Hiob - Kapitel 21
(Leander van Eß)
Hiob fordert seine Freunde auf, die Größe seines Elends zu beherzigen; und wie sehr die Erfahrung lehre, daß anerkannt ruchlose Menschen selbst bis an ihr Ende glücklich seyen.
1 Und Hiob hob an und sprach:
2 Höret wohl meine Einrede! Dieß waren also eure Tröstungen!
3 Ertraget mich, während ich rede; und nach meiner Rede magst du spotten.
4 Richte ich auf einen Menschen meine Klage? Und wenn auch - warum sollte ich nicht ungeduldig werden?
5 Blicket auf mich, und entsetzet euch; und leget die Hand auf den Mund.
6 Ja, denk' ich daran, so erbebe ich; und mein Fleisch ergreift Schauer.
7 Warum bleiben die Bösen am Leben, werden alt, und nehmen zu an Wohlstand?
8 Ihr Same besteht neben ihnen, gleichwie sie, und ihre Sprößlinge vor ihren Augen.
9 Ihre Häuser sind sicher ohne Furcht; und die Ruthe Gottes kommt nicht über sie.
10 Sein Rind empfängt, und wirft es nicht aus; seine Kuh kalbet, und verkalbet nicht.
11 Sie schicken aus gleich einer Herde ihre Kinder; und ihre Knaben hüpfen.
12 Sie jubeln bei Pauke und Zither; und freuen sich beim Klang der Schalmei.
13 Sie genießen im Glück ihre Tage; und in einem Augenblick steigen sie hinab in die Unterwelt.
14 Obschon sie zu Gott gesprochen: „Weg von uns! die Erkenntniß deiner Wege behagt uns nicht!
15 Was ist der Allmächtige, daß wir ihm dienen sollen; was nützet es uns, zu ihm zu beten?“
16 Ist nicht in ihrer Hand ihr Glück? - Der Rath der Bösen sey fern von mir! -
17 Wie oft verlischt der Bösen Leuchte, und kommt über sie ihr Verderben, das Loos, zugetheilt in seinem Zorn?
18 Wann sind sie wie Stoppel vor dem Winde, und wie Spreu, weggerafft vom Sturm?
19 - „Gott spart seinen Söhnen seine Schuld auf.“ - Vergelt' er ihm selbst, damit er's fühle.
20 Mit eigenen Augen sehe er sein Verderben; er selbst trinke aus dem Zornbecher des Allmächtigen!
21 Denn was kümmert ihn sein Haus nach ihm, wenn ihm die Zahl der Monde zugetheilt ist?
22 Wer will Gott Weisheit lehren, ihn, der die Hohen richtet?
23 Der Eine stirbt mitten in seinem Wohlstande, ganz ruhig und glücklich;
24 seine Heerdenplätze sind voll Milch; und getränkt ist das Mark seiner Knochen.
25 Ein Anderer stirbt mit kummervoller Seele; und hat Gutes nie genossen.
26 Zusammen liegen sie im Staube; und Würmer decken sie.
27 Siehe! ich kenne eure Gedanken, und die Urtheile, womit ihr mir Unrecht thut.
28 Denn ihr sprechet: Wo ist das Haus des Gewaltigen; und wo das Zelt der Wohnungen der Bösen?
29 Habet ihr nicht gefragt die Vorübergehenden? Ja, ihre Zeugnisse könnet ihr nicht verkennen.
30 Daß am Tage des Unglücks verschont bleibt der Böse; und am Tage des Zorns sie hinausgetragen werden.
31 Wer rügt ihm in's Gesicht seinen Weg? Und was er thut, wer vergilt's ihm?
32 Er wird zu den Gräbern hinaus getragen; und auf dem Hügel wachet er.
33 Sanft ruhen auf ihm die Schollen des Thales; und hinter ihm her zieht er alle Welt, und vor ihm her Unzählige.
34 Wie könnet ihr mich so nichtig trösten; ja, eure Einreden bleiben Bosheit.