Baur, Gustav Adolph - Jüngling, ich sage dir: Stehe auf!

Baur, Gustav Adolph - Jüngling, ich sage dir: Stehe auf!

Am 16. Sonntag nach Trinitatis (zugleich Michaelisfest).

Der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen an das Licht gebracht hat, dem sei Ehre in seiner Gemeinde zu aller Zeit bis in Ewigkeit! - Amen.

Daß ein treuer Diener des Herrn es gut habe, weil dieser Dienst ihn befreit von dem verderblichen Dienste der Welt und die drückende Last ängstlicher Sorgen von ihm nimmt, das war der Gedanke, in dem Herrn geliebte Freunde, der uns in unserer letzten Sonntagsbetrachtung beschäftigte. Und zwar gedachten wir am Schlusse unserer Betrachtung insbesondere der Sorgen für die Zukunft. Wir durften uns sagen, daß diese Sorgen von edlerer Art seien, als die Sorgen um den augenblicklichen Besitz und den flüchtigen Genuß der vergänglichen Güter dieser Erde. Denn sollte nicht in der That auch dem treuesten Diener unseres Herrn wohl anstehn die Sorge um das künftige Wachsthum seines himmlischen Reiches, um die einstige Verbreitung des Evangeliums zu denen, welchen sein herrliches Licht noch nicht aufgegangen ist. um die Wiederbelebung seiner seligmachenden Gotteskraft in den Herzen, in welchen sie erstickt worden ist in den Sorgen und Lüsten dieser Welt, um das fernere Gedeihen unserer theuren evangelischen Kirche, um die endliche Herstellung der Einigkeit und der Macht und Ehre unseres lieben Vaterlandes? Aber je höher und himmlischer das Gut ist, welches der Gegenstand solcher Sorge ist, um so mehr dürfen wir auch darauf vertrauen, daß der allmächtige Gott selbst dessen kräftige Erhaltung und Mehrung fördern wird und desto weniger haben wir Grund, die edle Sorge für die Zukunft in jene kleinmüthige Sorge ausarten zu lassen, welche auf dem Gemüthe mit drückender Schwere lastet und die Thatkraft lähmt, statt sie zu vertrauensvollem, frischem und freudigem Wirken anzuspornen. Zu den edelsten Gütern nun, welche wir der Huld unseres himmlischen Vaters verdanken, gehören unsere Kinder, und zu den edelsten Sorgen gehört die Sorge um ihre Zukunft. Wir haben am vorigen Sonntag nicht mehr Zeit gehabt, auf diese so wichtige und unserem Herzen so ganz besonders nahe liegende Sorge näher einzugehen. Und da trifft es sich denn gut, daß wir am heutigen Sonntage zugleich das Michaelisfest zu feiern haben, welches uns in früheren Jahren schon Anlaß geworden ist, unsere andächtige Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern zu richten, auf die beiderseitigen Pflichten, welche aus diesem Verhältnisse erwachsen, und überhaupt auf die Sorge für das heranwachsende Geschlecht, welche jedem mündigen Mitgliede der christlichen Gemeinde am Herzen liegen muß. So wollen wir es denn auch heute halten, meine lieben Freunde; und ich denke, wir werden uns überzeugen, wie einem treuen Diener des Herrn auch diese Sorge erleichtert werden muß, weil er fest vertrauen darf, daß gerade ihre Last sein Gott und sein Erlöser ihm werde tragen helfen. Zur Grundlage für unsere Betrachtung aber laßt mich anstatt des Textes für den Michaelistag, in welchem der Heiland uns auffordert, die Kinder aufzunehmen in seinem Namen, und welchen wir früher schon miteinander betrachtet haben, den Text für den heutigen Trinitatissonntag nehmen, der ganz besonders geeignet ist, das sorgenbelastete Elternherz aufzurichten durch das Vertrauen auf den Trost und auf die Hülfe des Herrn.

Lied: 429, 8.

