Schlatter, Adolf - Heilige Anliegen der Kirche - Moral oder Evangelium. 4. Rede

Schlatter, Adolf - Heilige Anliegen der Kirche - Moral oder Evangelium. 4. Rede

Angesichts der Frage „Moral oder Evangelium“ gedenken wir zuerst der Verheißung Christi, die er jeder Wohltat gegeben hat. Es hat fest im Gedächtnis der Apostel gehaftet, dass er den ganzen Reichtum seiner Verheißung gerade mit den elementarsten Erweisungen des gütigen Willens verbunden hat. Das Wort, mit dem Matthäus Jesu Unterricht an die Jünger beschließt, das ihn in der höchsten Erhabenheit als den Vollstrecker des göttlichen Rechts an allen zu ewiger Geltung darstellt, öffnet dem sein Reich, der auch nur einen einzigen und und geringen Menschen speiste, weil er hungrig war, kleidete, weil er nackt war, erquickte, weil er krank oder gefangen war, während er den, der dem anderen solche Güte versagt, unter den Fluch Gottes und in die Gemeinschaft mit den Teufeln stellt. Diese Freude an jeder Guttat auch in den einfachsten Beziehungen unseres Lebens finden wir in Jesu ganzem Verhalten wieder, sowohl in seinem Streit mit der Judenschaft, als in seiner Einwirkung auf die Jünger. Jenem Lehrer, der ihn fragte, was er tun müsse, um das höchste Ziel des religiösen Strebens, das ewige Leben, zu gewinnen, erzählte er bekanntlich, wie jemand einen halbtoten Mann in der Wüste nicht liegen ließ. Dem Reichen, an dem er uns den Jammer eines verlorenen Lebens sichtbar macht, hat er nicht vorgehalten, dass er in seinem Bemühen, herrlich und in Freuden zu leben, Gott vergessen und ihm den Dienst versagt habe, sondern nur das eine, dass Lazarus an seiner Schwelle unter den Hunden starb. Und nicht weniger bedeutsam ist die Antwort an den anderen Reichen: „was fragst du mich über das Gute?“ als wäre dies ein offenes Problem und schwer erkennbares Geheimnis, über das man bei allerlei Autoritäten, bald hier, bald da, Umfrage halten müsste! „Einer ist gut; tue die Gebote!“ So erbt man ewiges Leben.

Weil Jesus jede Guttat, die es wirklich ist, unter seine Gnade, und jede Übeltat unter seine Verdammung stellt, bringt er in den Streit der Seinen mit den Moralisten tiefen, vollen Frieden hinein. Wir können ihnen zunächst nur sagen: ihr wollt Sittlichkeit - gut! wollt sie nur wirklich. Unter unseres Gottes Regiment und unter der Versöhnungsgnade Christi geht nichts Gutes zu Grunde. Ethisches Geschwätz ist freilich dürres Laub.

Nicht bloß uns, den Glaubenden, hat es Christus ermöglicht, im Frieden Gottes den Streit mit den Ethikern zu führen, er hat es ihnen auch unmöglich gemacht, bloß ablehnende Empfindungen und missgünstige Urteile gegen das Evangelium zu hegen. Mag man über das Ziel und den Erfolg Christi denken wie man will, dass er das Interesse der Kirche kräftig auf das sittliche Problem gerichtet hat, nicht nur nebensächlich, sondern als ein Hauptanliegen mit gesammelter Kraft, das kann nur der Hass bestreiten. Fehlten in unserm Ausblick zu Gott die ethischen Begriffe, der Blick auf den guten Gott, der das Böse verneint, das Gute will und schafft, so wäre dies kein christliches Gottesbewusstsein mehr. Fehlte uns im Bilde Christi die Bezogenheit seines Handelns auf die Sünde, so dass er nicht mehr der mit unserer Bosheit und Schuld ringende und gegen sie uns Hilfe bringende wäre, so wäre das Christusbild zerstört. Fehlte unserm Glauben das Verlangen nach der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, so wäre der Glaube zerstört. Für den Ernst, mit dem überall, wo das Evangelium die Leitung hat, das ethische Problem ins Auge gefasst, Erlösung vom Bösen wenigstens gesucht und der Gewinn eines guten Willens angestrebt wird, muss jeder Moralist Verständnis haben, so dass auch er das Verhältnis des Evangeliums zur Moral nicht nur als einen Gegensatz empfinden kann und darf.

