Schlatter, Adolf - 16. Die innere Einheit der neutestamentlichen Zeugnisse

Jede Erinnerung an Gott erweckt in uns mit nicht auszurottender Stärke das Verlangen nach der Einheit, die aus dem unendlich vielen, was besteht und geschieht, das Ganze macht. Der eine Wirker aller Dinge und der eine Vollender aller Dinge, der uns einigt mit sich und miteinander, die Menschheit einigt unter dem einen Herrn, das ist Gott. In dem, was Jesus über seine königliche Sendung sagte, stellte er dies als das herrliche Ziel an den Schluß seines Wirkens: Eine Herde, ein Hirt! Diese Einigung entsteht nicht durch Gleichmachung; dazu würde sie nur dann, wenn sie durch Gewalt nur als Erweisung der göttlichen Macht entstände. Darum ist das vorchristliche Ideal der „Gleichheit„ von der christlichen Einheit ganz verschieden und mit den christlichen Überzeugungen unvereinbar. Gottes Größe wird durch seine Gnade sichtbar, die seinen Geschöpfen und seinen Kindern an seinem Reichtum Anteil gibt. Darum ist die von Gott gewirkte Einheit Gemeinschaft, in der jeder sein eigenes Leben und seinen eigenen Besitz hat und alle mit ihrer besonderen Art durch den einen und für den einen leben. Daher ist es ein Merkmal der Apostel und ihrer Schriften, das notwendig vorhanden sein muß, daß sie uns überall urwüchsiges, frei sich entfaltendes Leben zeigen, das aber nicht zur Vereinsamung und noch weniger zur Feindschaft und Entzweiung führt, sondern zur Gemeinschaft zusammenwächst, und dadurch offenbar macht, daß das Denken und Wollen aller aus demselben Grund entstand und demselben Willen gehorchte.

Anlaß zu der Frage, ob wirklich Eintracht die Apostel verbunden habe, gibt uns ihre herrliche Freiheit und Selbständigkeit reichlich. Wer in dieser ein Anzeichen dafür sieht, daß sie im Streit gegeneinander sprachen und gegeneinander arbeiteten, verhindert den glaubenden Anschluß an ihr Wort und bringt Bibelnot hervor. Besonders wichtig sind hier die Fragen, ob Matthäus und Johannes in der Weise, wie sie uns das Bild Jesu geben, einträchtig bleiben, ob Paulus sich von Jesus gelöst habe und eigene Wege gegangen sei, ob die Unterweisung der Christenheit, die Paulus gibt, und die, die Jak ob u s gibt, in einen Widerspruch zerfallen.

Matthäus und Johannes

Es ist der Kirche von jeher schwer geworden, Matthäus und Johannes nebeneinander zu schätzen und zu hören1). Die älteren Lehrer neigten sich dahin, in der Bewunderung für Johannes Matthäus herabzusetzen; heute ist der Zweifel stark, der um der ersten Evangelien willen Johannes halb oder ganz die Glaubwürdigkeit nimmt. Es hat jedoch noch keinen Theologen gegeben, der nur Johannes abgelehnt, den Bericht des Matthäus dagegen unverkürzt an- und aufgenommen hätte. Wer Johannes geringschätzte, hat stets auch am Wort Jesu bei Matthäus große Abzüge gemacht und dasselbe in Bilder und Übertreibungen aufgelöst und als Schwärmerei Jesu oder der Jünger abgelehnt und so sich selbst zum Zeugen für die Einheit der Evangelien gemacht.

Das Urteil über Johannes hängt zumeist von der Frage ab, wer Jesus gewesen ist, ob er der ewige, von oben gekommene Sohn Gottes ist. Der Christus, den uns Johannes beschreibt, ist ein Geheimnis, das die göttliche Gnade ins Dasein rief. Das ist er jedoch auch bei Matthäus, bei dem wir Jesus sagen hören, daß wie Gott selbst, so auch er für uns ein Geheimnis sei, weil er der Sohn ist, den nur der Vater kennt, Matth. 11,27. Die Einrede, das sage Jesus bei Matthäus nur ein einziges Mal, wäre töricht, weil Matthäus damit nicht eine augenblickliche Stimmung Jesu beschreiben will, sondern mit diesem Wort sagt, was Jesus in seinem inwendigen Wesen immer und bei allem war, was er sprach und tat. Zugleich enthält jenes Wort die Zusage Jesu an die Jünger, daß er sie in sein Geheimnis hineinschauen lasse. Er verspricht ihnen, den Vater zu offenbaren. Also hat er sich selbst ihnen nicht entzogen und verschlossen. Der, der erklärte: ich will euch den Vater offenbaren, nur dann kennt ihr ihn, der sprach auch, wie wir es bei Johannes lesen: wer mich sieht, der siehet den Vater, und gab seinen Jüngern Anteil an der Weise, wie er sich als Sohn zum Vater hielt.

Bei Johannes sagt Christus: ehe denn Abraham wurde, bin ich, 8, 58. Wie sollen wir uns ein solches Bewußtsein denken? Wie hat Ewigkeit Raum in einem menschlichen Geist? Auch bei Matthäus spricht Jesus beständig so, daß ihm niemand seine Worte nachsprechen kann, weil sie die Grenzen unseres Berufs und unserer Macht weit übersteigen. Niemand kann sich an seinem eigenen inwendigen Zustand verdeutlichen, wie Jesus unter den Menschen mit dem Bewußtsein stand: ich bin euer Richter; mein Wort bestimmt euch euer ewiges Geschick! Bei Matthäus nimmt Jesus die Ewigkeit, die vor uns liegt, an sich, als sein Herrschaftsgebiet, worüber er entscheidet; damit hatten auch die Worte, die uns Johannes erzählt, in ihm Raum.