„Ist auch der Mütter eine,
Die ihres Sohns vergißt?“ -
Denk' an dies Wort, und weine
Die Freudenthrän', o Christ!?-
„Und könnt' ihn sie vergessen,
Will ich doch deiner nicht,
Ich deiner nicht vergessen!“ -
Der Herr ist's, der es spricht.

Text: Luc. 7, 11-17. Und es begab sich darnach, daß er in eine Stadt mit Namen Nain gieng; und seiner Jünger giengen viele mit ihm, und viel Volks. Als er aber nahe an das Stadtthor kam, siehe, da trug man einen Todten heraus, der ein einziger Sohn war seiner Mutter; und sie war eine Wittwe, und viel Volks aus der Stadt gieng mit ihr. Und da sie der Herr sahe, jammerte ihn derselbigen, und sprach zu ihr: Weine nicht! Und trat hinzu, und rührete den Sarg an; und die Träger standen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, stehe auf! Und der Todte richtete sich auf, und fing an zu reden. Und er gab ihn seiner Mutter. Und es kam sie alle eine Furcht an, und priesen Gott, und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und Gott hat sein Volk heimgesucht. Und diese Rede von ihm erscholl in das ganze jüdische Land, und in alle umliegenden Länder.

Mit Einem Worte hat hier unser Herr Jesus Christus die Last der schwersten Sorge von einem tiefgebeugten Mutterherzen hinweggenommen und es aus der Nacht des tiefsten Schmerzes auf einmal zur seligsten Freude emporgehoben. Es ist das Wort: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ Da wird es sich ja gewiß der Mühe verlohnen, Geliebte, der tieferen und vollen Bedeutung dieses Wortes des Herrn einmal aufmerksam nachzugehn. Wir werden dann mit Gottes Hülfe erkennen, wie das Wort des Herrn: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ auch für uns, für alle die, welchen die Sorge für die Kinder, die Gott ihnen gegeben hat, und für das heranwachsende Geschlecht überhaupt am Herzen liegt, erstens ein Wort des seligsten Trostes, zweitens ein Wort der kräftigsten Hülfe und drittens ein Wort der ernstesten Mahnung ist.

I.