Warum bricht dennoch an dieser Stelle immer wieder ein Konflikt auf, der die Formel: „Moral oder Evangelium“ sachgemäß und unvermeidlich macht? Die Wahl, auf welche dieses „oder“ hindeutet, bestimmt den Lebenslauf vieler und kommt demgemäß auch je und je in weltgeschichtlich bedeutsamen Stößen zur Erscheinung. Die Moralisten der Synagoge haben Jesus verachtet und es ihm unmöglich gemacht, einen Gerechten zu berufen. Die Moralisten der Stoa haben die Kirche Divinität und Humanität geächtet, so dass sie nicht nur in der griechischen Liederlichkeit und in der römischen Rohheit, sondern auch in der griechisch-römischen Tugend einen Gegner besaß. Nicht die Moralisten der Renaissance haben die Reformationspredigt getragen; sie haben sie vielmehr teilweise bestritten, und die Moralisten des letzten Jahrhunderts haben die Reformationspredigt samt der Bibel begraben. Auch unter uns kennt jedermann nicht nur den wissenschaftlichen, sondern auch den populären Streiter für die Ethik, mit seinem Stichwort: „tue recht und scheue niemand“ als der zusammenfassenden Formel für seine höchsten Überzeugungen und mit der kräftigen Abneigung gegen das Christentum.

Es ist der Mühe wert, sich zu verdeutlichen, was für Interessen und Gedankenreihen hier gegen einander stoßen: Die Überzeugung, die den Ethiker leitet, ist die, dass die sittlichen Empfindungen, die den Verkehr mit den Menschen ordnen und adeln, etwas Klares, Gewisses, uns Gegenwärtiges und allgemein Gültiges sind. Sie sind uns durch die geistige Organisation des Menschen gegeben. Neben der moralischen Erkenntnis stellt sich der christliche Gedanke als etwas ungewisses, Entlegenes, bloß Individuelles oder gar Phantastisches dar. Daraus ergibt sich gegen das Evangelium, das uns zu Christen machen will, damit wir den guten Willen gewinnen, der Vorwurf, dass es das Gewisse auf das Ungewisse, das Notwendige und Naturgemäße auf das Entlegene und Phantastische begründe. Dadurch werde die Moralität nicht bloß erschwert, weil sie auf weitem Umweg gesucht werde, sondern auch gefährdet. Da ihr Christen, sagen sie uns, über den moralischen Aufgaben euch noch andre Ziele setzt, die euch mehr gelten als jene, eben das, was ihr eure Gemeinschaft mit Gott, euern Anteil an Gottes Wort und Gnade, euern Gottesdienst heißt, habt ihr beständig die Neigung, die moralische Pflicht zu versäumen. Mit dem Blick nach oben verliert ihr das Auge für das, was ihr den Menschen schuldig seid. Im Streben nach der Divinität versäumt ihr die Humanität. Deshalb erzeugt die Religionsgeschichte notorisch fortwährend die hässlichsten Unsittlichkeiten. „Frisch Unrecht tun und wacker opfern,“ sagt der Athener bei Plato; „das Haus der Witwe hinunterschlucken und viel beten,“ der Jude nach Jesu strafendem Wort. Das setzt ihr Christen darin fort, dass es euch genügt, den richtigen Glauben zu haben. Da solche Erscheinungen die religiöse Fassung der Moral notwendig begleiten, so liege die Hilfe nur darin, dass der Moral selbständige Geltung zuerkannt werde. Wenn sie das letzte höchste Wort bilde, das unser Streben leite, dann erst entstehe echte Sittlichkeit.