Ewigkeit läßt sich von Gott nicht scheiden. Jesus trat als der Herr des Himmelreichs und Bringer aller Gaben Gottes vor die Menschen. Das konnte er nur dadurch, daß er sich mit Gott zusammenfaßte als der, der aus ihm all sein Wissen und Wollen und Wirken schöpft. Was aber Gottes ist, das ist ewig. Mit dem Wort: „Ich bin aus dem Vater hervorgegangen“ war das andere gegeben: „Ich bin nicht geworden in der Zeit.„

Der Unterschied in der Weise, wie uns Matthäus und Johannes Jesu Wort wiederholen, ist groß, sowohl in der Form, als im Inhalt. Ihrer Form nach sind die Worte Jesu bei Matthäus in sich geschlossene Sprüche, von denen jeder ein Ganzes ist und eine scharfgeschliffene Spitze hat; dazwischen finden sich die Gleichnisse mit ihren prächtig gezeichneten Figuren. Bei Johannes überwiegt dagegen das Gespräch, das oft durch längere Abschnitte einen einheitlichen Zusammenhang bewahrt. Es sagen uns aber auch die ersten Evangelien, Jesus habe tagelang das Volk gelehrt; sie meinen nicht, daß er den ganzen Tag Sentenzen oder Gleichnisse sprach, sondern die Tage waren durch Gespräche ausgefüllt mit wechselnden Gruppen aus der Menge um ihn her, wie es uns Johannes beschreibt. Die Verwendung des Spruches und des Gleichnisses zur Unterweisung der Jünger ergab zwischen Jesus und den anderen jüdischen Lehrern keinen Unterschied; er schloß sich damit an die Sitte an, da auch der Rabbi gern in Sprüchen und Gleichnissen lehrte. Johannes weiß auch recht gut, daß Jesus so geredet hat. Jesus sagt am Schlüsse seiner Unterweisung den Jüngern: ich habe euch das in Sprüchen2) gesagt, und fügt die Verheißung bei: ich werde euch hernach frei offen vom Vater reden, 16, 25. Und nach den letzten Worten sagen die Jünger erfreut: jetzt redest du frei offen und sagst keinen Spruch, 16, 29. Damit erklärt uns Johannes, warum er die Sentenzen und Gleichnisse zurückgestellt hat. Sie deuten den Gedanken wohl an, sprechen ihn aber nicht vollständig aus, sondern legen eine Hülle über das Wort. Eben dies heben auch die ersten Evangelisten an den Gleichnissen Jesu nachdrücklich hervor.

Die Wiederholung solcher Reden und Gespräche, wie sie Johannes gibt, nahm die eigene Selbständigkeit des Evangelisten in höherem Maße in Anspruch als die Wiedergabe eines Spruches. Was z. B. Jesus dem Nikodemus sagt, erfordert, wenn wir es lesen, wenige Augenblicke. Wir haben eine summarische Zusammenfassung dessen vor uns, was in jener Nacht zwischen den beiden Männern verhandelt worden ist. Der Anteil des Johannes an den von ihm berichteten Reden Jesu ist deshalb größer als der des Matthäus an der Bergpredigt, wie dies auch die durchgehende Einheit der Sprach- und Gedankenform in allen Teilen des Evangeliums und seine Verwandtschaft mit den eigenen Briefen des Johannes zeigt. So ist es freilich eine Sache des Vertrauens, wenn wir festhalten, daß das Wort Jesu auch im Munde des Evangelisten das eigene Wort Jesu geblieben ist und der Evangelist als sein Bote redet, der treu und lauter bei dem bleibt, was der Herr geredet hat. Er hat aber auf dieses Vertrauen darum ein Anrecht, weil er offenkundig Jesus über sich emporstellt und uns mit ihm als unserem und seinem Herrn und Gott verbinden will. Das Wort Jesu stand ihm über allen eigenen Gedanken.

Erwägen wir den Inhalt der Reden, so spricht Johannes nur von dem, was Jesus ist, und was es für uns bedeutet, daß er gekommen ist und wir ihn kennen. Bei Matthäus spricht Jesus dagegen über die mannigfaltigen menschlichen Anliegen, über Reichtum und Sorge, Ehe und Kinder, Zorn und Versöhnlichkeit, Beten und Fasten usw. Ja, er spricht wenig von sich selbst. Sein Wort stellt besonders drei Dinge ins Licht: was Gottes Gesetz ist, was Gottes Reich ist, und was sein Jünger sein und tun soll. Dieser Unterschied kommt immer zutage, auch dann, wenn die beiden Evangelien parallel gehen. Das Strafwort Jesu gegen Israel haben uns beide gegeben. Bei Matthäus lautet es: ihr habt Gottes Gesetz verworfen, bei Johannes: ihr glaubt nicht an mich. Beide geben die Rechtfertigung Jesu wegen seiner Heilungen am Sabbat. Bei Matthäus heißt sie: habt ihr nicht gelesen in der Schrift? oder: zieht nicht auch ihr das Schaf aus der Grube? Bei Johannes: ich vollbringe das Werk des Vaters. Spricht Jesus bei Matthäus von seiner Wiederkunft, so wird sein Wort zur Mahnung: wartet auf mich, wachsam, leidenswillig und treu. Bei Johannes überwiegt die tröstliche Zusage: ich komme zu euch. Auch die den Gleichnissen verwandten Bildworte gehen bei Johannes sofort in das Selbstzeugnis über: ich bin die Türe der Hürde, ich der gute Hirte, ich der Weinstock, ich das Brot. Bei Matthäus bahnt Jesus dem Volk und den Jüngern den Weg zum Anschluß an ihn. Darum geht sein Wort hinaus in die Schrift und in die Natur und unterweist sie, wie sie beide zu gebrauchen haben. Johannes geht wie in der Auswahl der Erzählungen, so auch in derjenigen der Worte Jesu über alles Vorbereitende hinweg zu dem, was ihm das eine Notwendige und Wesentliche an seiner Botschaft ist, und dieses eine Wesentliche ist ihm die Bezeugung dessen, was Jesus in sich selber ist. Aber er läßt für die vorbereitende Lehrtätigkeit Jesu, die mit der Bußpredigt die Hindernisse bricht, die den Menschen von ihm scheiden, und mit der Reichspredigt das Ohr weckt zum Verständnis des göttlichen Wirkens, den Raum vollständig frei. Was Jesus Nikodemus sagte, das hatte er im Tempel noch nicht gehört; das sagte ihm Jesus, als er allein in der Nacht bei ihm saß. Der Samariterin hat er erklärt: ich bin der Christus; in Jerusalem tat er es nicht. Und der weitaus größte Teil der Reden Jesu bei Johannes fällt in die Tage, in denen er das Volk zur Entscheidung führte für ihn oder wider ihn.

Nicht nur ein Unterschied, sondern ein Zwiespalt bestände zwischen beiden Evangelien nur dann, wenn uns Matthäus einen anderen Zugang zu Gott zeigte als Christus und jener Reichtum von Gebot und Unterweisung einen anderen Zweck hätte als den, die Hindernisse zu entfernen, die uns von Christus trennen, und uns den Weg zu ihm zu öffnen, oder wenn die Erkenntnis des Christus bei Johannes einen anderen Zweck hätte als den, uns Gott in allen Dingen Untertan zu machen, damit wir seine Werke tun. Nun ist aber bei Matthäus Gottes Herrschaft mit Jesus untrennbar eins. Mit seinem Erscheinen kommt sie, mit seiner Offenbarung wird sie offenbar. Ob der Mensch ihn aufnimmt oder verwirft, das entscheidet über sein ganzes Verhältnis zu Gott. Und Johannes stellt, obgleich er die ganze, ins einzelne gehende Bußpredigt Jesu nicht wiederholt, doch in das heilste Licht, daß der Weg zu ihm darin besteht, daß wir die Wahrheit tun, und das Bleiben bei ihm bedeutet, daß wir seine Gebote halten, deren Summe die Liebe ist.