Als ein Wort des seligsten Trostes tritt uns das Wort des Herrn: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ aus der Erzählung unseres Textes zunächst und am unmittelbarsten entgegen. - Und es schildert uns diese Erzählung ja einen Fall, in welchem kräftiger Trost hochnöthig war. Kurze Zeit vorher hatte Jesus Christus in seiner Bergpredigt zu dem versammelten Volke gesprochen. Nun zog er im Lande umher, um zu dem Worte der Wahrheit die That der Liebe zu fügen, und seine Schritte trieften von Sorgen und Hülfe. Vor wenigen Tagen, vielleicht am vorhergehenden Tage erst, hatte er des Hauptmanns Knecht zu Kapernaum geheilet, da begab es sich, daß er, von vielen seiner Jünger und von einer großen Volksschaar begleitet, zu einer Stadt mit Namen Nain kam. Die Geschichte der Vorzeit hat uns nichts weiter von dieser Stadt berichtet, und jetzt ist sie zu einem elenden Dorfe zerfallen. Aber um des gewaltigen Wortes willen, welches der Herr an ihrem Thore gesprochen hat, ist ihr Name unauslöschlich eingeschrieben in das Buch der Geschichte, wie ja auch der, welcher sein seligmachendes Wort im rechten Glauben aufnimmt, in das Buch des ewigen Lebens eingetragen wird. Und als der Herr des Lebens sollte Christus auch hier sich bewähren. Denn als er nahe an das Stadtthor kam, siehe, da hatte der Tod wieder sein finsteres Werk an einem Menschen vollendet, da trug man einen Todten hinaus. Es ist immer ein ernster Anblick, Geliebte, wenn ein solcher Trauerzug uns begegnet, und er sollte auch dann nicht aufhören, ernste Gedanken in uns zu erwecken, wenn er uns so häufig aufstößt, wie z. B. in unserer großen und volkreichen Stadt, Aber wenn der Leichenzug einen müden Erdenpilger zur letzten irdischen Ruhestätte geleitet, wenn den trauernden Hinterbliebenen, aus deren Mitte Ein liebes Leben hat scheiden müssen, doch noch andere Stützen bleiben und andere liebe Menschen, an welchen sie sich freuen und für welche sie arbeiten können; da findet wohl auch die natürliche Vernunft noch leicht Gründe der Beruhigung und des Trostes. Der Fall aber, von welchem Unser Text uns erzählt, war in Wahrheit ein trauriger Fall im vollsten Sinne des Wortes, Denn dieser Verstorbene war der einzige Sohn seiner Mutter, und sie war eine Wittwe, vielleicht eine arme Wittwe, welche in diesem Sohn ihre einzige Stütze verlor. Und darum begleitet sie auch das allgemeine Mitleid: viel Volk aus der Stadt, so sagt unser Text, gieng mit ihr. Auch das, meine Lieben, ist gar wohlgethan und gar wohlthuend, wenn unsere Hingeschiedenen und ihre trauernden Angehörigen den letzten Weg nicht so allein gehen müssen, sondern wenn die teilnehmende Liebe sie geleitet bis zu der Pforte des Grabes. Aber den rechten, vollen Trost vermag es uns doch nicht zu geben. Der kommt allein von dem Herrn. Er muß uns sein kräftiges „Weine nicht!“ zurufen, wie er es bei dieser jammernden Mutter gethan hat Und darnach trat er hinzu, und rührete den Sarg an, und die Träger standen, und er sprach: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ Und der Todte richtete sich auf und sing an zu reden, und er gab ihn seiner Mutter. So ist dieses Wort des Herrn für das tiefbetrübte Mutterherz ein Wort des seligsten Trostes geworden, welches mit einem Male ihr bitteres Weh in die. seligste Freude verwandelte. - So. meine geliebten Freunde, geschah es damals zu Nain. Aber wie steht es nun mit uns? Kann auch uns noch das Wort Jesu Christi: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ ein Wort seligen Trostes werden? Muß es nicht in dem durch den Tod eines lieben Kindes tiefgebeugten Vater- und Mutterherzen vielmehr die bittere Klage wachrufen: „Ja, wenn mir geschähe, was dieser Wittwe zu Nain geschah, wenn mein liebes Kind mir wiedergegeben würde; ja, da wollte auch ich mich wohl trösten! Aber heute geschehen keine Wunder mehr, und ich vermag den Weg nicht zu. finden, der mich herausführen kann, aus der trostlosen Nacht meines Schmerzes!“ O sprich doch nicht also, liebe Seele! Lerne doch die Gnade deines Gottes preisen, und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat! Bedenke doch, daß du mehr hast, unendlich viel mehr, als damals der Wittwe zu Nain gegeben worden ist und gegeben werden konnte. Denn dir hat ja der allmächtige Gott in dem Tode seines eingeborenen Sohnes die Fülle seiner Gnade geoffenbart, auf deren volle Offenbarung die Welt damals noch harrte; und die Auferstehung des auch für dich Gekreuzigten bezeugt dir, daß er der ist, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen an das Licht gebracht hat. Ja, Geliebte, der Auferstandene erst ruft uns allen, ruft auch unseren frühvollendeten Kindern recht kräftig das selige Wort zu: .Ich sage dir, stehe auf!„ Denn er verbürgt uns, daß, wenn wir sie aufgenommen haben in seinem Namen und auferzogen in der Zucht und Vermahnung zu ihm, der Tod ihrem wahren Leben nichts anhaben soll, sondern daß sie uns bleiben sollen und bewahrt werden zum ewigen Leben. Und sein gewaltiges Wort thut auch heute noch an der Seele, welche es im Glauben aufnimmt, das Wunder, daß sie aus der Nacht und über alle Schrecken des Todes erhoben wird zu dem wunderbaren Lichte und zu der seligen Freude des ewigen Lebens in der Gemeinschaft mit Ihm, in welcher wir unzertrennlich verbunden bleiben mit allen, mit denen wir im Glauben an ihn wahrhaft Eins geworden sind.

