Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Sechster Vortrag.
Die erste Gemeinschaft.
Nach dem verbotenen Genuß wird der Mensch aus dem Garten Gottes vertrieben und die Erde, auf welcher nun der göttliche Fluch ruht, wird sein Wohnsitz, zwischen ihm und Gott steht das flammende Schwert des Cherubs. Nachdem Jesus allem Genuß entsagt hat und zugleich bewiesen, daß das Wort Gottes der Grund seiner Seele und die Speise seines Leibes war, muß der Widersacher von ihm weichen und zu ihm treten die himmlischen Boten und machen die Wüste zu einem Paradiese. Durch seinen Kampf und Sieg über den Widersacher hat Jesus mitten in der Welt eine State geschaffen, wo die Zwingherrschaft des Starken ein Ende hat, wo die Furcht eine verschlossene Thür findet, dagegen Freiheit und Friede ihren Thron aufgeschlagen haben. Diese heilige und selige State hat Raum genug für Israel und für die ganze Menschheit und ist jetzt nur übrig, daß Israel und die Menschheit den Ort ihrer Furcht und Knechtschaft verlassen und hier einziehen, um daselbst ewig zu wohnen. Freilich wird der Zugang nicht auf andere Art zu gewinnen sein, als diese State von Jesu selbst errichtet und geschaffen ist; in Israel und der Menschheit muß sich dasselbe wiederholen, was wir in Jesu haben geschehen sehen, der Kampf und Sieg, den Jesus gewonnen hat, muß ein allgemeiner werden. Wie kann dies geschehen? So kann es nicht geschehen, daß Israel oder die Menschheit von sich aus diesen Sieg erringt, denn dann hätte Jesus nicht nöthig gehabt zu kommen, nicht einmal richtig anfangen kann dieser Kampf außerhalb Jesu, und zwar schon aus dem Grunde nicht, weil der Mensch außer Christo wohl ein dunkles Gefühl seiner Knechtschaft hat, keineswegs aber eine klare Erkenntniß von der Macht und dem Umfang dieser Knechtschaft, wer aber die Macht des Feindes nicht einmal übersieht, wie sollte der richtig kämpfen, wie sollte er siegen können, ja wie sollte er auch nur richtig in den Kampf eintreten können? Also von Jesu allein kann alles Weitere ausgehen. Da es sich aber um eine lautere innere Selbstbewegung handelt, so kann die vorbereitende Einwirkung Jesu nicht eher beginnen, als bis die Empfänglichkeit für diese Einwirkung aufgeschlossen ist; sonst würde diese Einwirkung äußerlich vermittelt sein und kein reines inneres Ergebniß haben und würde also nicht dasselbe bewirken, von dem sie ausgeht und also nicht das erreichen, worauf allein Alles ankommt. Diese Empfänglichkeit nun als der nothwendige innere Anknüpfungspunkt für die Selbstverbreitung jener Kraft, die Jesu innewohnt, kann nun zwar durch Mancherlei vorbereitet werden, vollendet aber werden und in ihrer reinen Gestalt erscheinen kann sie nur durch den Eindruck Jesu selber. Empfänglichkeit nämlich ist überall nur da für die wirkende Kraft und darum besteht ihre Reinheit und Keuschheit eben darin, daß sie erst da wirklich vorhanden ist und von sich selber weiß, wo sie von der Gegenwart der wirkenden Kraft aufgeregt wird. Daraus folgt nun, daß Jesus, ehe er dazu übergehen kann, das, was in ihm ist und für Alle bestimmt ist, auf Andere zu verbreiten, damit beginnen muß, durch seine Selbstdarstellung die Empfänglichkeit für sein Einwirken zu erwecken. Der Evangelist Johannes, welcher diesen ersten Anfang einer Wirksamkeit Jesu nach außen selber erlebt hat, hat dafür gesorgt, daß wir einen Einblick in dieses zarte Geheimniß gewinnen können. Wunderbar fein und leise ist dieser erste Anfang einer Gemeinschaft, welche Jesus hier knüpft. Man muß diejenigen, welche in unserer Gegenwart in Theorie und Praxis darauf ausgehen, den Begriff und das Wesen der Kirche, welche doch nie etwas Anderes ist noch sein kann als die Gemeinschaft, welche Jesus gegründet hat, so viel irgend möglich in eine handfeste Aeußerlichkeit zu verwandeln, man muß diese einladen, hieher zu treten und das linde himmlische Säuseln, welches über diesem Anfang aller christlichen und kirchlichen Gemeinschaft schwebt, zu vernehmen, daß sie sich ihres fleischlichen Sinnes schämen lernen und doch vor allen Dingen den Staub der Erde von ihren Füßen thun, ehe sie den Boden dieses Heiligthums betreten.