Das verschiedene Maß, in das die beiden Evangelisten Jesu Wort fassen, macht die Verschiedenheit ihrer inneren glaubenden Verbindung mit Christus wahrnehmbar. Die älteste Christenheit war zunächst mit ihrer ganzen Seele der Zukunft zugekehrt. Vom kommenden Tag Gottes erwartete sie die Offenbarung der Herrlichkeit des Christus und fand ihren Beruf darin, sich auf ihn zu rüsten im Gehorsam gegen sein Gebot. Darum war ihr das Wichtigste am Evangelium: was hat Jesus von denen verlangt, die nach seinem Reiche trachten? was machte er seinen Jüngern zur Aufgabe? was findet bei ihm Lob und Lohn? Die Herrlichkeit, die Jesus in sich selber trägt, und seine Einheit mit dem Vater, die er als der Sohn besitzt, werden sie dann sehen und erkennen, wenn er kommt und sie wieder bei ihm sind. Genug, daß seine Werke ihn als den Gesalbten Gottes kennzeichnen, dem die Kraft und das Reich gegeben sind. Diese Stellung der ersten Gemeinde gab dem Evangelium des Matthäus seinen besonderen Charakter und seine Grenze. Der Fortschritt, den die Kirche durchlebte, bestand darin, daß ihr das, was sie an der Kenntnis Jesu bereits besaß, immer heller und größer wurde. Ihr Blick kehrte sich nicht von der Zukunft ab; sie blieb an das zukünftige Werk Jesu mit ihrer Hoffnung gebunden. Aber sie lernte es ermessen und schätzen, was es sagen wollte, daß sie Jesus kannte. In Johannes haben wir den reichen Ertrag dieses inneren Wachstums der apostolischen Kirche vor uns. Mit vollendeter Freude und unendlicher Zuversicht ruht Johannes in dem, was er an Jesus gesehen hat und in seiner Erkenntnis besitzt, und ist überzeugt, daß Gott uns mit ihm alles gegeben hat und uns nichts Größeres schenken kann als ihn. Ihn kennen, ihm glauben, ihn lieben, in ihm bleiben, das ist das höchste Gut, das ist das ewige Leben als unser Eigentum schon in der Gegenwart. Darum hebt er aus dem „Wort Jesu nur das hervor, was uns sein Inwendiges zeigt und uns ihn als Gottes große Gabe erkennbar macht.

Auch im äußeren Hergang des Lebens Jesu finden sich zwischen Matthäus und Johannes Unterschiede. In allen Evangelien kommt dem, was in Jerusalem geschah, die entscheidende Wichtigkeit zu, weil der Blick aller nicht auf einzelne Juden oder auf einzelne jüdische Gemeinden, sondern auf die gesamte Judenschaft gerichtet ist. Diese besaß aber in Jerusalem das Haupt, mit dessen Entschluß das Verhalten der ganzen Judenschaft gegeben war. Daß sich das Judentum und das Christentum voneinander schieden und zwei völlig getrennte Gemeinden neben- und gegeneinander standen, das war die Folge aus der Tat Jerusalems. Johannes zeigt uns aber Jesus schon vor dem Passah seines Todes mehrmals in Jerusalem, jedoch nur für die Feste, nicht zu bleibendem Aufenthalt.

Den größeren Teil seiner Zeit hat Jesus auch nach Johannes in Galiläa zugebracht. Neben den Kampf in Jerusalem, Kp. 5, stellt er sofort die Entscheidung in Galiläa, Kap. 6. Dort sind die zahlreichen Jünger Jesu, dort die Volksscharen, die ihn zum König machen wollen, und die Brüder ärgern sich, daß er sich in Galiläa verstecke und Jerusalem versäume. Wiederum beschreibt uns Matthäus nicht deshalb bloß den letzten Zug Jesu nach Jerusalem, weil er sich vorher nie um dasselbe gekümmert und ihm sein Wort nie gebracht hätte, sondern sagt feierlich, daß Jesus Jerusalem seine Liebe und Hilfe oftmals angeboten habe, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel nimmt, doch umsonst. Die anderen Evangelisten sprechen deshalb einzig von der letzten Wanderung Jesu nach Jerusalem, weil sie sein Gang in den Tod gewesen ist und Jesus mit ihr die Kreuzestat vollbracht hat. Darum kam er auch nach dem Bericht aller Evangelisten damals nicht mehr, um den Männern der heiligen Stadt Gottes Reich zu verkündigen und mit geduldiger Arbeit um ihre Seele zu werben, ob vielleicht der Glaube in ihnen erwachen möchte. Er zog vielmehr in der klaren Gewißheit in die Stadt, daß er damit in das Leiden trete. Zwischen ihm und den Führern Jerusalems war damals schon alles entschieden, so daß er sofort sein Urteil über sie sprach, wie auch sie nicht mehr in Unsicherheit und Zweifel standen, sondern wußten, was sie wollten. Daraus, wie es kam, daß in Jerusalem damals die Entscheidung bereits getroffen war, hat Johannes ein Hauptthema seiner Erzählung gemacht und gezeigt, wie Jesus den Kampf mit der Sünde Jerusalems führte und seine Sendung ihm mächtig bezeugte, und wie das Ergebnis seiner Arbeit kein anderes war als das, das uns alle Evangelien berichten: daß die letzte Wanderung nach dem Tempel zur Zeit des Passahfestes für Jesus bewußt und frei zum Gang in den Tod geworden ist.

Starke Unterschiede zeigen sich in der Datierung der Ereignisse. Die Tempelreinigung steht bei Matthäus am Ende, bei Johannes am Anfang seiner öffentlichen Wirksamkeit. Über den Todestag Jesu geben die ersten Evangelien an, Jesus sei in der Osternacht verraten worden, nachdem er mit seinen Jüngern das Passah gehalten habe. Johannes enthält darüber keine ausdrückliche Angabe, hat sich aber wahrscheinlich den Verlauf der Ereignisse so gedacht, daß Jesus an dem Tage gekreuzigt wurde, an dessen Abend Israel das Oster-lamm schlachtete, vgl. 13, 1. 29; 18, 28; 19, 14. 31.

