihm und an der vollen Freudigkeit des Lebens in ihm, O begnügt euch doch mit seinem Kleide nicht, sondern ergreifet den lebendigen Heiland selbst und tretet ein in die Gemeinschaft des wahren Volkes seines Eigenthums. Die. welche draußen stehen, bilden sich zwar ein und sprechen es auch aus, daß in dieser Gemeinschaft ein düsteres, freudloses, verkümmertes, unheimliches Wesen herrsche. Die ihr aber angehören, die wissen davon nichts, die wissen nur den lieblichen Frieden zu rühmen und die selige Freude im heiligen Geist, die sie da gefunden haben. ,Und Christus will dir ja auch kein wahres Gut, keine wahre Freude nehmen, sondern nur geben will er dir, auf daß du die Fülle habest, Er will dir Weib und Kind und Geschwister und Freunde nicht nehmen, sondern will sie dir nur inniger und lieblicher verbinden, Er will dir Geld und Gut nicht nehmen, sondern dich nur lehren, wie du sie recht besitzen und gebrauchen sollst. Er will dir deinen bürgerlichen Beruf nicht verkümmern, sondern dir nur zeigen, wie du auch diesen zu einem Gottesdienst machen kannst. Er will dir auch die Schätze menschlicher Wissenschaft und Kunst nicht verschließen, sondern dich nur lehren, das Gold von den Schlacken zu unterscheiden und das Golo dann leuchten zu lassen im Licht und im Dienste seiner ewigen Wahrheit. Er will dir mit einem Worte für den Schein des Lebens das wahre Leben selbst geben. Er will dich erfahren lassen, was das heißt i „Christus ist mein Leben;“ wie du ans seiner Fülle Gnade um Gnade und erst die Kraft wahren Lebens empfängst, das dann auch um dich her seine belebenden Wirkungen verbreitet. O suchet doch das Leben bei ihm und folget seinem Ruf: „Wer da dürstet, der komme zu mir und trinke. Wer an mich glaubet, von dessen Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen!“

II.

Wem aber so in Wahrheit Christus sein leben geworden ist, das fühlt ihr so Gott will alle in diesem Augenblick, für den muß auch das Sterben ein Gewinn sein. Der Tod hat seinen Stachel für ihn verloren, weil er ihn von dem wahren Leben und von dem, welcher sein eigentliches Leben geworden ist, doch nicht scheiden kann. Dem Obersten der Juden in unserem Texte, dessen Name Jairus uns durch die Evangelisten Marcus und Lucas überliefert ist, war das Sterben seines lieben Kindes zum Gewinn geworden, denn er war dadurch getrieben worden, seine Hülfe bei dem Herrn zu suchen. Und diesem Kinde selbst ist das Sterben ein seliger Gewinn geworden; denn es hat im Tode den kennen gelernt, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen an das Licht gebracht hat.