II.

Aber, meine geliebten Freunde, wir brauchen ja nicht allein Trost bei dem Tode, wir brauchen auch Hülfe bei dem Leben unserer Kinder, damit sie nicht in diesem zeitlichen Leben schon dem Tode verfallen, sondern bei Zeiten den Weg des wahren Lebens betreten und uns der selige Trost und die feste Hoffnung bleibt, daß, wenn sie einmal scheiden müssen, sie durch den zeitlichen Tod in das ewige Leben eingehn. Denn es gibt ja einen Tod schon bei lebendigem Leibe, Das ist der Tod, auf welchen das Wort des Herrn an die Gemeinde zu Sardes in der Offenbarung Johannis hinweist (3, 1): „Ich weiß deine Werke; denn du hast den Namen, daß du lebest, und bist todt!“ Es ist der Tod der Sünde, welche an der Seele ihr furchtbares Werk der Zerstörung treibt, indem sie uns aus dem wahren Leben in der Gemeinschaft mit dem heiligen und lebendigen Gott herauslockt, und uns in den schmählichen Knechtesdienst des vergänglichen Wesens verkauft und der Herrschaft des geistigen Todes unterwirft. Unser aller wahres Leben ist von diesem unserem eigentlichen Todfeinde auf das ernstlichste bedroht; und wenn ein theures Kind seiner seelenmörderischen Macht anheimfällt - Geliebte, das ist für ein treues Elternherz ein herberer Schmerz, als der Tod ihres Leibes ihn uns anthun kann, und wir können das starke Wort nachfühlen, welches einmal unser Luther ausgesprochen hat, der ja auch das Muster eines rechtschaffenen christlichen Hausvaters gewesen ist: „Lieber einen todten Sohn, als einen ungerathenen.“ Aber auch in dieser Beziehung, in Beziehung ans die Bewahrung unserer Kinder vor dem Tode der Sünde, werden wir ihm auch gar manches Mal sein anderes Wort nachfühlen, daß mit unserer Macht allein nichts gethan ist, sondern daß unsere Hülfe kommen muß von dem Herrn. Und das Wort und Werk des Herrn, wie es in unserem Texte sich darstellt, muß uns ja mit der Hoffnung erfüllen, daß er auch diese Hülfe uns nicht vorenthalten werde. Wie sein Wort: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ uns ein Wort des seligsten Trostes ist, so auch ein Wort der kräftigsten Hülfe. - Denn wenn wir dieß Wort uns zu Herzen nehmen, als von dem gesprochen, der sich selbst die Auferstehung und das Leben nennt und uns verheißt, daß wer an ihn glaubt, leben soll, ob er gleich stürbe; so verbürgt es uns ja, daß auch die Seelen unserer Kinder für das ewige Leben geschaffen und bestimmt sind. Es erinnert uns an die besondere Liebe, mit welcher der Erlöser in seiner himmlischen Freundlichkeit gerade der Kinderwelt sich zuwandte; wie er uns auffordert, die Kinder aufzunehmen in seinem Namen, um sie wieder zu ihm kommen zu lassen, damit sie Genossen werden seines Himmelreichs. Es hält uns vor sein liebliches Wort (Matth. 18, 10): „Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel“, womit er uns sagt, wie werth jede Seele eines Kindes in seinen Augen und in den Augen seines Vaters im Himmel ist. Um sie zu erlösen von dem Tode der Sünde, hat er sie in der heiligen Taufe aufgenommen in seinen Gnadenbund, und gewiß, er wird keines von ihnen verlassen und versäumen. Auch für sie hat er sein theures Blut am Kreuze vergossen, und wem dieses größte Opfer der göttlichen Liebe zu Herzen gegangen ist, wahrlich der wird bekennen müssen: „Ob auch ein Weib ihres Kindleins vergäße, so wird doch sein Herr und Heiland seiner nicht vergessen!