Mit dem Fehlen einer sicheren Chronologie bewahren aber beide Berichte nur den ursprünglichen Typus der apostolischen Überlieferung, die keine Chronologie hergestellt hat, sondern bei der Fassung der Erinnerungen an Jesus einzig auf den inneren Gehalt der Vorgänge achtete.

Auch die Sprache des Buches ist sehr merkwürdig wegen ihrer kräftig ausgeprägten Originalität. Schlicht und schmucklos, aber durchsichtig, ja kindlich einfach spricht Johannes mit griechischen Worten seine Gedanken aus und bewahrt doch überall in der Auswahl der Worte und Zusammenfügung der Sätze den Ton der Sprache Jerusalems. Er kennt auch die Verhältnisse und Zustände der heiligen Stadt vortrefflich3). Das dortige Gemisch von Ehrgeiz und Frömmigkeit, von heißem Verlangen nach Gottes Hilfe und von stolzem Übermut, die Stellung der Pharisäer gegenüber den Obersten, die Erwartungen, die das Volk von Christus hegte, das Verhältnis zwischen Kajaphas und Hannas, zwischen dem Statthalter und den regierenden Priestern, dies alles wird mit durchdringendem Blick zur Darstellung gebracht. Dergleichen erfindet man aber nicht, auch nicht mit der größten dichterischen Gestaltungskraft. Der Evangelist hat das jüdische Gemeinwesen vor Jerusalems Zerstörung selbst gesehen und gründlich gekannt.

Er scheidet sich allerdings entschlossen von „den Juden“. Ihre Feste sind „der Juden Feste“, nicht die seinigen, und ihr Gesetz ist „der Juden Gesetz„, nicht das seinige. Aber diese Scheidung rührt nicht daher, daß er selbst seiner Abkunft nach ein Grieche wäre, sondern daher, daß er alles an Christus mißt. Weil der Jude sich Christus widersetzt, ist er ihm und der Kirche fremd. Darum steht der Evangelist auch über dem Gesetz. Woher, fragt er, kommt das Gesetz? Kommt es von Christus? Nein! es ist durch Mose gegeben; so ist er von ihm gelöst. Denn ihn erfüllt und regiert nur das, was durch Christus geworden ist. Deswegen übersieht er jedoch Israels Berufung zum Volke Gottes keineswegs. In Israel befindet sich die Herde, der Jesus zum Hirten gegeben ist. Sein Name lautet „der König Israels“. Für „das Volk„ ist er gestorben, und Gottes Zusage, die den Hohenpriester Israel zum Quell des Lichts und Rechts setzte, brach nicht, auch damals nicht, als der Hohepriester Jesu Tod beschloß; auch da sprach er weissagend Gottes Willen aus. Mose ist Zeuge für Jesus, und es bedarf nichts anderes, als daß Israel Mose glaubt, so wird es auch Christus erkennen. Die Schrift kann nicht gebrochen werden4). Von der Geringschätzung Israels und seiner Berufung und Begabung, die ihm von Gott zuteil geworden ist, ist der Evangelist ganz frei; aber er ruht nicht in dem, was Israel gewesen ist und empfangen hat, sondern allein in dem, was Jesus war und der Welt gegeben hat. Und darin liegt nichts Unapostolisches, das ist vielmehr die kräftige Wirkung und reife Frucht der Verbindung, die Jesus zwischen sich und seinem Jünger gestiftet hat5).

Paulus, der Jünger Jesu

Beides wissen wir ganz sicher, warum Paulus durch das, was er von Jesus sah und hörte und was Petrus ihm bezeugte, nicht Christ geworden ist, und warum er Christ und ohne Zwischenraum, ohne daß dazu ein neues Erlebnis notwendig gewesen wäre, sofort auch Apostel geworden ist. Jesus hat er abgewiesen und seine Gemeinde zu vernichten gesucht, weil er Pharisäer war. Sein Gottesdienst bestand in der Erfüllung des Gesetzes, und seine Hoffnung begehrte die Herrlichkeit, die Israel dann in Aussicht gestellt war, wenn der Verheißene komme. Mit beidem stritt Jesu Person und Werk, und das Kreuz Jesu hatte diesen Zwiespalt offenbar und unversöhnlich gemacht. Zum Christen wurde Paulus dadurch, daß er, wie er sagte, „Jesus sah“. Indem sich ihm Jesus als den zeigte, der in Gott lebt und wirkt, war Paulus das ganze Evangelium des Petrus bestätigt und er selbst in ein Sterben versetzt, von dessen schmerzhafter Tiefe und Gründlichkeit wir uns keine zureichende Vorstellung machen können. Mit dem Anblick Jesu war ihm seine ganze Weisheit und Erkenntnis Gottes und seine ganze gottesdienstliche Anstrengung und Gerechtigkeit zerbrochen, da er sich nun als den Bestreiter des Christus und Widersacher Gottes erkannte. Aber mit diesem Sterben war ihm zugleich das Leben gewährt, da der Christus ihm nicht als der Rächer seiner Sünde entgegentrat, sondern ihn in seinen Dienst berief. Damit hatte er die Herrlichkeit seiner Gnade, die den Schuldigen aufrichtet, an Paulus offenbart. Das Ergebnis seiner Bekehrung war darum, daß er von nun an ein Glaubender war, von sich gänzlich wegsah, kein eigenes Recht und keine Werke hatte, auf die er sich stützen könnte, und sich mit ganzem Willen und jedem Gedanken an Jesus hielt und in ihm Gottes und seiner alles neu machenden Gnade gewiß war.

Darum wurde Paulus nie von dem Gedanken berührt, er könnte sich von Jesus trennen, ihn ersetzen oder überbieten. Wenn man Paulus als den Anfänger einer neuen Religiosität oder als den Stifter einer eigenen Kirche beschrieb, so war das eine völlig ge-schichtslose Konstruktion, die alles, was Paulus selbst war, dachte, wollte und tat, zudeckte.

Alles, was er in sich selbst trug und durch sein Wirken in die Welt hineinlegte, war von der Gewißheit getragen, daß er im Christus lebe, denke und handle, mit ihm geeint, von ihm regiert, von seiner wirksamen Gnade mit dem beschenkt, was er besaß.