Im Verlauf unseres Jahrhunderts hat sich an dieser Stelle eine merkwürdige Veränderung vollzogen. Zu Anfang desselben wurde die Selbständigkeit, die für die Moral verlangt wurde, als unbegrenzt gedacht. Die praktische Vernunft sagte ihr Sprüchlein in königlicher Autonomie und pflog mit niemand Rat, weder mit Gott noch mit der Welt. Wo sollte, schien es, der Mensch sich Rat holen über das, was die Humanität in sich schließt, als bei sich selbst? Er gibt sich selbst jegliche Auskunft, was echte Menschlichkeit sein soll. Die modernen Moralisten sind anders gestimmt. Die Moral ist von ihrer einsamen Höhe herabgekommen, Anschluss suchend, der Stützung bedürftig. Und das Ganze, in das sie eingegliedert wird, ist die Natur. Wir werden, scheint es heute manchem, dann richtig bestimmen, was uns als echte Menschlichkeit obliegt, wenn wir uns als einen Teil der Natur und die moralischen Gesetze als eine spezielle Form der Naturgesetze verstehen. War das Stichwort zu Anfang des Jahrhunderts: „Tugend“, heute ist das Stichwort bekanntlich „Kultur“. Bei der Kultur ist aber die Weise, wie wir die Natur verwerten und uns dienstbar machen, eine Hauptfache. Wenn von „ethischer Kultur“ unter uns gesprochen wird, so ist damit die sittliche Aufgabe in die geschickte Verwendung und Regelung der naturhaft in uns begründeten Triebe und Kräfte gesetzt. Die Distanz vom Evangelium ist dadurch nicht vermindert. Auch hier wird für die Moral Unabhängigkeit verlangt, zwar nicht gegenüber der Natur, wohl aber gegenüber Gott. Das ist die Stelle, wo der Weg Christi und der der Moralisten sich getrennt hat und heute noch sich trennt. Die Meinung, die Moral lasse sich von der religiösen Überzeugung scheiden, ist eine gedankenlose Illusion. Diese Versuche erstreben eine vollendete Unmöglichkeit. Kein Mensch hat das getan und niemand wird es tun. In dem Moment, wo ich gut sein oder doch gut werden will ohne Gott, habe ich Gott verneint. Das ist auch eine religiöse Überzeugung, auch eine Theologie, ein Wissen, wie es sich mit Gott verhalte, negative Theologie ohne Frage, doch auch sie ist Theologie. Die Frage nach Gott ist nicht mehr offen, sondern entschieden und geschlossen in dem Moment, wo wir das Gute haben und gut sind, ohne Gottes zu bedürfen. Mit der moralischen Frage erreicht unsere Lebensbewegung ihre höchste Stelle. Die Entscheidung in Bezug auf Gott lässt sich nicht mehr verschieben, nicht auf noch höhere Erlebnisse versparen. Hier muss sie fallen. Wenn hier, wo wir den Zweck unseres Lebens erwägen, Gott außer Rechnung bleiben kann und muss, wenn da, wo wir unsere Pflicht umschreiben, keine Gebundenheit an Gott sich kund gibt, wenn dann, wenn wir unsern Willen formieren, d. h. das gestalten, was wir im strengsten Sinn selber sind, nichts uns auf Gott hinweist, kein Geben Gottes, kein Empfangen des Menschen stattat, wenn wir die souverän uns selbst Gestaltenden sind, dann ist Gott für uns nicht da. Dass wir ihn für uns verneint haben, wird dadurch nicht geändert, wenn wir der bekannten menschlichen Vorliebe für Halbheiten nachgeben und ihn den Engeln und Sternen, den Fischen und Käfern noch gönnen, nachdem wir ihn uns selbst versagt haben.

Das gute Wollen ein Geschenk der Gnade.

Wir stehen hier vor der Gottesfrage. Für den, der im Evangelium steht, ist sie erledigt. Wir haben in Christo Gott erkannt als unsern Gott, womit gegeben ist, dass wir ihn bei der Zwecksetzung für unser Leben, bei der Formation unseres Willens nicht vergessen können. Jesu Wort: „du fragst nach dem Guten; einer ist gut, Gott“ trat für uns in Kraft und hat uns den Blick nach dem Guten fort und fort in allen Anliegen unseres Lebens zum Blick nach Gott, nach seinem Willen, nach seiner Führung, nach seiner Begabung gemacht. Nirgends fühlt sich der Christ so kräftig zum Danken bewogen, nichts schätzt er so lebendig als ein Geschenk der Gnade wie das gute Wollen, das er in sich hat. Hier bei der höchsten Funktion unseres Lebens tritt auch das Gottesbewusstsein, wo es überhaupt erwacht ist, notwendig am lebendigsten hervor.