Am Ende der vierzig Tage, welche Jesus nach seiner Taufe in der Wüste zubringt, wird Johannes der Täufer durch eine Gesandtschaft aus Jerusalem über seinen Beruf amtlich und feierlich befragt. Er wiederholt das Bekenntniß, welches er immer abgelegt: sich selbst bekennt er als die rufende Stimme in der Wüste, in Ansehung dessen aber, auf den er als den Höheren und Früheren immer hingewiesen, ruft er jetzt aus: „er ist mitten unter euch aufgetreten, den ihr nicht kennet“ (s. Joh. l, 26). Dieses letzte Zeugniß des Täufers von der Nähe des Gesalbten klingt, als hörte Johannes schon das Rauschen der Füße Jesu, wie er aus der Wüste wieder zurückkehrt an den Jordan. Am folgenden Tage kommt Jesus zu Johannes. Da nun von ihm weder ein Wort noch ein Werk bei dieser Gelegenheit berichtet wird, so kann der Sinn dieses Kommens kein anderer sein, als der Wille Jesu sich selbst darzustellen und zwar zunächst fängt er an der Stelle an, wo er das hellste und tiefste Verständniß des in ihm beschlossenen Geheimnisses vorhanden wußte. Johannes schaut ihn den Kommenden und kann dieser Erscheinung gegenüber nicht stumm bleiben, denn ein neues Geheimniß leuchtet ihm auf in dem neuen Anblick. Von dem Tage an, da er den Geist hat herabfahren sehen auf Jesum, hat dieser Zeuge ihn nicht aus dem Sinn gelassen, er hat ihn verschwinden sehen auf dem Wege in die menschenleere Wüste und von eben daher sieht er ihn jetzt kommen; es kann ihm nicht entgangen sein, daß seit jenem Tage seiner höchsten Freude vierzig Abende vergangen sind. Diese vierzig Tage dessen, der vor seinen Augen gesalbt worden ist mit dem Geiste ohne Maß, können ihm ,nicht anders erscheinen denn als die Wiederherstellung des verlorenen Anfanges Israels und des verlorenen Anfanges der Menschheit. Er schaut ihn ja als den, der aus dem Kampf siegreich hervorgegangen, der in der Wüste mit Engelsspeise gestärkt ist, um , seinen Sieg als eine ewige Lebensmacht in die Welt hinein auszubreiten. Dieses Denken und Schauen des Johannes versiegelt ihm der Geist und er thut seinen Mund auf und spricht: „siehe das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt,“ Gestellt hat er sich, das will er sagen, unter die Sündenlast Israels und aller Heiden als der rechte von Gott bestellte Stellvertreter, und darum unterliegt er nicht dieser Last, sondern trägt sie stark und freudig und nimmt sie hinweg. Von dem Inhalte dieses Tages sagt der Evangelist außer dem Zeugniß Johannis kein Wort weiter, als wollte er andeuten, daß wer den Inhalt dieses neuen Zeugnisses aus dem Munde des Täufers über den gegenwärtigen Stand Jesu recht erwägt, für etwas Weiteres gar keinen Raum haben könne. Jesus kehrt also zurück in seine Herberge, welche er in der Nähe sich ausersehen und bestellt hatte. Am anderen Tage steht Johannes wiederum auf seiner Warte und bei ihm sind zwei der galiläischen Jünglinge, die sich ihm angeschlossen hatten. Er stehet Jesum dahin wandeln und auf den Wandelnden scharf seinen Blick gerichtet spricht er abermals dasselbe Zeugniß. Die beiden Jünger hören das Zeugniß nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich, sie folgen der Aufforderung des Täufers, diesen Wandelnden anzusehen und ihn zu prüfen, ob er wohl der sei, als welchen ihn Johannes bezeichnet. Das merken die Beiden wohl, daß es sich um eine große Entscheidung handelt, sind sie ja auch auf eine solche Entscheidung durch Johannes von Anfang her vorbereitet. Wenn wir nun lesen, daß sie nicht erst sich bedenken und überlegen, sondern sofort Johannes ihren Meister verlassen und Jesu nachfolgen, wie anders sollen wir uns das erklären als so, daß sie von diesem Wandelnden einen unmittelbar anziehenden und gewinnenden Eindruck empfangen? Die beiden Jünglinge, es sind Johannes und Andreas, sind zwar ihrem Berufe nach nur Fischer aus Galiläa, übrigens Menschen von durchaus gesunden und richtigen Sinnen, von israelitischer Erziehung und aus der Schule dessen, der mehr als ein Prophet ist, und endlich stehend in der Zeit und an dem Orte der höchsten und geistigsten Spannung ihres Volkes. Diese sind es, welche ihren Blick auf Jesum richten. Sollte es diesem Blick verborgen geblieben sein, daß dieses Wandeln sich unterschied von dem Gang der Menschen, die sie bisher gesehen? Hatten sie denn jemals ein solches Gleichgewicht gesehen zwischen Ruhe und Bewegung? Mußte ihnen nicht die Ahnung aufsteigen, daß in diesem Wandeln, welches keinen äußeren Zweck hatte und doch nicht müßig und eitel war, wiederum der richtige Schwerpunkt erscheine, der seit seinem ersten Fehltritt dem Menschen verloren gegangen ist? Das ist die Anziehungskraft, die von Jesu Selbstdarstellung ausgeht und den vorbereiteten Sinn der Empfänglichkeit in diesen Jünglingen weckt, so daß sie Etwas thun, wozu ihr Meister sie weder aufforderte, noch auch darin ihnen voranging; sie folgten der Spur des Wandelnden. Es ist ein heiliger Augenblick der ganzen Menschheitsgeschichte, es ist der Augenblick, in welchem die in der Wüste der Welt verirrte und verlorene Menschheit sich zuerst berührt mit dem, in dessen Herzen das Paradies Gottes wieder erneuert ist und der dieses neue Paradies angelweit aufthut, um die ganze Menschheit darin aufzunehmen. Es ist noch kein Wort gesprochen, weder von der einen noch von der anderen Seite, aber das neue Gottesleben zeigt sich auf Erden in seiner stillen Größe und Gewalt und die ahnende Seele der Menschen thut sich auf, um das heilige und selige Geheimniß aufzunehmen. Jetzt wird das Schweigen gebrochen, Jesus wendet sich um und fragt die Jünglinge: „was suchet ihr?“ Sein erstes Wort ist eine Frage an ihr Selbstbewußtsein. So war das erste Wort Gottes an den gefallenen Menschen gleichfalls eine Frage. „Wo bist du?“ fragt Gott den Menschen, der sich aus Furcht versteckt hatte. Nur so konnte dem Menschen wieder geholfen werden, daß er sich zuerst wieder sein selbst besann, daß er vor Allem inne wurde, er sei an einem Orte, wohin er nicht gehöre. Denn der Fall des Menschen ist in ihm selber geschehen, und nur hier und nicht außer ihm kann er wieder gut gemacht werden. Darum muß der Mensch mit der Selbstbesinnung beginnen und hier muß Alles, was zu seiner Rettung geschehen soll, eingeleitet und vollendet werden. Die ganze bisherige göttliche Führung des Menschengeschlechtes, der Juden nicht bloß, sondern auch der Heiden war eine immer neue und andere Wiederholung der Frage: „Mensch, wo bist du?