War aber Paulus nicht in vielem ganz anders als Jesus? Wie könnte es denn anders sein? War denn Jesus Pharisäer, zuerst im Streit mit Gott und dann erst bekehrt? War Jesus ein Apostel? War nicht sein Ziel das Königliche, weshalb er die Seinen, auch Paulus zu seinen Aposteln machte? War er nicht mit unzerreißbarer Treue mit seinem Volk geeint, weil er im Kreuz die Tat erkannte, durch die er den Gehorsam, der das Merkmal des Sohnes ist, vollendete? Darum hat Paulus niemals daran gedacht, er könnte oder müßte dasselbe sagen, was Jesus gesagt habe, und dasselbe tun, was Jesus getan hatte. Er hat gesagt, daß ihm, jedoch nicht nur ihm, sondern zugleich allen gewährt sei, „mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit Jesu zu spiegeln und dadurch in sein Bild verwandelt zu werden„, 2. Kor. 3, 18, hat aber dabei nie an eine Nachahmung und Gleichmachung mit Jesus gedacht, sondern daran, daß die Barmherzigkeit Jesu auch in seinem Herzen glühte und die Kraft Jesu sich in seinem Wirken offenbarte und die Verherrlichung Gottes auch durch seinen Dienst im Leiden und im Siegen geschah.

Paulus war ein mächtiger Denker; das war aber auch Jesus, und in der Weise, wie beide aus ihrem Denken ihren Gottesdienst machten, sind sie eins. In dem tiefen Zwiespalt zwischen der griechischen Denkweise und der Lehrarbeit Jesu stand Paulus restlos auf der Seite Jesu, weil er sein Denken nie den selbstischen Wünschen dienstbar machte, die nach der Bereicherung unseres Bewußtseins und der Steigerung unseres Vermögens begehren, sondern es völlig von der Liebe empfing, die ihren schauenden Blick in Gottes „Werk hineinsenkt, weil sie ihm zu dienen begehrt.

Paulus stand immer wieder sinnend vor dem Kreuz Jesu still und hat mit neuen Worten ausgesprochen, was damit geschehen sei, daß Gott seinen Sohn ans Kreuz sandte. Er verweilte dabei nicht bei den Menschen, die Jesus das Kreuz bereiteten, auch nicht bei der Tiefe der Schmerzen, die Jesus litt, sondern einzig beim Wirken Gottes, dem richtenden und dem helfenden, durch das er seine Gerechtigkeit offenbart und seine Gnade gewährt, und seine Gerechtigkeit und seine Gnade ist ihm ohne Riß und Zwiespalt der einige Wille Gottes, der im Kreuz für alle wirksam ist. Das war aber alles auch das Merkmal der Kreuzestat Jesu, der den Kelch aus der Hand des Vaters nahm und darum frei von den Menschen in den Tod ging und ihn als Gericht, als Verlassenheit von Gott, erlitt und zugleich in ihm den Grund zur vollen Freude fand, weil er so die Größe Gottes sichtbar machte, die aus der Schuld den Empfang der Vergebung und aus dem Sterben das Leben macht.

Aber Paulus hat doch eine Rechtfertigungslehre erfunden! Das ist eine kindische Rede. Denn Paulus lag es nicht an einer Lehre, die über die Sünde und die Gerechtigkeit Reden hält, sondern daran, daß sich Gottes Gerechtigkeit in wirksamer Macht offenbare, der Sünde das Ende bereite und die Gerechtigkeit zu dem mache, was unser Verhältnis zu Gott und zueinander bestimmt. Woran lag es denn Jesus, als er zu den die Frucht verweigernden Weingärtnern ging, um sie zu retten? Lag es ihm nicht daran, daß ihre Schuld begraben sei und die Gerechtigkeit ihnen zur Rettung werde? Woran dachte er, als er seinen Jüngern seinen Leib und sein Blut als sein Erbe hinterließ mit der Verheißung, nun seien sie in Gottes neuen Bund gebracht? Die Einsetzung in den neuen Bund durch das Kreuz Jesu ist nichts anderes als die durch sein Blut für uns gewonnene Rechtfertigung.

Die Gerechtigkeit wurde Paulus dadurch gegeben, daß er den Glauben an Jesus empfing. Er gewann sie nicht durch das Gesetz und nicht durch seine Werke, auch nicht durch die, die er nach dem Befehl des göttlichen Gesetzes getan hatte. Denn er hatte mit dem Gesetz nicht den Aufstieg zu Gott, sondern den Sturz gewonnen und war mit ihm nicht zum Gerechten, sondern zum Sünder geworden, und er erkannte in dem, was mit ihm geschehen war, nicht nur sein persönliches Erlebnis, sondern die für alle gültige Regel, für alle, die “Fleisch“ sind, die das in sich, tragen, was unsere Natur uns gibt Daß Jesus seine Jünger zum Glauben führte, ist offenkundig; hat er aber nicht mit ganzem Ernst von ihnen verlangt, daß sie seine „Worte tun und sich von allen geschieden, die nicht den Willen seines Vaters tun? Paulus hätte mit dem Preis des Glaubens die Bahn Jesu verlassen, wenn er die Absicht gehabt hätte, einen bequemen Heilsweg herzustellen, der die Tat umgeht und die Gemeinschaft mit Gott durch Gedanken herstellt. Mit dieser Verderbnis des Christentums hat aber Paulus nichts zu tun. Er blieb in seiner ganzen Wirksamkeit der entschlossene Widersacher aller derer, die zum Ziel der Evangelisation die Mitteilung von Lehren und Erkenntnissen machten. Mit dem Preis des Glaubens sagte er, daß unser Anteil an Gott nicht an unserem Wollen und Laufen, sondern an Gottes Wirken hänge, das uns im Christus erfaßt. Damit bewahrte er die Frömmigkeit Jesu. Denn auch Jesus hat das, was die gebende Güte Gottes tut, über alles gestellt, was der Mensch wirkt, und seine Gnade als vollkommen beschrieben, weshalb er dem Glauben die unbegrenzte Verheißung gab. Mit dem Glauben hat Paulus die Liebe empfangen und nie eine andere Pflichtformel gebildet als die, die die Regel der Liebe auf die eben jetzt vorhandene Lage anwendete. Damit hat er das Gebot Jesu erfüllt. Darum war er sorglos ohne Unnatur, wie es Jesus war, vermochte willig zu leiden und selig zu sein, wie es auch Jesus konnte, war zum Sterben täglich bereit und kämpfte entschlossen für sein Leben, gab die natürlichen Güter preis und machte daraus nie ein Verdienst oder einen Ruhm. Indem er mit Lust auch die kleinen Aufgaben erfaßte und sich in enge Verhältnisse fügte, bewahrte er die zur Demut verpflichtende Regel Jesu unverkürzt, und von jedem Gedanken an Herrschaft blieb er frei. Er sah in der herrlichen Freiheit, die er besaß, das Mittel, die anderen zu befreien, und hielt auch bei aller Freiheit seiner gebenden Liebe fest, daß ihr erstes Merkmal der Gehorsam sei. Darum verlor sie auch nie die scharfen Waffen, mit der sie jede Unwahrhaftigkeit und Bosheit abwies. Die Einheit zwischen der Gerechtigkeit und der Liebe zerbrach Paulus nie. Das alles hat Paulus von Jesus empfangen; das war das Erbe, das ihm durch seinen Anteil an der Gemeinde von Jesus her zukam.