“ - Und wie die Liebe des Herrn zu unseren Kindern und der daraus hervorgehende Wille, sie ihrem wahren Glück und ewigen Heil entgegenzuführen, stärker ist und reiner, als die treueste Elternliebe; so hat er auch die Macht vor uns voraus, das hinauszuführen, was unsere Liebe wünscht. Wie er den Jüngling von Nain von dem leiblichen Tode auferweckt hat, so kann er auch aus dem geistigen Tode das Leben wieder erstehen lassen. Nenn die elterliche Fürsorge nach unserem besten Wissen und Vermögen Alles versucht hat, Mahnung und Warnung, milde und strenge Worte, bestimmten Befehl und flehende Bitte, freundliche Leitung und ernste Strafe, und uns nichts mehr übrig bleibt, als der Schmerz und die heiße Thräne darüber, daß ein theures Kind dennoch in seiner Verblendung nicht aufhört, fortzugehn auf dem Weg zu feinem Verderben; so hat der Herr noch Wege und Mittel, um Eingang zu finden in das schwer zugängliche Gemüth und einen heilsamen Eindruck auf dasselbe hervorzubringen, und den tiefen Schmerz der Eltern, unerwartet und über all ihr Bitten und Verstehen, in die seligste Freude zu verwandeln. Wie der verlorene Sohn lange dahinlebte in Herrlichkeit und Freuden, zuletzt aber das tiefe Elend eines solchen Sündenlebens erkennen lernte und von herzlicher Sehnsucht und Reue zurückgetrieben wurde zu dem verlaßnen Vaterhause; wie die große Sünderin aus der Lust dieser Welt zu den Füßen Jesu flüchtete, um sie mit den Thränen der bittersten Reue zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, wie sie um ihrer Liebe willen von ihm Vergebung ihrer Sünden empfing und nun als seine treueste Nachfolgerin ein ganz neues Leben lebte: so läßt es der Herr wohl geschehen, daß ein Kind in Ungehorsam, Leichtsinn oder Trotz lange dahingeht auf dem Wege des Irrthums und der Sünde. Aber wenn die menschliche Kraft schon an der Rettung völlig verzagt, wenn menschliche Hoffnung den Unglücklichen schon aufgegeben hat, weil das menschliche Auge in seinem Leben nichts mehr sieht, als den geistigen Tod; da ersieht sich der Herr feine Stunde und ruft sein gewaltiges: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ Und siehe der Todtgeglaubte richtet sich auf, und es fällt ihm wie Schuppen von seinen Augen. Er erkennt den furchtbaren Abgrund, an dessen Rand er dahinging, und daß ein Leben, wie er es gelebt hat, nichts Anderes ist, als der Tod alles höheren, wahren Lebens. Und er ergreift die Gnadenhand seines Gottes, welcher den Bußfertigen vom Tode zum Leben erretten will. Er ist verloren gewesen und ist wieder gefunden; er ist todt gewesen und ist wieder lebendig geworden, er ist durch die barmherzige und allesvermögende Hülfe seines Vaters im Himmel und seines Erlösers den hocherfreuten Eltern zum zweitenmale geschenkt wurde. - So laßt uns denn auch in unseren Sorgen um die Erziehung und um das wahre Gedeihen des heranwachsenden Geschlechtes dem vertrauen, welcher auch der rechte Ueberwinder des geistigen Todes ist. Er hilft uns unsere Sorgen gerne tragen, und mit, der Treue des guten Hirten wacht er über eine jede Seele, die seiner Hut anbefohlen worden ist. Die Sorgen des Vaters sind ihm nicht verborgen, und die Thränen der Mutter sind nicht verloren vor ihm. Was bei Menschen unmöglich ist, das ist doch seiner göttlichen Kraft möglich, und seine fürsorgende Weisheit weiß die rechte Stunde zu finden, daß er, wie der trauernden Wittwe zu Nain, auch uns sein kräftiges: „Weine nicht!“ zurufe.