“ Ein immer mehr verschärftes Dic cur hio? Es ist nicht undienlich, sich hier daran zu erinnern, daß derjenige unter den Heiden, der am ernstlichsten nach Gott gesucht hat, Sokrates meine ich, in keinem Stücke eine solche Meisterschaft besaß, wie in dem Fragen, welches darauf angelegt war, sich und Andere zur Selbstbesinnung zu verhelfen. Die beiden Johannesjünger haben die erste Gottesfrage soweit begriffen, daß sie da, wo sie stehen nicht bleiben wollen, daß sie selbst den, der ihnen bisher der höchste Halt gewesen ist, verlassen, sie suchen etwas Anderes. Aber Jesus verlangt, sie sollen sagen, was sie suchen; sie sollen sich selber über ihr Gehen, in welchem sie begriffen sind in einem dunkelen Drange ihrer Seele, klar werden und sich Rechenschaft geben. Also auch Jesus beginnt damit, daß er ebenso wie Gott die Selbstbesinnung fordert. So sehr liegt ihm daran, daß der Mensch sich selber klar und bewußt werde, ehe das rechte Verhältniß der Gemeinschaft zu ihm hergestellt werden könne, so wenig hat er es darauf angelegt, was Viele wähnen, Unverstandenes, Unvermitteltes an den Menschen heranzubringen oder wiederum in dem Objectiven, woran sich Judenthum und Heidenthum bisher gehalten, einen neuen Heilsweg zu bahnen. Die Jünger werden auch durch seine Frage nicht verwirrt, sie antworten ebenso bestimmt als bescheiden. Sie suchen ihn selbst, ihn möchten sie sehen und hören und zwar am liebsten in seiner Ruhe, in seinem eigenen Sein. Deshalb fragen sie: „Meister, wo weilest du?“ Indem die Jünger ihre Bitte in die Frage kleiden, lassen sie dem Herrn volle Freiheit. Jetzt zeigt sich aber, daß er nur für sie da war, und nur konnte auf die Offenbarung ihrer Empfänglichkeit gewartet haben, um sofort in ein näheres Verhältniß zu ihnen einzutreten. Mit dem Wort „kommet und sehet“ ladet Jesus sie alsbald ein, ihn zu begleiten nach seiner Wohnung, sie kommen und sehen, wo er sein Weilen und Bleiben hatte und blieben bei ihm desselben Tages, Freilich erfahren wir von dem, was bei dieser ersten Zusammenkunft verhandelt worden, nicht eine Silbe, nur berichtet der Eine von den Beiden, Johannes, welcher uns diese Vorgänge beschrieben hat, daß es um die zehnte Stunde gewesen, als die Jünger Jesum verlassen, und was sie darnach in den Abendstunden dieses Tages unternommen haben. Sie sind so erfüllt von dem empfangenen Eindruck, daß der Eine sofort seinen Bruder aufsucht und ihn mit den Worten: „wir haben den Messias gefunden“, noch an demselben Abend zu Jesu führt. Wir sehen deutlich, daß sich in den Abendstunden dieses Tages in den Jüngern Etwas entscheidet, was nicht mehr Wirkung jenes Zeugnisses ihres bisherigen Meisters sein kann, es muß dieses etwas in ihnen selbstständig Gewordenes sein, was von der Berührung mit Jesu ausgeht. Es ist daraus klar, daß das übrige Schweigen, welches in unserem Berichte herrscht, nicht aus Mangel an Inhalt, sondern im Gegentheil aus einer unaussprechlichen Fülle des Inhalts hervorgeht. In diesen Abendstunden, in welchen sich der empfangene Eindruck auswirkt, liegt für Johannes der geheimnißvolle Anfang eines neuen Lebens, und weil er weiß, daß dieser Anfang für die ganze Menschheit Bedeutung hat, darum hat er ihn beschrieben und zwar so, daß Alle, welche Sinn haben für göttliche Geheimnisse, eine Ahnung erhalten von dem, was hier beschlossen liegt, die Anderen aber vorübergehen und Nichts vernehmen. Die Abendstunde, wenn der Tag kühl geworden, war die Zeit, in der Jehova dem Menschen im Paradiese sein Angesicht zu schauen und seine Stimme zu hören gab. Die Abendstunde war die Feierzeit der ersten heiligen Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch. Es ist dies das Glockengeläute aus der Urheimat der Menschheit, in unsere jetzige Sprache schwer übersetzbar, aber einem reinen kindlichen Gemüth, in welchem das himmlische Heimweh wohnt, nicht unverständlich. In Israel ist die Erinnerung an diese erste Seligkeit des Menschengeschlechts rein und ungetrübt erhalten und die Hoffnung auf die Wiedererlangung dieses verlorenen Gutes immerdar gepflegt und genährt worden. Jehova hat zuerst ein Zelt und nachher ein Haus inmitten seines Volkes und dieser Bau ist so angelegt, daß als das Ziel dieses Wohnens Jehovas in Israel dieses erscheinen muß, daß Jehova endlich sein Volk in die Gemeinschaft seines Hauses aufnehmen will, so daß endlich wieder die Stäte Jehovas die Stäte der Menschheit werde, wie es im ersten Anfang gewesen ist. Zwar bleibt fürs Erste immer die Scheidewand aufgerichtet durch Vorhof und Vorhänge, aber die heiligen Sänger und Seher Israels lassen sich nicht durch diese Schranken abhalten, ihr sehnendes und hoffendes Auge ruht oft auf der Vollendung dieser Gemeinschaft Jehovas und seines Volkes. Dieser Sinn israelitischer Empfänglichkeit für die Offenbarung des seligsten Geheimnisses, welche dem Menschengeschlecht aufbehalten war, ist in den Jüngern des Johannes geweckt und mit diesem Sinn folgen sie Jesu nach und treten in jenen unvergeßlichen Stunden in seine Wohnung ein und bleiben daselbst, bis die Nacht anbricht. Kommen sollten sie und sehen, hatte ihnen Jesus gesagt, das Schauen seiner ganzen Erscheinung und seines Wesens und zwar inmitten der Umgebung, die er sich ausersehen hatte, sollte das Erste sein, erst dann sollte die für das Ohr vernehmliche Offenbarung folgen. Welches nun der Haupteindruck seiner Erscheinung gewesen ist, das hat uns der Evangelist Johannes selber beschrieben in dem bekannten Ausspruch: „das Wort ward Fleisch und zeltete unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit“ (s. Joh. 1,14). Es ist der Eindruck des wahren, leibhaftigen Wohnens Gottes unter den Menschen, als dessen Bild das Zelt und der Tempel Jehovas in Israel dastand, den die Jünger von Jesu empfangen: seine Freiheit, seine Ruhe, seine Kraft, seine Seligkeit ist die leibhaftige Gegenwart Gottes für die Jünger. Und das Erste, was er thut, ist dies, daß er ihnen diese seine, göttliche Herrlichkeit nicht bloß zeigt, sondern sie in die Wohnung derselben aufnimmt, so daß sie weilen, wo er weilet.