Die Hoffnung, die Jesus seinen Jüngern gegeben hatte, trug Paulus unverkürzt in sich. Sie war auch in ihm eine echte Hoffnung, nicht bloß ein träumendes Sinnen und Denken über das, was kommen werde, sondern ein entschlossener Wille, der mit aller Kraft nach der neuen Offenbarung Jesu verlangte. Ihre Wurzeln waren nicht nur die Leiden der Gegenwart, sondern Gottes jetzt der Welt gewährte Gnade und Jesu vollbrachtes Werk. Darum verweilen die Gedanken des Paulus nicht bei der eigenen Seligkeit und schufen keine Lehre vom Schicksal der Seelen nach dem Tod. Da er oft in Todesgefahr war, hatte er Anlaß, sich Gedanken über das zu machen, was ihm das Sterben bringe; es genügte ihm aber die Gewißheit, daß seine Verbundenheit mit Christus durch den Tod nicht zerstört werde. Da er bei Christus sein wird, ist ihm in der himmlischen Gottesstadt die Wohnung bereitet, und an der Vollendung des Werkes Jesu auf Erden wird er dadurch teilnehmen, daß er aufersteht. Wie in der Weissagung Jesu, so stehen auch in der des Paulus das Gericht und die Leben und Herrlichkeit schaffende Herrschaft Jesu beisammen; und der Blick auf den kommenden Richter brachte Paulus nicht lähmende Angst, sondern die unermüdliche Treue. Darum riß ihn seine Hoffnung nicht von der Gegenwart los, sondern machte ihn zum Sehen wach, zum Handeln fähig, zum Arbeiter, der in keinem Erfolg ausruhte, sondern vergaß, was hinter ihm war, und das Ziel in unausdenkbarer Größe vor sich sah. Der offenkundige Zusammenhang, der zwischen der Hoffnung des Paulus und der Verheißung Jesu besteht, macht sichtbar, wie völlig Paulus in der Macht Jesu stand.

Hat aber Paulus nicht die Griechen zu Jesus geführt und aus ihnen eine Kirche gemacht, während Jesus während seines irdischen Wirkens keine Kirche hergestellt und keine Heidenmission betrieben hat? Die Art, wie Jesus Jude war und zugleich die Judenschaft richtete, kehrt in der Art, wie Paulus Jude war und sich mitsamt der ganzen Christenheit von der Judenschaft schied, unverändert wieder. Beide haben die alte Gemeinde mit ihrer Schrift, ihrem Gesetz und ihrer völkischen Verfassung als Gottes Wort geehrt, und beide sich von der Judenschaft durch das Bußwort getrennt, das die jüdische Sünde nicht beschönigt, dem jüdischen Unglauben widerstand und in dem Riß zwischen dem inneren Zustand und der religösen Gewöhnung das Elend des Judentums sah. Für alle Völker hat Paulus die Kirche nicht deshalb geöffnet, weil er Antisemit war, noch weniger weil er eine Vorliebe für die Griechen hatte. Er hat den Griechen nicht über den Juden und auch nicht über den Barbaren gesetzt, sondern er setzte über die Schuld und die Not aller die göttliche Gnade, die jeden Menschen retten will6).

Als er zwar nicht als der einzige, wohl aber als der stärkste Arbeiter die Kirche der Griechen aufbaute, mußte er reichlich neue Lehre und neue Sitte schaffen. Daß aber eine Kirche entstand, das war nichts Neues, nicht das, was erst durch Paulus zustande kam. Wäre es neben dem Ziel Jesu etwas Neues gewesen, so hätten schon Petrus und die anderen Jünger den Weg Jesu verlassen. Denn die Kirche bestand, schon bevor Paulus bekehrt worden ist. Die Kirche gehört aber zum Christus wie die Herde zum Hirten, wie die Knechte zum Herrn, wie das Volk zum König, wie zur Herrschaft Gottes die, die in sein Reich eingehen. Indem sich Jesus das königliche Amt gegeben wußte, wurde er zum Schöpfer der Gemeinde, und da das kommende Reich die vollkommene Offenbarung der Herrlichkeit Gottes und die Fülle seiner Gnade bringen wird, kannte das Ziel Jesu keine Grenzen, auch wenn ihn sein gegenwärtiger Beruf vollständig an die palästi-nische Judenschaft band. Das Ziel, für das er lebte und starb, war, daß „der Wille Gottes auf der Erde wie im Himmel geschehe“. Als darum die Gemeinde entstand und auch die Griechen umfaßte, sahen alle Jünger und Paulus mit ihnen darin die Wirksamkeit des vom Himmel her regierenden Jesus. Darum hat Paulus die Kirche nie als sein Werk betrachtet, sondern sie immer als das Werk und Eigentum Jesu geehrt 7).

Die Gemeinschaft zwischen Jakobus und Paulus

Der Reichtum der ersten Gemeinde in Jerusalem stellte neben Petrus und Johannes noch einen dritten Mann so vor die Kirche, daß er als „ihre Säule“ von allen gesehen und verehrt wurde, Gal. 2, 9. Das war der Bruder Jesu, Jakobus. Auch ihm gab nicht nur die Verwandtschaft mit Jesus, sondern ein eigener geistiger Besitz eine selbständige Wirksamkeit. Er vertrat das jüdische Christentum in seiner vom griechischen Christentum abgewandten Art. Am ursprünglichen Ziel der Evangelisation, nach dem Jerusalem und die gesamte Judenschaft zu Jesus berufen wurde, hielt er auch dann noch fest, als Petrus und Johannes ihre Arbeit in Jerusalem für vollendet hielten und zu den Griechen gingen. Jakobus blieb dagegen in Jerusalem, sicher in der klaren Voraussicht dessen, was kommen mußte; er blieb und starb durch die Juden. Innerhalb der Christenheit sorgte er für die Erhaltung der jüdischen Frömmigkeit. Was er wollte, zeigt uns sein Eingriff in die Zustände der antiochenischen Gemeinde, in der die Einigung zwischen ihrem jüdischen und ihrem griechischen Teil in vollem Gang war. Sie pflegten nicht nur die Gebets-, sondern auch die Tischgemeinschaft miteinander, wodurch die Schranke, durch die das Gesetz den Juden von den Völkern trennte, abgebrochen war. Deshalb sandte Jakobus Glieder der jerusalemitischen Kirche nach Antio-chia, Gal. 2, 12. Ihr Auftrag war, für die Beobachtung des Gesetzes bei den jüdischen Christen zu sorgen, weshalb sich nun diese von der Tischgemeinschaft mit den Griechen zurückzogen.