Das ist das erste, wodurch uns Christus von den Moralisten trennt: wir können uns auf die Verneinung Gottes nicht einlassen. Damit ist aber sofort ein zweites gegeben: im Blick auf Gott können wir mit den moralischen Fragen nicht mehr spielen. Sie sind uns nicht mehr nur ein interessantes Problem, an dem man seine Kunstfertigkeit in der Theoriebildung erprobt. Unsre Sittlichkeit kann doch nicht darin bestehen, dass wir uns schöne Ziele vorstellen, sondern darin, dass wir sie erreichen; nicht darin, dass wir uns löbliche Regeln bilden, sondern darin, dass wir sie befolgen; nicht darin, dass wir das Gute sollen, sondern darin, dass wir das Gute wollen. Bestimmt sich die Aufgabe der Moral so, so können wir unmöglich bei derselben nur an uns selber denken und unsere Hoffnung auf diejenigen Antriebe und Kräfte setzen, die in unserer Natur enthalten sind. Es ist eine unaufhebbare Eigenschaft des sittlichen Bewusstseins, dass es seine Urteile als ein gegen einander stehendes Paar bildet. Dem Guten steht das Böse gegenüber. Wer die reinliche, unversöhnliche Scheidung zwischen dem Guten und Bösen aufgibt, ist nicht mehr Ethiker, sondern unter den moralischen Gesichtspunkt herabgesunken. Das Böse ist aber kein Traum; es ist in unserm Leben real. Damit ist die Lösung des ethischen Problems unwiederbringlich unserer eigenen Hand entfallen. Gesetzt, wir hätten nur eine einzige böse Wollung in uns erzeugt, so sind wir durch sie in völlige Ratlosigkeit versetzt. Das ethische Problem bestimmt sich dadurch so, dass wieder aufgehoben und getilgt werde, was in uns real ist und doch nicht sein soll, und hergestellt und geschaffen werde, was in uns irreal und nicht vorhanden ist und doch sein soll. In dieser Fassung hat Jesus der ethischen Frage ins Auge geschaut und ist nicht vor ihr verstummt. In der allmächtigen Gnade sie ist freilich nicht der Menschen, sondern Gottes Attribut schafft er für unsere moralische Ratlosigkeit Rat. Unsrer Bosheit stellt er Gottes Vergeben, unserer Willen- und Kraftlosigkeit Gottes Geist entgegen, eben jenes Höhere, was das Evangelium über unser Sollen und Wollen als unsern kostbarsten Besitz erhöht und was dem Moralismus verdächtig ist. Es ist aber für die Geltung und Wirkung der sittlichen Gedanken nicht gleichgültig, ob sie in Ratlosigkeit enden oder nicht. Auch mit dem Evangelium ist es nicht leicht, die sittlichen Maßstäbe festzuhalten, das Schlechte beharrlich zu verneinen, das Gute ernst und treu zu bejahen. Und doch strahlt uns über dem, was das Menschenleben zeigt, das helle Licht der Gnade und wir stehen im Besitz des Privilegs, das Christus uns gegeben hat, nicht richten zu müssen, wodurch uns ein freier, unbefangener Verkehr mit jedermann ermöglicht ist. Der Moralismus dagegen bringt seine Freunde in eine Lage, die unerträglich ist. Indem er ihnen aufgibt, das Gute gut, das Böse bös zu heißen, in welchen Gegensatz bringt er sie dadurch mit dem, was das Menschenleben tatsächlich enthält! Was geschieht? Das, was in großem Umfang durch die Verbreitung der materialistischen Überzeugungen. unter uns geschehen ist: die moralischen Maßstäbe entgleiten der ermattenden Hand. Man wird des aussichtslosen Protestes gegen das, was uns selbst und die anderen als Macht bestimmt, satt und nimmt das Menschenleben, wie es ist.

Religionslose Ethiker werden Materialisten.