III.

Damit aber solches Vertrauen auf den Herrn und auf das Wort seiner kräftigen Hülfe: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ uns nicht eine Versuchung zur Sicherheit und Trägheit werde, in welcher wir, müßig harrend ans seine Hülfe, das versäumen, was uns zu thun obliegt; so möge uns jenes Wort, in Verbindung mit der Wirkung, welche es nach der Erzählung unseres Textes hervorbrachte, schließlich auch noch ein Wort der ernstesten Mahnung werden. - Die Wirkung, welche dieses Wort und das es begleitende Wunder hervorbrachte, wird uns in den Schlußworten unseres Textes geschildert: „Und es kam sie alle eine Furcht an, und priesen Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und Gott hat sein Volk heimgesuchet. Und diese Rede von ihm erscholl in das ganze jüdische Land und in alle umliegenden Länder.“ Das Zeugniß, welches Nikodemus Jesu, gleich nach dessen erstem Auftreten, gegeben hatte (Joh. 3, 2): „Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer, von Gott gekommen, denn Niemand kann die Zeichen thun, die du thust, es sei denn Gott mit ihm“ - dieses Zeugniß wird hier von dieser ganzen staunenden Menge wiederholt. Sie erkennen: wer Solches wirken kann, der muß ein großer Prophet sein, erfüllt von Gottes Geist und Kraft; ja sie ahnen in ihren von dem Schauer der Nähe Gottes ergriffenen Herzen, daß hier mehr ist, denn ein Prophet, daß Gott selbst in der Fülle seines Geistes und seiner Kraft sein Volk heimgesucht hat. Und die Kunde hiervon ist seitdem erschollen in alle Länder der Erde. Die christliche Kirche ruhet auf der Ueberzeugung, daß in Jesus Christus, als in seinem eingebornen Sohne, der wahrhaftige und lebendige Gott selbst uns heimgesucht hat. Und wir bedurften einer solchen gnadenreichen Heimsuchung, Geliebte, wenn wir errettet werden sollten von dem geistigen Tode, welchem wir durch die uns anhaftende Sünde von Natur alle verfallen sind. Der sündlose Gottessohn mußte hineintreten in diese sündige Welt und der erstorbenen sein gewaltiges: „Ich sage dir, stehe auf!“ zurufen, damit er den Keim des Lebens ihr wieder einsenke, damit er der Erstling werde einer neuen Creatur, des im Glauben an ihn um ihn gesammelten und zu neuem Leben erwachten Volkes seines Eigenthums. Durch Jesum Christum ist der Weg, der von der Erde zum Himmel führt, und aus Vergänglichkeit und Tod zum wahren, ewigen Leben, uns erst wieder aufgethan worden; und wer diesen Weg gehn will - und das wollen wir ja, so Gott will, alle - der muß an Jesum Christum glauben. - Darum gibt es aber auch, meine lieben Brüder und Schwestern, für uns keine heiligere Pflicht gegen unsere Kinder und gegen das gesammte heranwachsende Geschlecht, als daß wir sie hinführen zum lebendigen Glauben an Jesum Christum, ihren Herrn und Erlöser, Was helfen ihnen alle Schätze dieser vergänglichen Welt, wenn wir die Schätze des ewigen Lebens ihnen nicht aufschließen? Was hilft ihnen aller Reichthum des mannichfaltigsten menschlichen Wissens, das doch, eben weil es selbst angehaucht ist von dem Verderben des Irrthums und der Sünde, niemals verstanden hat, über die höchsten Angelegenheiten, über Gott und unser Verhältniß zu ihm, etwas Ersprießliches und die Seele wahrhaft Befriedigendes zu lehren - was hilft ihnen das Alles, wenn ihr ihren die ewige, göttliche Wahrheit des Evangeliums nicht aufschließt? Gilt doch von jenem Allen das Wort: (Joh. 3, 6): „Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch,“ und: „Der Geist ist's, der da lebendig macht, das Fleisch aber ist kein nütze. (Joh. 6, 63).