Das Missionsziel der Apostel hat diese Politik gefordert, da ihre Arbeit in Jerusalem zu Ende war, wenn dort gesagt werden konnte, daß das christliche Evangelium aus den Juden Abgefallene mache. Sollte der Christenheit noch Verkehr mit der Judenschaft möglich und den Aposteln die Türe für ihre Arbeit in Jerusalem offenbleiben, so kam alles darauf an, daß der Sabbat in der jüdischen Christenheit nicht verschwand und die Taufe die Beschneidung nicht ersetzte, sondern die jüdische Sitte bewahrt wurde. Das verlangte aber nicht nur die Missionspflicht, die die jüdischen Christen gegenüber den anderen Juden hatten, sondern auch ihr eigenes Verhältnis zu Gott und zu Jesus. Dadurch, daß die jüdischen Christen von Jesus die Versöhnung mit Gott empfangen hatten, wurde ihre Frömmigkeit in allen ihren Äußerungen bestätigt und verstärkt. Ihr Gebrauch der Schrift wurde inniger und gläubiger als vorher, ihre Dankbarkeit für das Gesetz größer und ihr Anschluß an die alte Gemeinde fester und vollständiger. Dann durfte aber auch das Merkmal, das den Juden als solchen kennzeichnete, nicht verschwinden, und dieses Merkmal war die Treue gegen das Gesetz.

Paulus tat auf seinem Gebiet genau dasselbe, was Jakobus auf dem seinen. Wie Jakobus dafür sorgte, daß der Jude Jude blieb und sich nicht in einen Griechen verwandle, so hat Paulus seine ganze Kraft dafür eingesetzt, daß der Grieche Grieche sei und sich nicht die jüdische Tracht anlege. Das taten beide unter der Leitung derselben Norm, beide im Namen der Wahrheit, im Namen des Glaubens. Weil der Jude und der Grieche verschieden waren, sollten sie auch ihre Verschiedenheit bewahren. Daß Schwierigkeiten für die Einheit der Gemeinde entstanden, wenn in einem Teil derselben das Gesetz beachtet wurde, im anderen Teil beseitigt war, sah jedermann. Aber vor Schwierigkeiten weichlich zurückzuweichen, war nicht die Sache der ersten Christenheit. Wenn also Jakobus Männer in die griechischen Gemeinden mit dem Auftrag sandte, dort die Säulen für den jüdischen Teil der Gemeinden zu sein und es den Griechen vorzumachen, wie sich ein an Jesus glaubender Jude verhalte, so lag darin keine Verletzung der Gemeinschaft mit Paulus und keine Schwächung der Anerkennung, die der vom Gesetz freien griechischen Kirche in Jerusalem gewährt worden war. Deshalb hatte auch Paulus für Jakobus kein Wort des Tadels, und als er nach der Beendigung seiner Arbeit in den griechischen Ländern, nachdem er schon den römischen Christen durch seinen Brief die Hand gereicht hatte, zuerst noch nach Jerusalem ging, obwohl er wußte, daß er sich mit dieser Reise die schmerzhaftesten Opfer auflegte, hat er der gesamten Kirche mit der größten Deutlichkeit gezeigt, daß er die Gemeinschaft mit Jakobus für unbedingt notwendig hielt.

Die Kirchenpolitik des Jakobus stellt uns vor die Frage, was er als das Wertvolle an der jüdischen Frömmigkeit geschätzt habe, und darüber gibt uns sein Brief Aufschluß. Er widerlegt die Vermutung gründlich, Jakobus sei an die Satzungen gebunden gewesen und habe der Tischgemeinschaft mit den Griechen deshalb widersprochen, weil er den jüdischen Abscheu vor dem Schweinefleisch und ähnlichem geteilt habe. Der Brief zeigt, daß Jakobus nicht unter pharisäischem Einfluß stand, weil er nicht einen einzigen Spruch über die gottesdienstlichen Satzungen enthält. Als Jakobus an die ausländische Judenschaft schrieb, lag es ihm daran, daß das Bußwort in ihr Kraft und Wahrheit bekomme. Daher verlangt er das Bestehen in der Versuchung ohne Murren im Glauben, der durch sie echt wird, wodurch aus der Versuchung ein Segen wird, und verlangt, daß die Verehrung für den Reichen und die Mißachtung des Armen aufhöre, da der Arme „durch Glauben reich„ ist, und verlangt, daß nicht der Glaube als das verherrlicht werde, was den Menschen rette, da er ohne die Werke zu einem Leichnam wird, der keine Frucht und Wirkung schaffen kann, weshalb der Glaubende die Rechtfertigung nur dann erlangen wird, wenn ihn sein Glaube wie Abraham und Rahab zum Werk des Opfers und der Hilfe tüchtig macht.