Wir stehen hier vor einem wichtigen, kräftigen Grund, der den naturalistischen Gedanken unter uns Macht gegeben hat. Die großen Erfolge unserer Mechaniker erklären sie bei weitem nicht. Die vorbehaltlose Eingliederung des Menschen in den materialistisch vorgestellten Naturprozess ist nicht zum geringsten. Teil Flucht vor dem Moralismus, der sich selbst und andere quält. Sie dient dem Bedürfnis nach einer gütig stimmenden, freundlich machenden, Freude ermöglichenden Auffassung des Menschenlebens. Der materialistische Gedanke handhabt in seiner Weise auch die Regel Jesu: richtet nicht. Er ermöglicht, das Abnorme am Menschen zu erklären und aus seinen Bedingungen zu verstehen; so braucht man nicht mehr zu verurteilen. Man darf entschuldigen, darf die Tatsachen des menschlichen Lebens hinnehmen wie jede Tatsache, mit Bedauern, sofern sie schmerzlich sind, doch nicht anders, als wie wir jede zerstörende Wirkung des Naturlaufs hinnehmen.

Die moderne Bewegung wiederholt nur, was bei der ersten, weite Kreise umfassenden Ausbreitung des Materialismus geschehen ist, bei derjenigen, welche die spätere griechische und römische Welt uns zeigt. Die erste Aufstellung der Theorie ist allerdings etwas älter als Sokrates; populär wird sie aber erst nach Sokrates und den Sokratikern, nach ihnen und in gewissem Sinn durch sie. Auch Epikur ist ein Sokratiker. Nicht die Physik hat ihn zum Materialisten gemacht, sondern die Ethik. Die Sokratiker hatten mit großem Ernst das moralische Problem erweckt; aber die Ratlosigkeit des Moralismus kam sofort grell ans Licht. Epikur schaffte sich durch seine Theorie Raum zu einer freundlichen, friedlichen, gütigen Lebensführung, und das hat seinen Gedanken populär gemacht.

Wenn auch der materialistische Gedanke in gewissem Maße moralischen Empfindungen und Strebungen dient, so dürfen wir doch nicht übersehen, dass ihn große Verluste und Gefährdungen begleiten. Wo er regiert, verklingt das Sollen mit seinem scharfen Ernst. Aus der Schuld wird Krankheit, aus dem Willen Trieb, aus der unerbittlichen Geschiedenheit, die Gutes und Böses trennt, eine lückenlose Skala von Variationen, in denen die psychischen Kräfte ihr Spiel treiben, je nach den Umständen. Hier ist die Moral jedenfalls nicht mehr die triumphierende Heldengestalt, die sich alles untertänig macht und keinen Höhern über sich erkennen will. Sie hat sich geduckt und auf ihre Selbständigkeit verzichtet. Ein Stärkerer ist über sie gekommen; nur heißt der Herr, dem sie hier dient, nicht mehr Gott, sondern Natur.

Für den Christen liegt in diesen Vorgängen nichts Erschütterndes oder Befremdliches. Vom Standort des Evangeliums ist nur dies zu sagen: nehmt ihr den moralischen Kanon, der Gutes und Böses scheidet, in eure Hand, ohne den Versöhner, so ist es kein Wunder, dass ihr euch daran verletzt und in Folge dessen ihn bei Seite legt. Der Stand unter dem Gesetz, das nichts ist als Gesetz, war immer ein Stand in der Not. Es ist sehr begreiflich, dass ihr derselben entflieht. Nur flieht ihr in der verkehrten Richtung, nach unten, statt nach oben, zum Tier, statt zu Gott.

Das ist das zweite, was wir Christi wegen den Ethikern zu sagen haben: auf die Verneinung des Versöhners lassen wir uns nicht ein. Wir bedürfen den, der uns mit Gott, darum auch mit uns selbst und mit der Welt in den Frieden setzt. Moral ohne Versöhnung, Gebot ohne Gnade, Gesetz ohne lebendig machenden Geist hilft uns nichts.

Doch lassen wir die Willensfrage. Es wäre immerhin schon ein Gewinn, wenn wir wenigstens sittlich dächten. Das bildete in unserm Bewusstsein einen hellen Punkt, von dem sich Licht und Wärme in die übrigen Sphären unsres Lebens ausbreiten könnten. Sollte sich aber wirklich unser Gedankenlauf von unserer Willensgestalt scheiden lassen? sollte das, was wir wollen, nicht auch das, was wir denken, regieren, so dass die Impotenz, in der unser Wollen und Können steht, auch unser moralisches Vorstellen und Urteilen mit umfasst? Wir sehen bei dieser Frage von allem ab, was Gottesdienst zu nennen ist, da wir uns darüber mit den Ethikern natürlich nicht verständigen können, und fassen nur das ins Auge, was der Mensch dem Menschen schuldet und zu geben hat.