“ Bei dem Herrn aber ist Geist und Leben! darum gebt euren Kindern den festen und lebendigen Glauben an Jesum Christum in das Leben mit, so habt ihr für eine gute Mitgabe gesorgt. Durch sie wird mitten in der Arbeit, wie im Genuß, in der Freude, wie in dem Leid dieses Erdenlebens, ihre Verbindung mit Gott und mit dem ewigen Leben aufrecht und lebendig erhalten, und durch sie lernen sie die irdischen Güter und die Schätze menschlicher Weisheit erst recht gebrauchen zu ihrem eignen Heile und zur Ehre ihres Gottes. Also noch einmal: „Gebt euren Kindern und den eurer Pflege anvertrauten jungen Herzen, so lieb euch ihr wahres Glück auf Erden und ihrer Seele Seligkeit ist, den Glauben an ihren Herrn und Erlöser mit!* - das ist die ernste Mahnung, welche das Wort des Todesüberwinders euch zuruft: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ - denn darin liegt ja auch, daß gerade Er es sagt und kein Anderer es sagen kann!“ - Aber was man andern geben soll, Geliebte, das muß man zuerst selbst haben. Ich brauche euch nicht zu sagen, was aus dieser einfachen Wahrheit für eine neue Mahnung an uns ergeht. Es gibt ja wohl kaum ein Elternherz, das so gottesvergessen wäre, daß es, wenn es auch selbst am Glauben Schiffbruch gelitten hat, nicht wenigstens den Wunsch auch hätte, sich frommer Kinder zu erfreuen, und sie von Lehrern und Predigern zur Frömmigkeit unterwiesen und erzogen zu sehen. Aber wer zu einer solchen Erziehung selbst mitwirken will, der muß auch selbst im Glauben stehen. O, vergeht doch nicht, meine Lieben: Schule und Kirche können unmöglich Alles allein thun und euch alle Arbeit und Verantwortung abnehmen; sondern gerade daß Beste muß geschehen im elterlichen Hause. Und darum lautet die weitere Mahnung: „Trachtet, daß euer eignes Haus ein Tempel Gottes, daß euer eignes Herz ein Tempel des heiligen Geistes werde!“ Ach, meine lieben Freude, die Untugenden unserer Kinder halten uns ja so oft ein beschämendes Spiegelbild unserer eignen Fehler und Sünden vor, - wohlan, laßt uns selbst dem Ziele christlicher Heiligung nachringen, damit in ihrem Wesen und Leben vielmehr das Vorbild eines durch den Glauben an Christum geheiligten Lebens sich abspiegele. Denn nur wenn in unserem eignen Herzen das Wort des Herrn eine Kraft neuen Lebens geworden ist, können wir auch denen, welche wir auf den Weg des Lebens zu führen berufen sind, ein wirksames: „Ich sage dir, stehe auf!“ zurufen. Kommen wir aber dieser ernsten Mahnung nach, für das künftige wahre Heil der Jugend vor Allem durch die tägliche Arbeit an unserer eignen Heiligung zu sorgen; nun, Geliebte, dann dürfen wir uns deß getrösten, daß der Herr zu seiner Zeit auch mit seinem kräftigen: „Jüngling, ich sage dir, stehe auf!“ uns hülfreich zur Seite stehen wird, und daß dieses Wort denen, die uns am theuersten sind, auch die Seligkeit des ewigen Lebens verheißt. Das walte Gott, der der rechte Vater ist über Alles, was da Kinder heißt, im Himmel und auf Erden! -

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autoren/b/baur_gustav/baur-16_nach_trinitatis.txt · Zuletzt geändert: von aj
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