Damit war eine andere Schätzung des Glaubens neben die des Paulus gesetzt, der uns im Glauben gerade deshalb unsere Gerechtigkeit zeigt, weil unser Glauben etwas ganz anderes als unser Wirken ist. Für die Kraft, mit der das erste christliche Geschlecht liebte und glaubte, darum auch dachte, ist die Ausbildung dieser beiden voneinander verschiedenen Formeln für die Rechtfertigung und die Fähigkeit der Gemeinde, beide miteinander zu gebrauchen, ein besonders deutlicher Beleg. Wenn wir auf Gott trauen lernten, sind zwei Fragen in uns wach: die, was Gott für uns tue, und die, was wir für Gott tun wollen. Beide wurden von den Aposteln mit vollendeter Klarheit beantwortet. Alles, sagte Paulus, tut Gott für uns; er verzeiht ganz, verbindet uns ganz mit sich und ist unser volles Heil; deshalb ist schon der Glaube, nur er und er ganz, unsere Gerechtigkeit. Mit derselben Wahrhaftigkeit und Entschlossenheit antwortete Jakobus auf die andere Frage, was wir für Gott tun wollen: alles wollen wir ihm geben, den Glauben und das Werk, ohne Spaltung die ganze Liebe; darum ist der Glaube noch nicht unsere Gerechtigkeit, falls wir bloß glauben und Gott das Werk, somit den Gehorsam und die Liebe verweigern. Dadurch, daß sowohl jener als dieser Wille in uns lebt, entsteht die vollendete Liebe. Sie schätzt die Gabe Gottes, dem sie sich ergibt, preist seine Güte und ruht in ihr, und zugleich ist sie die Kraft, durch die wir ihm alles geben, was wir sind und haben. Darum finden sich die beiden Formeln für die Rechtfertigung überall im Neuen Testament. Sie finden sich im Wort Jesu, der sowohl dem Glauben als der Liebe die Verheißung gab, und bei Johannes, der uns im Evangelium in Jesus den zeigt, der den Glauben wirkt, nichts als den Glauben, weil der Glaubende alles hat, und im Brief Gott uns als den beschreibt, der die Liebe ist und wirkt, weshalb der, der hassen und sündigen kann, Gott nicht kennt. Ebenso stehen beide Formeln auch bei Jakobus und bei Paulus. Den, der gesündigt hat, verwies Jakobus nicht auf seine Werke, sondern auf Gottes Vergebung und sagt ihm, daß Gott sich ihm nahe, weil er sich zu Gott naht, und ihn erhöhe, weil er sich vor ihm demütigt, Jak. 4, 7—10. Dies ist aber noch nicht die Endgestalt des Glaubens, weil die vollendete Zuversicht zu Gott erst dann erreicht ist, wenn die boshafte Unlust zur Tat überwunden und der Gehorsam geleistet wird. Ebenso führt Paulus den Glaubenden dahin, daß er sich entschlossen in den Dienst Gottes stellt, nicht obschon, sondern weil er als der Glaubende in der Gnade Gottes steht. Nun darf, muß und kann er handeln, und Paulus handelte mit dem klaren Bewußtsein, daß das gute Werk die unentbehrliche Bedingung für seinen Anteil an der Gnade Gottes sei. Das war nicht eine Verkürzung der göttlichen Gnade, sondern ihr Empfang. Weil sie seine ganze Schuld beseitigt, seinen Streit mit Gott ganz beendet, ihn von allem Bösen befreit und ihm die Gerechtigkeit zuerkennt, kann er weder im Bösen verharren, noch bei der Rechtfertigung sein eigenes Werk betrachten, da er mit beidem verleugnen würde, was ihm in Christus gegeben ist.

Die Frage, ob Jakobus in seinem Briefe auf die Fassung des Evangeliums bei Paulus Rücksicht nehme, kann keine sichere Antwort bekommen. Eine deutliche Beziehung auf Paulus enthalten die Worte des Jakobus nicht. Die Neigung, um des Glaubens willen das Werk zu unterlassen, ist Paulus fremd. Wenn Jakobus den Glauben als die Gewißheit der Einzigkeit Gottes beschreibt, so denkt er dabei nicht an Paulus, sondern an das Bekenntnis der Judenschaft. Die Berufung auf Abraham als den Beweis für die gerechtmachende Kraft des Glaubens ist durch 1. Mose 15, 6 veranlaßt, welcher Spruch in der Judenschaft und in der Christenheit oft erörtert wurde. Die Neigung, aus dem Glauben eine Rechtgläubigkeit zu machen, die zu jeder Bosheit fähig blieb, war in der Judenschaft reichlich vorhanden, und dieselbe Gefahr trat sofort auch an die Christenheit heran, weil sie im Glauben an Jesus das sie verbindende Merkmal sah und sich um ihres Glaubens willen von der Synagoge schied. Möglich ist es aber, daß durch die Arbeit des Paulus und die Haltung der griechischen Christen die Formel: „Gerechtigkeit durch den Glauben“ in einer Weise zum Bekenntnis der Christenheit wurde, die Jakobus bewog, hell den Punkt zu beleuchten, an dem sich Gottlosigkeit mit dieser Formel verbinden kann.

Nirgends muß der die Gemeinde regierende Wille so deutlich ans Licht kommen als da, wo ein Gegensatz in ihr entstand. Ihre Erklärung, daß ihr Herr ihr die Liebe geboten und gegeben habe, bewährt sich am Verhältnis des Jakobus zu Paulus vollständig. Denn die Verschiedenheit in ihren Sätzen über die Rechtfertigung hat mit der Eigensucht nichts zu tun, sondern macht sichtbar, wie die Liebe nach ihrer Vollendung strebt. Die Liebe gab Paulus das klare Auge, das ihm zeigte, wie am Eifer für das Werk der Glaube starb und aus der Stützung auf die eigene Leistung die Mißachtung der Gnade und die Abweisung Jesu und seines Kreuzes entstand, und die Liebe gab Jakobus die Beobachtung, daß am Vertrauen auf Gottes Güte die Unlust zur Tat entstehen kann. Der Wettstreit zwischen den beiden Begehrungen, von denen die eine die Gabe Gottes an den Menschen, die andere die Gabe des Menschen an Gott von jeder Schranke befreien und gegen jede Unlauterkeit schützen will, beweist, daß das Denken und Wirken der Jünger Jesu aus der Liebe kam8).

1)
Vgl. Schlatter, Einleitung in die Bibel, S. 333—339; Geschichte des Christus, S. 153 ff.; 341 ff., 373 ff., 505 ff.; Der Glaube im Neuen Testament, S. 525 ff.; Jesu Demut, ihre Mißdeutungen, ihr Grund, Beiträge 1904; Der Zweifel an der Messianität Jesu, Beiträge 1907, Berteismann
2)
Das Wort umfaßt sowohl den Einzelspruch als das Gleichnis.
3)
Vgl. Schlatter, Geschichte Israels, besonders S. I37ff., 165 ff., 23off., 282 ff., 305 ff
4)
Vgl. 10, 1 ff.; 1,49; 18, 33. 34; 11, 51; 5,46.47; 10, 35.
5)
Wertvolle Hülfe zur Erfassung des neutestamentlichen Zeugnisses vom Christus leisten u. a. Kahler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, Leipzig, Deichert; Ihmels, Wer war Jesus? Was wollte Jesus? Leipzig, Deichert; Borchert, Der Goldgrund des Lebens Jesu, 2 Teile. Braunschweig, Hellmuth Wollermann
6)
Vgl. besonders Schlatter, Die Botschaft des Paulus. Eine Übersicht über den Römerbrief. Freizeiten-Verlag
7)
Vgl. Schlatter, Die Theologie der Apostel, 2. Aufl., S. 239 ff., 389 ff. Eine lebensvolle Darstellung des großen Heidenapostels bietet Joh. Warneck, Paulus im Lichte der heutigen Heidenmission. Berlin, M. Warneck.
8)
Vgl. Schlatter, Theologie der Apostel, 2. Aufl., S. 87—119.170
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