Nachdem sie Jesum verlassen haben, durchlebte Johannes in der Abendstunde den empfangenen Inhalt noch einmal und machte ihn sich innerlich vollends zu eigen, Andreas dagegen, nachdem er seinen Bruder Simon gefunden, führt er ihn noch an demselben Tage zu Jesu. Auf diesem einfachen Wege des inneren heiligen Triebes erweitert sich die Gemeinschaft mit Jesu. Den Simon blickt Jesus an mit scharfem Auge und durchschaut sofort sein ganzes Wesen: indem er ihn mit seinem natürlichen Namen angeredet, sagt er ihm, daß er einen neuen Namen empfangen werde; bisher heiße er Simon, in Zukunft solle er Kephas oder Petrus heißen. Da der Name in dem Sinne der heiligen Schrift nicht wie bei uns ein bloß conventionelles Zeichen für den Menschen ist, sondern als Ausdruck seines Wesens gilt, so deutet dieses Wort Jesu auf eine wesentliche Verwandlung, die mit Simon geschehen soll, und zugleich erfahren wir, worin diese Verwandlung bestehen wird. Simon ist er von seinem Vater genannt und so ist auch sein natürliches Wesen: Simon heißt Hören, und das schnelle, leichte Hören, die rasche Empfänglichkeit für Alles, was an ihn herankommt, ist die Eigenthümlichkeit dieses Mannes, So lange er aber die verschiedenen Stimmen der Welt hört, ist und bleibt er in sich unfest, wird leicht hin und her bewegt, jetzt aber, da er zu Jesu kommt mit gespannter Empfänglichkeit und verlangender Seele, von jetzt an wird er die Stimme Jesu hören und diese Stimme wird alle anderen Stimmen übertönen, und dieser Stimme, in welcher der unwandelbare Felsengrund der Welt ruht, wird er sich hingeben, bis er mit ihr Eins geworden ist und dann wird er sein und heißen Petrus der Felsenmann. Das ist die Weissagung Jesu über Simon in dem ersten Augenblick ihrer Gemeinschaft und wir werden sehen, wie sich diese Weissagung erfüllt.
Am folgenden Tage will Jesus nach Galiläa aufbrechen. Aber dieser Umstand hindert ihn nicht, in der Bildung und Stiftung seiner ersten Gemeinschaft fortzufahren. Nachdem der erste Grund gelegt ist, hält ihn Nichts ab, diesen Anfang selber weiter zu leiten. Den Philippus von Betsaida, einen anderen Galiläer, der demselben Kreise der Johannesjünger angehörte und durch die Anderen bereits hinlänglich vorbereitet war, beruft er geradezu zu seinem Nachfolger. Dieser findet einen anderen Genossen, den Natanael, und fordert denselben auf zum Anschluß an Jesum. Natanael ist eine höchst eigenthümlich ausgeprägte Persönlichkeit und eben dies giebt Anlaß, daß sich das Wesen Jesu in seiner Gemeinschaft noch herrlicher offenbart. Bei Natanael finden wir zuerst ein widerstrebendes Moment, er widerspricht dem Philippus und zwar knüpft sich dieser Widerspruch an einen Irrthum des Philippus über Jesum, Philippus sagt nämlich: „den Moses im Gesetz beschrieben und die Propheten, den haben wir gefunden, Jesum, den Sohn Josephs, den von Nazaret.“ Wir sehen hier zunächst ganz deutlich, daß Jesus nicht damit beginnt, diejenigen, welche er in seine Gemeinschaft aufnimmt, über seine göttliche Herkunft zu unterweisen. Philippus nennt ihn gerade so, wie das Volk ihn nannte, den Sohn Josephs (s. Luk. 3,23), er hält sich an die conventionelle Bezeichnung, an diese gesetzliche und bürgerliche Oberfläche, welche das göttliche Geheimniß der Geburt Jesu bedeckte. Ohne Zweifel weiß er auch nichts Weiteres und eben so wenig die Anderen, die er als seine Gleichgesinnten bezeichnet. Er nennt Jesum ferner den Nazarener und hat keine Ahnung davon, daß er eigentlich aus Bethlehem, der Stadt Davids, stammt. Wir müssen noch einen Schritt weiter gehen: auch Johannes der Täufer, obwohl er seit einigen Tagen weiß, daß Jesus der Verheißene ist, hat seine Vertrauten nicht eingeführt in die heiligen Erinnerungen an die göttlichen Geheimnisse, welche Jesu Geburt umschwebten und die ihm ohne Zweifel unverloren geblieben sind. Nichts desto weniger haben diese Jünglinge bereits die feste Ueberzeugung und bekennen es ihren Freunden, daß Jesus der Christ sei. Es bestätigt uns dies aufs Neue, daß der evangelische Weg des Glaubens an Jesum kein anderer, ist,, als der des Selbstsehens. Dieser Glaube will und soll nicht anders, als durch die Selbsterscheinung Jesu gestiftet und vermittelt werden. Auch das wollen wir bei diesem Bekenntniß des Philippus nicht außer Acht lassen, wie rasch sich in diesem Kreise der neuen Gemeinschaft ein Gemeinbewußtsein ausbildet. Johannes hat Nichts berichtet von einer Berührung des Philippus mit den Dreien, die Jesus in seine Gemeinschaft vor ihm aufgenommen hatte, und dennoch spricht er in ihrer Aller Namen: „wir haben den Messias gefunden.“ So gewiß können die Evangelien nur von denen verstanden werden, welche sich immer und überall in die inneren Voraussetzungen, auf denen die Ereignisse ruhen, hineinzudenken vermögen. Nur derjenige kann dem hier vorliegenden evangelischen Berichte folgen, der eine Anschauung gewinnt von der inneren Spannung und geistigen Bewegung der Gemüther, welche hier handelnd auftreten. Wer in dieses nicht ausgesprochene Geheimniß einen Blick gethan, dem ist die Voraussetzung jener Gemeinschaftsform in dem Bekenntniß des Philippus Selbstverstand, wie es auch die Erzählung selbst ansieht, und ein solcher Leser weiß eben an solchem Zusammentreffen seiner Voraussetzungen mit den Voraussetzungen des Berichterstatters am sichersten, daß er mit diesem auf dem gleichen Boden steht, daß er ihn also wirklich versteht.