Und so ist es bei einem Jeden, der bei Christo seine Hülfe gesucht und der in ihm sein Leben gefunden hat; das Sterben wird ihm zum Gewinn, sein eignes Sterben und das Sterben seiner Lieben, wenn der Vater im Himmel sie abruft, der denen, die ihm lieben, alle Dinge zum Besten dienen läßt. Wie der Herr die Tochter des Jairus bei der Hand ergriff, so fühlt der, welcher dem Herrn leben gelernt hat, wie auch ihn dieser Herr des Lebens bei der Hand ergriffen hat, er selbst aber hat im Glauben die Hand des Todesüberwinders erfaßt, und auch ihm ist das Wort des Herrn: „Das Mägdlein ist nicht todt, sondern es schläft“ ein Wort des lebendigsten Trostes: der Tod ist dem Christen ein Schlaf zu seligem Erwachen für die, welche dem Herrn sterben. Und wenn es auch heute nicht an zahlreichen Genossen derjenigen fehlt, welche dieses Wort des Herrn verlachen; so kann dieser schlechte Spott in seinem Glauben den nicht irre machen, welcher das belebende Wirken der Kräfte der zukünftigen Welt, die von Christus ausgehn, zu sich selbst erfahren hat. Es hat solche Spötter zu jeder Zeit gegeben; aber der Fels Christi ist darum doch nicht zusammengestürzt vor den Seifenblasen, die sie gegen ihn anbliesen. Und ob es gerade heutzutage scheinen mag, als ob die letzten Tage schon da seien, von denen der Apostel verkündet hat (2. Petr. 3, 3), daß in ihnen Spötter kommen werden, die den Geist der Gnade schmähen: wir wollen heute an ihnen vorübergehen und durch die Rücksicht auf sie uns nicht stören lassen in unserem Festgedanken an den seligen Gewinn, welcher einem rechtschaffenen Christen auch aus dem Sterben hervorgeht. - Ich habe zunächst gesagt, daß einem solchen sein eigenes Sterben Gewinn wird. Das köstliche Wort: „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn“ hat der Apostel Paulus aus der römischen Gefangenschaft an seine liebe Gemeinde zu Philippi geschrieben (1, 21). Er sagt dort, wie er wohl Lust hätte, abzuscheiden und bei Christo zu sein, welches auch viel besser wäre. Aber er erkennt auch, daß es nöthiger sei, im Fleische zu bleiben um der Seelen willen, die er dem Herrn gewonnen, und um der Gemeinde willen, die er ihm gesammelt hatte; und so fügt er sich in der vollen Ergebung eines Glaubens, dessen ganzes Leben Christus geworden ist, dem Willen seines Gottes, damit nur Christus gepriesen werde an seinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod. Wir sehen daraus, daß Paulus sich nach dem Tode nicht gesehnt hat, und daß auch wir nach dem Tode uns nicht sehnen sollen aus trägem Lebensüberdrusse oder aus feiger Kreuzesflucht. Das würde einem Christen schlecht anstehen. Vielmehr sollen wir wirken, so lange Gott den Tag uns scheinen läßt, in dem Berufe, den er uns angewiesen, und mit der Kraft, die er uns verliehen hat. Aber wenn auf den Tag die Nacht folgt und uns ihre Hülle über die Augen legt, dann möge uns durch Gottes Gnade die Sonne der Gerechtigkeit hell in das Herz hineinscheinen, die uns einen Tag verkündiget, auf welchen keine Nacht wieder folgt! Dann möge auch an uns der Ruf unseres Herrn ergehn: „Ich bin die Auferstehung und das Leben! Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe, und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben!“ Dann soll unser Herz sich freuen können, daß, weil wir in diesem zeitlichen Leben Gottes Kinder geworden sind und in seinem Sohne leben gelernt haben, wir auch Gottes Erben sein und als Miterben Christi eintreten sollen in die volle Herrlichkeit seiner Gemeinschaft. Dann sollen wir sprechen können, wie einst unser seliger Pastor Neumeister gesungen hat:

Ich weiß, daß mein Erlöser lebet,
Er lebt, so ist sein Leben mein;
Ob mir der Tod vor Augen schwebet,
Kann er nur doch nicht schrecklich sein:
Denn weil mein Jesus auferstanden,
So leb' ich auch in Todesbanden.