„Ich, Ich“. der Grundton selbst der Aristotelischen Ethik.

Das hat Jesus in das Liebesgebot zusammengefasst. Es nennt den Auftrag, den jedes Glied der Kirche von ihm hat, und misst die Pflicht, die wir gegen einander haben. Ist der christliche Liebesgedanke wirklich etwas selbstverständliches, gewisses, in allen lebendiges? Herrliche Früchte sind aus dem Nachdenken der Griechen über die Ziele, die dem menschlichen Streben gesetzt sind, erwachsen. Unsere Ethiker gehen immer noch bei ihnen in die Schule, so gut als unsere Logiker. Das Lehrbuch der Moral z. B., welches Aristoteles geschrieben hat, ist und bleibt eine der schönsten Leistungen menschlicher Denktüchtigkeit. Aber der Liebesgedanke fehlt. Es wird immer nur davon gesprochen: wie ich mich selbst kräftige, entfalte, bereichere, mein Glück mehre, ein lobenswerter Mensch werde. Vom Dienst, der uns aufgetragen ist, fehlt jede Ahnung. „Ich, ich“, das ist der Grundton des Gedankengangs; gewiss ist das Ich, das uns beschrieben wird, ein tüchtiges Ich, ein kraftvolles Ich, ein löbliches Ich, und doch immer nur das eigene, kleine, arme Ich. Wie steht es denn jetzt, nachdem Jesu Berufung zum Dienst der Liebe an jedermann ergangen ist, nachdem er uns durch Wort und Tat verdeutlicht hat, was sie ist und tut, nachdem der Lauf des Lebens jeden irgendwie einmal vor das Bild des Gekreuzigten stellt? Haben unsere Ethiker Christi Liebesgebot aufgenommen. und weitergetragen? Die Einrede gegen dasselbe hört nie auf. Man denke z. B. an das Geschick der Bergpredigt und ihrer Erklärung des Liebesgebots. Hört etwa die Einrede gegen dasselbe in uns selbst je auf? Es kostet uns fortwährend rechtschaffene Mühe, uns auch nur deutlich zu machen, was uns durch dasselbe als Pflicht überbunden ist. Ein abstraktes Tugendbild entwerfen wir uns freilich mit Leichtigkeit in träumerischen Stunden. Doch das ist Schaum. Nur diejenigen Leistungen unseres hellen Blicks und unserer moralischen Urteilsfähigkeit fallen in die Wage, durch die wir unsere konkreten Beziehungen zu den Leuten um uns her erfassen und regeln. Ist hier wirklich die evangelische Moral das uns gewisse, uns gegenwärtige, stets in allen lebendige? Wer war noch nie hart, träge, roh, ein kleinlicher Egoist, ohne dass er es auch nur merkte, weil er unfähig war, auch nur denkend zu erfassen, was Gottes Wille ihm als seinen Dienst zuteilt? Nach dem Grund, warum es so ist, müssen wir nicht lange fragen. Der Christenberuf setzt das Motiv und Ziel unseres Handelns aus uns selbst hinaus in das, was dem anderen frommt. Das setzt die Befreiung aus der Gebundenheit an uns selbst voraus. Der Kerker, in dem unsere arme kleine Ichheit uns gefangen hält, muss zersprengt sein. Das geschieht nur dadurch, dass wir zu dem emporblicken und emportreten, der größer ist als unser Herz. Die Sonne muss aufgehen, dann erbleicht der Mond. Vor dem wahrhaft Erhabenen und Heiligen zergeht die falsche Größe unseres Ichs. An seiner Gnade erstirbt unser törichter Versuch, uns selbst zu verehren und zu erhöhen, uns selbst zu umarmen und zu lieben, an uns selbst satt und selig zu werden, ein Versuch, der immer mit dem Anspruch verbunden ist, dass jedermann uns als unser Diener willfährig sei, was uns unvermeidlich zum Widersacher und Verderber der anderen macht. Erfasst unser Auge Gott und seine Güte, das ist Glaube. Darum ist das Glauben und Lieben beisammen, und die Schwierigkeiten, mit denen jenes ringt, erscheinen darum wieder in der Armseligkeit und Kärglichkeit unserer Liebe. Wird jener von der Moral ausgestoßen, so ist auch für diese kein Raum mehr da. Es ist aber nicht gleichgültig, ob wir unsere schlechten, dunkeln, armseligen Vorstellungen über das, was wir sollen, als Ethik ausgeben und verherrlichen. Wer sein Böses gut heißt, der fixiert es in sich und vollendet es. Für unser inwendiges Leben ist nicht nur derjenige Moment epochemachend, in welchem wir die falsche Wollung in uns erzeugen; es kommt noch ein zweiter epochemachender Augenblick, derjenige, wo unser falscher Wille sich uns vorstellt, damit wir ihn beschauen, beurteilen, bestätigen oder entkräften. Wenn wir bei dieser Beschauung unsres Gebildes gut heißen, was schlecht ist, recht, was unrecht ist, dann erst ist der Fall vollendet. Unsre schlimmsten Unsittlichkeiten sind diejenigen, die wir als Sittlichkeit empfinden und rechtfertigen. Das ist das Dritte, was wir Christi wegen den Moralisten zu sagen haben: wir können uns nicht auf eure dürftige Moral einlassen, die eine Menge von Unrichtigkeiten und Unsittlichkeiten nicht als solche erkennt, vielmehr als unvermeidlich und normal hinnimmt und dadurch in uns und in den anderen fixiert.