Wir kehren zu Natanael zurück; dieser nimmt Anstoß an der nazaretanischen Abstammung Jesu, er selbst ist aus Kana in Galiläa und kennt das Städtchen Nazaret. So oberflächlich ist er nicht, daß ihn die Kleinheit des Ortes hinderte, der freudigen Ankündigung seines Freundes zuzustimmen, nicht zu klein ist ihm Nazaret, um dort etwas Großes gedeihen zu sehen, aber zu schlecht ist ihm Nazaret, um von da her etwas Gutes zu erwarten. Und das zeugt von einem sehr richtigen Blick, denn viel Unglauben hat Jesus angetroffen in seinem Volk, aber über den Unglauben derer von Nazaret mußte er sich verwundern (s. Marc. 6, 6). Wir sehen, Natanael ist ein Mann von sittlichem Urtheil und von dieser seiner Selbstständigkeit läßt er sich mehr bestimmen, als durch eine noch so große Zuversicht seiner Freunde. Indessen ist er doch auch nicht starrsinnig, denn als der Freund, ohne sich durch sein Bedenken stören zu lassen, in seiner Ueberzeugung beharrt und ihn auffordert, selbst zu kommen und zu sehen, da weigert er sich nicht. Philippus hält sich nicht auf mit Demonstrieren und Disputieren, sondern führt ihn den Weg, auf dem er selbst und seine Freunde zur Erkenntniß und Ueberzeugung gelangt waren. Und in dieser dringlichen und zuversichtlichen Weise des Freundes lag für Natanael, dem es doch schließlich mehr um die Wahrheit, als um seine Meinung zu thun war, ein bewegendes Moment, Natanael geht zu Jesus und als Jesus ihn kommen sieht, spricht er: „siehe, in Wahrheit ein Israelit, in welchem kein Falsch ist.“ Jesus geht dabei auf die Grundgeschichte des israelitischen Namens zurück: der dritte Erzvater, von dem das Volk seinen zwiefachen Namen geerbt hat, hieß zuerst Jakob und damit war seine natürliche List und Verschlagenheit bedeutet, nachdem er aber mit Gott gerungen und in diesem Kampfe seine bisherige Falschheit abgethan hatte, wurde sein Name in Israel verwandelt. Dieses neue, gerade, falschlose Wesen ist es, was Jesus in Natanael erkannt hat, und eben dasselbe war es ja auch, was uns aus den wenigen Zügen, die wir von ihm kennen gelernt, sofort entgegentrat. Denselben Charakter bewährter auch dieser Anrede Jesu gegenüber. Was er auch immer von dem Nazarener denken mag, das weiß er, seine vertrauten Freunde halten ihn für den Höchsten und Größesten, den die menschliche Zunge nennen kann, und diese Ueberzeugung seiner Freunde tritt mit einem solchen Gewichte auf, daß er nicht umhin kann, selber näher zuzusehen. Dieser nun ist es, welcher ihn mit einem solchen Lobspruch begrüßt. Müßten wir nicht erwarten, daß dieser Weihrauch seine klaren Sinne ein wenig trüben wird? Aber wir haben es hier mit einem Manne zu thun, der dieser in den meisten Fällen zutreffenden Berechnung spottet. Ohne ehrendes Beiwort richtet Natanael an den ihn selbst so hoch Rühmenden die Frage: „woher kennst du mich?“ Wenn, wir es bisher noch nicht gemerkt haben, hier muß es sich uns aufdrängen, die Männer, welche Jesus seiner ersten Bekanntschaft gewürdigt hat, sind aus dem kernhaftesten und edelsten Stoffe der Menschheit gebildet. Welch eine Haltung liegt in dieser Frage des Natanael, seinem ersten Wort an Jesum! Alles, was irgendwie moralisch verkrüppelt oder verstümmelt ist, wird gar nicht einmal im Stande sein, eine solche Klarheit und Festigkeit sich nur vorzustellen. Denn die Frage will offenbar sagen, daß er nur dann auf das Lob Jesu Etwas geben könne, wenn er vorher wisse, daß Jesus ihn wirklich erkannt habe. Aber war es nicht ein wenig unehrerbietig und stolz von Natanael, so den anzureden, der ihm von dem Täufer und seinen Freunden bereits als der Höchste bezeichnet war? Mußte sich Jesus nicht durch solche skeptische und reichlich selbstbewußte Sprache beleidigt fühlen? Freilich hätte er es auf die Gewinnung einer Auctorität abgesehen, die sich anders als durch ihre jedesmalige Selbstbewährung geltend zu machen liebt, die als eine fertige und abgeschlossene Majestät überall und vorab Huldigung verlangt, dann hätte er sich von diesen abgewandt und würde sich biegsamere und gefälligere Werkzeuge, an denen auch damals kein Mangel war, ausgesucht haben. Allein eben weil Jesus sein Ziel viel höher angelegt hat, so legt er auch das Fundament seiner Auctorität nicht auf jenem Boden, auf dem sich Herrschsucht und Selbstgefälligkeit einerseits und Gesinnungslosigkeit und Niederträchtigkeit andererseits lange genug die Hand gereicht haben, er legt die Basis seiner Auctorität so, daß keine Gemeinheit, weder eine hochmüthige, noch eine niederträchtige, ihn begreift. Darum ist ihm die Frage des Natanael nur eine Bestätigung seiner ihm ausgesprochenen Anerkennung, ihm ist dies wiederum die gerade Sprache eines ächten Israeliten, und wie er ihn gerade gefragt, so giebt er ihm eine gerade Antwort. „Ehelich Philippus rief,“ sagt Jesus, „sah ich dich unter dem Feigenbaum.“ Da Jesus mit diesem Worte seine Aussage über das ächte Israelitenthum Natanaels beweisen will, so kann das Weilen unter dem Feigenbaum nicht eine Zufälligkeit sein, sondern muß mit dem Israelitenthum einen inneren Zusammenhang haben. Man hat wohl vermuthet, Natanael habe unter dem Feigenbaum gebetet, allein einmal fehlt es an allem Grund zu dieser Annahme und dann ist das Beten in diesem Zusammenhang doch noch zu unbestimmt. Das Sitzen unter dem Feigenbaum hat in Israels Vergangenheit und Zukunft eine ganz bestimmte Stelle und eben dies wird bei dem, in welchem nach Jesu Aussage das Israelitenthum sich normal ausgeprägt hat, die rechte Bedeutung seines Weilens unter dem Feigenbaum sein, auf welches Jesus Gewicht legt. Das nämlich war die Höhe der alttestamentlichen Geschichte, daß ganz Israel sicher wohnete und ein Jeder saß unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum (s. l Kön. 4,25).