Wer sollte nicht erkennen. Geliebte, daß ein solches Sterben Gewinn ist? Wer sollte sich nicht ein so seliges Ende wünschen? - Schwereren Eingang aber wird wohl in manches Herz der weitere Gedanken finden, daß auch das Sterben unserer Lieben, welche Gott ;u sich gerufen hat, uns Gewinn werden soll. Es will mich bedünken, als ob in dem nun verfloßnen Jahre in unserer Stadt besonders viele Thränen lieben Heimgegangenen seien nachgeweint worden, und ich selbst bin öfter, als sonst, Zeuge davon gewesen. Ich habe an dem Sarge hochbetagter Pilgrime gestanden und am Sarge von Kindlein aus dem Alter, wo der unbefangene, freundliche Blick, mit welchem sie noch in die Welt hinein sehen, uns am unmittelbarsten an das liebliche Wort des Herrn erinnert, daß ihre Engel im Himmel allezeit sehen das Angesicht ihres Vaters im Himmel, und wo es zumal dem Mutterherzen ach! so ganz besonders schwer wild, sie von sich zu lassen. Ich habe an dem Sarge von Müttern gestanden, die nach Gottes unerforschlichem Rathschlusse aus der Schaar ihrer Kinder frühe hinweggerufen worden sind, und am Sarge von Kindern, die in ihrem Hause geleuchtet hatten wie ein heller Sonnenschein der Gnade Gottes. Ich habe lieben Freunden ein Wort der Theilnahme und des Trostes sagen dürfen, und ich bin in andere Häuser zum erstenmal eingetreten mit dem Troste desjenigen, der die Auferstehung und das Leben ist. Ich bin auch in Trauerhäusern gewesen, wo ich Trost suchen mußte für mich selbst. Wir haben ja an dem Sarge von Rautenberg, von John, von Hudtwalcker gestanden! Mag man über das, was man die Richtung eines Christen nennt, denken wie man will: das wird Niemand läugnen, daß in den eben Genannten Männer von uns geschieden sind, welche für das kirchliche Leben unserer Stadt von großer Bedeutung waren. Ja, Geliebte, der Tod hat in diesem Jahre unter uns eine reiche Erndte gehalten, und es ist, als ob dieser König der Schrecken nach dem Vorgange jenes römischen Königs seine Streiche auf die höchsten Häupter habe richten wollen. Und all dieses Sterben soll nun für uns ein Gewinn sein? Was sollen wir dazu sagen, Geliebte? Ich dächte dieses: Habt ihr es nicht empfunden, nachdem der erste stürmische Schmerz überwunden war, wie durch eure Hingeschiedenen eure eigne Verbindung mit der zukünftigen Welt fester geknüpft worden ist? Ist es euch nicht gewesen, als ob ihr sie vorausgesendet hättet, um euch selbst die Stätte zu bereiten? Hat es nicht seitdem kräftiger in eurem Herzen geklungen im Tone des Liedes:

Himmelan geht unsere Bahn!
Wir sind Gäste nur auf Erden,
Bis wir dort in Canaan
Durch die Wüste kommen werden.
Hier ist unser Pilgrimsstand,
Droben unser Vaterland!

Doch ist ja diese Stimmung so Gott will, nicht die Stimmung eines schwächlichen Lebensüberdrusses gewesen, sondern ihr habt euch gesagt, daß wer ein Bürger werden will jener seligen Gottesstadt, in der Zeit seines Pilgrimsstandes seine Pflichten treulich erfüllen muß, Ihr habt auf die Lieben, die euch geblieben sind, doppelte Treue und Sorgfalt verwendet, und in solchem treuen Wirken habt ihr auch gefühlt, wie die ewige Liebe durch ihr heiliges Band euch fester und fester mit ihnen verbunden hat. Und ist nun nicht das Alles ein reicher und seliger Gewinn? Und wenn wir mit tiefem Schmerz an die Männer des Glaubens und der Thatkraft denken, die von uns geschieden sind und von denen wir uns sagen müssen, daß sich schwer für sie ein Ersatz finden läßt aus dem jüngeren Geschlecht: muß nicht auch das uns antreiben, mit verdoppeltem Eifer das Unsere zu thun? Und wenn wir uns dabei selbst nicht genug thun können: nun, meine lieben Brüder und Schwestern, da kommen wir ja gerade auf den richtigen Weg, da werden wir unsere Hülfe suchen bei dem Herrn, und wer bei ihm sucht, das hat ja unser Text uns gelehrt, der findet auch, den durchdringet er mit der Kraft seines Lebens. So helfe uns denn der allmächtige und gnädige Gott mit der Kraft seines Trostes, daß wir alle, daß auch die Leidtragenden unter uns, heute ein Todtenfest feiern. Er gebe uns Kraft, über den Gräbern die Siegespalmen zu schwingen und den Preis des Todesüberwinders anzustimmen: Dem Vater im Himmel, der überschwänglich thun kann über Alles, das wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die da in uns wirket; dem Sohne, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen an das Licht gebracht hat; dem heiligen Geist, der unserem Geiste bezeuget, daß wir Gottes Kinder sind und Miterben der Herrlichkeit Christi, dem dreieinigen lebendigen Gott sei Ehre in der Gemeinde, die da in Christo Jesu ist, zu aller Zeit von Ewigkeit bis zu Ewigkeit! - Amen.

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autoren/b/baur_gustav/baur-25_nach_trinitatis.txt · Zuletzt geändert: von aj
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