Von dieser Höhe ist Israel längst niederwärts gegangen, alle Sicherheit und Ruhe ist dahin, die zwölf Stämme sind in. alle Winde zerstreuet und wohnen in den Ländern und auf den Inseln der Heiden und stehen allesammt unter einer fremden Gewalt und von diesem Schicksal sind auch diejenigen nicht ausgenommen, welche in dem Lande der Väter wohnen. Darum sind alle wahren Israeliten in dieser Zeit Solche, welche auf den Trost und die Erlösung Israels harren. Diese Erlösung Israels ist nämlich verheißen und unter Anderem auch so, daß Israel wieder sicher wohnen soll, wie zur Zeit Salomos, des Sohnes Davids, ein Jeglicher unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum (s. Mich. 4, 4. Sach. 3,10). Wie? wenn nun ein Israelit im festen Glauben an die Erfüllung dieser Verheißung schon jetzt mitten unter den Trümmern der vergangenen Herrlichkeit diese Zukunft der Wiederherstellung so fest in sein Herz schließt, so klar vor Augen hat, daß er sich in ihr auf Momente so zu sagen heimisch macht und schon jetzt in solcher Vergegenwärtigung dieser Zukunft sich hinsetzt unter den Feigenbaum und ihm zu Muthe wird, als athme er schon die Luft der kommenden Erlösung und Ruhe? Und wie sollte nicht unter den Hoffenden dieser Zeit Einer in solche Stimmung versetzt werden können,, da diese ja vor Allem die Verkündigung des Täufers von dem Herannahen des Himmelreichs mit voller Seele mußten aufgenommen haben? Und wenn dieser Eine eben unser Natanael wäre, der in seinem geraden israelitischen Sinne die Kraft besäße, die Zukunft sich zur Gegenwart zu machen? In dieser Stärke seiner israelitischen Hoffnung hätten wir dann zugleich die genügende Erklärung der hohen Selbstständigkeit und Festigkeit, die wir an ihm bewundert haben. Zugleich ist klar, daß wenn er mit solchen Gedanken unter dem Feigenbaum saß und vielleicht auch sonst zu sitzen pflegte, dieses das innerste Geheimniß seines Lebens bildete, welches er selbst seinen Vertrauten nicht mitzutheilen wagte, weil er wußte, daß es bei ihm auf ganz eigenthümlichen Stimmungen beruhte, und deshalb zweifeln mußte, ob ihn Andere verstehen würden. Jedenfalls wird uns, wenn wir die Worte Jesu vom Sitzen unter dem Feigenbaum so verstehen, und die Berechtigung dazu haben wir aus der Schrift nachgewiesen, die plötzliche Wendung Natanaels von selbst um Vieles verständlicher werden. Nämlich je länger und fester sich dieser Israelit in seiner Selbstständigkeit behauptet und sich des Eindrucks Jesu erwehrt hat, desto entschiedener und entschlossener fällt er ihm jetzt zu, und aus seinem Munde vernehmen wir nun ein Bekenntniß, wie wir noch keines gehöret haben. Jetzt redet er ihn an mit dem ehrenden Wort Meister und sagt: „du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels.“ Derjenige, das ist nach unserer Voraussetzung der ihn bewegende Gedanke, derjenige, der mein innerstes, nur mir bekanntes Geheimniß durchschaut hat, dieses Geheimniß, welches eben in der Aufrichtung des verheißenen Reiches ruht, der kann kein Anderer sein, als der, welcher zum Haupt und Gründer dieses Reiches gesetzt ist, also der verheißene Sohn Gottes und König Israels selber. Hier sehen wir auch noch deutlicher, als bisher, wie sehr es Jesus auf Gegenseitigkeit in der Gemeinschaft mit ihm abgesehen hat, wie, ihm alle Selbstbewußtheit und Selbstständigkeit, wenn sie anders mit einem geraden Herzen und lauteren Sinn besteht, nur dazu dient, die Tiefen seiner Gottesfülle immer weiter aufzuschließen. Die Seele jenes Bekenntnisses Natanaels nennt Jesus Glauben; er sagt zu ihm: „du glaubest“, und bezeichnet ihn damit als den Ersten der Glaubenden. Es ist sehr der Mühe werth, auf diesen ersten Anfang eines neuen Sprachgebrauchs in dem Munde Jesu Acht zu geben. Es ist ja bekannt, welchen Umfang das Wort Glaube m der neuen Welt gewonnen hat, nicht bloß in der Kirche, sondern auch außerhalb ihres Gebietes. Der Mund Jesu ist es, der diesen Sprachgebrauch in die Welt eingeführet hat, denn vor ihm hat das Wort weder diesen Umfang, noch diese Tiefe, und eben hier finden wir dieses Wort von ihm zuerst gebraucht und merken auch sofort, wie er dieses Wort verstanden haben will. Den inneren Zustand des Jesum als den Sohn Gottes bekennenden Natanael nennt er Glauben schlechthin, er findet also nicht für nöthig, den Glauben nach seinem Object zu bestimmen. Meint er dies nun so, als ob bei dem Glauben das Object gleichgültig sei, welche Meinung uns gar nicht selten begegnet? Dies kann darum nicht sein, weil nicht bloß in diesem Zusammenhang der Gegenstand des Glaubens sehr bestimmt vorliegt, sondern auch das als allgemein bekannt vorausgesetzt werden darf, das ganze Postulat Jesu darauf gerichtet ist, für den Glauben, den er verlangt, einen bestimmten Gegenstand, nämlich seine eigene Person hinzustellen. Dieses nun verbunden mit jener Abwesenheit von aller objectiven Bestimmung des Glaubens, welche Abwesenheit uns an unserer Stelle auffällt, führt uns nothwendig zu dem Ergebniß, daß die objective Bestimmtheit des Glaubens in der eigenen inneren Natur und Zuständlichkeit des Glaubens liegen muß und eben deshalb nicht nöthig ist, sie eigens auszusagen und hinzuzufügen. Blicken wir nun zurück auf unsere Erzählung, so ist der Glaube in Natanael so entstanden, daß das Licht der Selbsterscheinung Jesu in den Mittelpunkt seines innersten Lebens hineinstrahlte und dort von ihm aufgenommen wurde. Diesen Zustand nennt Jesus Glauben. Da nun die Persönlichkeit Jesu durchaus unvergleichlich ist, so folgt auch, daß dieser Zustand durch nichts Anderes und Niemand sonst kann hervorgebracht werden, geschweige denn, daß er sich von selbst hervorbringen tonnte. So wie es also nur einen Gegenstand des Glaubens giebt, nämlich Jesum, so giebt es auch nur einen Zustand des Glaubens, nämlich eine Beschaffenheit des Inneren, die nur von Jesu kann angeregt sein und ihn selbst zum Inhalt hat. Ferner, so wie Jesus sich von der gesammten äußeren Welt unterscheidet, so muß sich auch der Glaube von der gesammten inneren Welt jedes Menschen deutlich aussondern, aber auch umgekehrt, wie Jesus außer uns das Centrum und Princip einer neuen Welt ist, so muß auch der Glaube Ausgang und Kraft einer neuen Welt im inneren Leben der Menschheit sein. Und eben den Anbruch dieser ganzen neuen inneren Welt kündigt Jesus an durch den bisher unerhörten Accent, mit welchem er das Wort des Glaubens betonte und dadurch das ganze Sprachgebiet nach innen hin unermeßlich vertiefte.
Eben deshalb weil der Glaube Alles umfaßt, worauf es Jesus mit seiner ganzen Erscheinung, mit all seiner Gemeinschaft angelegt hat, macht unsere Erzählung von dem Anfang dieser Gemeinschaft hier vorläufig Halt, denn mit Natanaels Glauben und Bekenntniß ist ein Ruhepunkt gewonnen. Dies kommt auch so zum Vorschein, daß Jesus, gehoben durch die rasche Entwickelung und Vollendung des Glaubens in der Seele Natanaels einen hellen tiefen Blick in die weitere Entfaltung des in ihm beschlossenen Geheimnisses thut und gleichsam auf einer Höhe der Gegenwart stehend vor den Augen Natanaels und der Uebrigen eine noch herrlichere und größere Zukunft enthüllt und mit dieser wunderbaren Fernsicht den ersten Act seiner Berufung zur Gemeinschaft zum Abschluß bringt. Auch wir müssen uns zu dieser heiligen Höhe erheben, um vollends zu übersehen, welch eine Gemeinschaft es ist, die sich hier vor unseren Augen angeknüpft hat. Jesus sagt dem Natanael: Größeres als dieses, was dich jetzt zum Glauben bewogen hat, wirst du schauen; und fährt fort: „wahrlich, wahrlich ich sage euch, von nun an werdet ihr den Himmel geöffnet schauen!“ Mit einer feierlichen Versicherung wendet sich Jesus an die Gesammtheit, welche er in seine Gemeinschaft aufgenommen hat. Da er selbst die Regel aufgestellt, keine überflüssige Versicherung zu geben, so muß seine feierliche Bekräftigung hier wie überall, wo er sie anwendet, eine innere Nöthigung haben. Diese Nöthigung liegt immer in der Sache, welche dem Auffassungsvermögen der Jünger so fern liegt, daß Jesus sein ganzes Ansehen aufbieten muß, damit seine Hörer sich durch ihre inneren Gedanken nicht verleiten lassen, von vornherein die Höhen und Tiefen der Worte Jesu nach ihrem engen Gesichtskreis zu bemessen und somit die Kraft und den Nachdruck derselben zu verkümmern. Freilich soll dieses Vertrauen, das er aufruft und in Anspruch nimmt, immer nur der Anfang sein, das Weitere wird sein, wie er ihnen eben hier verheißt, daß sie selber schauen sollen. Bei dieser Ordnung also, an welche er sie gleich Anfangs verwiesen mit den Worten: „kommet und sehet,“ wird es auch weiter sein Verbleiben haben; wie das Anschauen seiner Erscheinung sie zuerst in seine Nähe hineingezogen und in derselben festgehalten hat, so wird er dem Kreise der so um ihn Versammelten immer Neues und Weiteres zu schauen geben und durch dieses Schauen wird die neue Welt des Glaubens, welche Jesus schaffen will, in den Herzen der Jünger gegründet und ausgestaltet. Zunächst faßt er darin Alles zusammen, daß er ihnen versichert: den Himmel würden sie geöffnet schauen. Nur scheinbar weist er sie mit diesem Wort von sich selbst hinweg, denn, wie es auch der Zusammenhang schon mit sich bringt und er selber sein Wort gleich näher erläutert, steht die Oeffnung des Himmels mit der Erscheinung Jesu auf Erden in Verbindung, es ist das Aufthun des Himmels über ihm, und über Nichts und Niemand sonst, wie wir es auch bei der Taufe Jesu gefunden haben. Die Jünger selber werden ihn so schauen und erkennen, daß sie sich unmittelbar überzeugen, daß das, was der Täufer einst schaute, nicht etwas Vorübergehendes ist, sondern ein Bleibendes. Daß er es so meint, ergibt sich sofort aus den folgenden Worten Jesu. In diesen nämlich hat das Schauen ganz deutlich ihn selber zum Ausgang und Endpunkt. Die auf- und absteigenden Engel, welche Jesus erwähnt, weisen zurück auf den Traum Jakobs zu Betel, welches Betel er später als Israel mit seinem Hause eingeweiht hat (s. 1 M. 28 und 35). Die Himmelsleiter mit ihren Engeln stellte die Verbindung dar, in welcher Jehova im Himmel mit Jakob auf Erden stand; es sollte diese Verbindung als eine in stetiger Bewegung und Wirksamkeit stehende angeschaut werden. Aus diesem Grunde nannte Jakob die Stäte, an der ihm dieses Geheimniß enthüllt wurde, nicht bloß das Thor des Himmels, sondern geradezu Haus Gottes, nämlich Bet-El. Darin aber, daß er den Ort, wo ihm dieses Gesicht gezeigt wurde, mit diesem Namen benannte, lag zugleich die Unvollkommenheit angedeutet, mit welcher die Verbindung mit Jehova dermalen noch behaftet bleibt. Denn diese Verbindung und Gemeinschaft Jehovas, in welcher er selber wesenhaft ist und wohnt, ist nicht sowohl auf einen Ort der Erde angelegt, als vielmehr auf den Menschen, nämlich auf Jakob selber, den damaligen Träger der göttlichen Verheißung. Daß er nun das Wohnen Jehovas, worin sich doch die Verbindung zwischen Himmel und Erde erst verwirklicht, an einen Ort heftet und damit wiederum von sich hinwegweist, ist ein Zeichen, daß er noch nicht der Mensch ist, mit welchem Jehova diese wesenhafte Verbindung eingegangen ist, oder Israel, weil er doch auch nach dem Kampfe mit Gott noch immer Jakob heißt und ist, bedeutet mehr, als er wirklich ist, und weist vielmehr auf einen Anderen hinaus, der sein wird, was jener bloß bedeutet hat. Dieser wird eben der sein, bei welchem das, was Jakob im Traume schaute, volle und helle Wirklichkeit ist. Als Solchen bezeichnet sich hier Jesus; indem er sich zum ersten Mal den Namen giebt, mit welchem er sich später am liebsten bezeichnete, nämlich „Sohn des Menschen“. Mit diesem Namen bezeichnet er ebenso sehr seine Ungleichheit wie seine Gleichheit mit allen übrigen Menschenkindern. Nach biblischem Sprachgebrauch heißt nämlich der Erste der Menschen „der Mensch“ schlechthin, in ihm ist die ganze Menschheit natürlich zusammengefaßt. Wäre dieser Mensch in stetigem Zusammenhang mit dem Worte und Geiste Gottes, mit dem überweltlichen göttlichen Grunde seiner Existenz geblieben, so hätte er die irdische Basis seines Wesens zur geistigen und selbstmächtigen erhoben und das natürliche Haupt der Menschheit wäre zugleich ihr geistiges Haupt geworden. Der Mensch riß sich aber von diesem göttlichen Grunde seines Wesens los und somit versank seine natürliche Basis anstatt aufwärts emporzustreben in den Abgrund des Fleisches, welcher nunmehr jeden Sohn des Menschen in sich selber verhaftet und von der himmlischen und göttlichen Sphäre ausschließt. Somit sind alle Söhne der Menschen der Gewalt des Fleisches, des Todes und der Sünde unterworfen, ihr Weg geht nicht aufwärts, sondern niederwärts.
Indem nun Jesus sich den Sohn des Menschen nennt, sagt er damit zuerst aus seine allgemeine menschliche Natur, er stellt sich dadurch mit der ganzen gegenwärtigen Menschheit in Reih und Glied und gehört demnach wie wir Alle der gegenwärtigen Erde an und zwar in ihrer tiefen Himmelsferne. Jesus nennt sich aber nicht einen Sohn des Menschen, sondern den Sohn des Menschen, und sagt damit, daß nur in ihm allein und zwar im Unterschiede von allen Söhnen Adams sich das ganze volle Wesen der ursprünglichen Menschen fortsetzt. Ehe Adam Söhne zeugte, war er bereits aus der geistigen Selbstmacht seines Leibes und somit aus seinem Berufe zur Herrschaft über die ganze Erde gefallen, darum tragen alle Adamskinder wohl noch das Bild ihres Urvaters, welches eben das Bild Gottes selber ist, aber die Kraft, dieses Bild zu verwirklichen, ist in ihnen nicht mehr vorhanden. Diese Kraft, das anerschaffene Gottesbild zu verwirklichen, ist nur in Einem und darum heißt dieser Eine der Sohn des Menschen. Diese Eine ist der Sohn des Menschen, weil er nicht Same des Mannes, sondern Same des Weibes ist und zwar dieses durch persönliche Selbstwirkung des Gottesgeistes; er ist also der Sohn des Menschen dadurch, daß er der Sohn Gottes ist. Von diesem seinem geheimnißvollen Ursprung spricht Jesus hier nicht, wohl aber von einer vor den Geistesaugen der Jünger sich vollziehenden Wirkung, welche jenen verborgenen Ursprung zur Voraussetzung hat und immerfort offenbar macht. Des Menschen Sohn ist zwar auf der Erde und somit fern von dem Himmel, vom Orte Gottes, aber dieser Zwischenraum ist hier keine Trennung, sondern ist nur dazu da, um in jedem Augenblick überwunden zu werden, nämlich durch eine Bewegung, welche des Raumes mächtig ist, indem sie durch die göttlichen Boten bewirkt wird. Diese Bewegung hebt an mit dem Aufsteigen der Gottesboten, sie geht also aus von dem Menschensohne. Was liegt darin Anderes, als daß jede Regung des Willens, die in dem Sohne des Menschen sich nach oben erhebt, mit unhemmbarer Gewalt durch die Wolken dringt und zum Himmel kommt? Wenn nun, was von oben herniederkommt, wiederum die Boten Gottes sind, was Anderes werden sie bringen als den göttlichen, durch Nichts zu hintertreibenden Vollzug aller Willensregungen, die zum göttlichen Throne gelangt waren? Hier ist also eine Gemeinschaft zwischen Himmel und Erde, die, weil sie durch Nichts in der Welt gestört und gehemmt werden kann, einen außerweltlichen Grund haben muß; diese Gemeinschaft ist darauf angelegt, daß Alles, was menschlich innerhalb des Menschensohnes gewollt wird, göttlich innerhalb der Welt zum Vollzug kommt. Das heißt, so wie diese Gemeinschaft auf dem Wohnen Gottes in diesem Menschen beruht, so ist ihr Ziel die Vollendung dieses göttlichen Wohnens auf Erden. Oder hier ist das wahrhaftige Bet-El, das wahre Gotteshaus, auf welches der Traum Jakobs hingewiesen hat, und es schließt sich demnach diese höchste Aussicht, welche Jesus hier den Jüngern eröffnet, eng zusammen mit jenem Verlangen der ersten Beiden, welche nach der Wohnung Jesu fragen und dadurch den ersten bleibenden Eindruck von seiner Erscheinung erhielten, daß sie in seine Wohnung aufgenommen wurden.
Wir schließen diese Betrachtung über diesen Anfang der Gemeinschaft, welche Jesus gründet, mit einem Rückblick auf Natanael, der uns als eine so hervorragende Gestalt in dem Kreise der ersten Jünger begegnet ist. Wir fragen billig: hat Natanael auch im weiteren Verlauf diese seine Stellung behauptet? Und zu unserer Verwunderung erfahren wir, daß dies nicht der Fall ist. Natanael kommt unter diesem Namen nur noch ein einzig Mal in der evangelischen Geschichte vor (s. Joh. 21, 2) und zwar ohne weitere Auszeichnung. Freilich ist wohl so gut wie gewiß, daß er in der apostolischen Zwölfzahl der Bartolomäus ist. Er ist also in der Gemeinschaft Jesu geblieben, aber von Bartolomäus erfahren wir nichts Hervortretendes. Da wir aus Mangel an Zeit auf Einzelnes selten eingehen können, so würden wir auch hier diese Einzelheiten nicht berücksichtigen, wenn nicht dieser Umstand über das Wesen der Gemeinschaft Jesu, deren Anfang wir hier betrachten, einen neuen Lichtstrahl fallen ließe. Simon Petrus versinkt bei der ersten Berührung mit Jesu in horchendes Schweigen, kein Wort von seinen Lippen vernehmen wir, Natanael, der gerade Israelit, der die Zukunft der Propheten zu seiner Heimat macht, ist hier der lauteste und zuversichtlichste Bekenner; später dagegen nimmt Petrus das Wort; er wird der Sprecher und aus dem Munde des Natanael-Bartolomäus erfahren wir kein Wort. „Die Ersten werden die Letzten sein, und die Letzten die Ersten“, dieses neue Gesetz in dem wunderbaren Lebenskreise Jesu begegnet uns schon hier. Die Fülle und der Reichthum dieses Lebens ist so groß und mannigfaltig, so beweglich und unterschiedlich, daß wer das eine Moment rasch und sicher erfaßt, an der Auffassung eines anderen und folgenden Momentes sich mühsam abarbeiten muß, daß wer in dem einen Momente führend sein kann, in dem anderen wiederum folgen muß, daß wer das Eine mit sicheren fertigen Worten aussprechen kann, bei dem Anderen in schweigendes Staunen versinkt. Auf diese Weise gleichen sich alle Höhen und Tiefen in der Gemeinschaft Jesu immer wieder aus und es stellt sich immer wieder die eine Gleichung dar, daß sie Alle lernen und empfangen von dem Einen, der ihrer Aller Meister ist, und alle ihre Verschiedenheiten verschwinden vor dem einen Unterschiede, der sie Alle mit einander scheidet von dem, der sie berufen und erwählet hat.