Moral und Evangelium gehören zusammen.

So stellen sich Rede und Gegenrede zwischen den beiden Gruppen gegen einander zu scharfem Streit. Dort heißt es: wir wissen, was gut ist; hier: ihr wisst weder was gut, noch was böse ist, sondern heißt euer Böses gut. Dort heißt es: wir schaffen durch uns selbst das Gute; hier: ihr redet nur davon; in Wahrheit seid ihr ratlos, darum auch mutlos und wisst nicht, wo ihr einen guten Willen schöpfen könnt. Dort heißt es: mit dem Verzicht auf Gott erblüht uns die Humanität; hier: ohne Gott gibt es auch keine Menschlichkeit. Wir werden diesen Streit nicht still stellen; er ist ein Glied der Weltgeschichte, und zwar ein wichtiges Glied derselben, das ihr ihre Tiefe, allerdings auch ihre Schwere gibt.

Muss darum unsere Zuversicht erlöschen, die wir aus dem Worte Christi zogen und an den Eingang unserer Betrachtung stellten, die uns hoffen ließ, dass Satz und Gegensatz in unserer Frage durch ein festes Band des Friedens geeinigt seien? Keineswegs, wir bedürfen ihrer nur um so mehr, je deutlicher sich uns darstellt, was hier den Streit erregt. Er ist da als eine weltgeschichtliche Macht und erschüttert manchen unter uns mit hartem Stoß. Er entsteht aber doch nur dadurch, dass wir scheiden, was Gott verbunden hat, und die Bewegung, die unsere geistige Lebendigkeit ausmacht, unterbinden, so dass wir nicht zusammen kommen lassen, was nur zusammen in seiner gesunden Kräftigkeit besteht. Der Raum, der Moral und Evangelium friedlich und einträchtig bei einander wohnen lässt, ist damit gegeben, dass unser Leben der Zeitlichkeit untertan ist und stückweise von uns vollbracht wird. Nicht mit einem einzigen Griff wird die Totalität des Guten von uns angeeignet. Vielmehr tritt die Vollendung vom Anfang weg und eine. Distanz schiebt sich dazwischen, die wir nur schrittweise überwinden. Die Strebung eilt nicht mit einem einzigen Sprung in ihr Ziel, hat vielmehr einen Weg zu durchmessen, der sich oft lange dehnt. Daher steht in unserem Leben nicht nur das Schlechte dem Guten entgegen; vielmehr gibt es über dem Guten noch ein Besseres und Bestes. Es gibt ein Wachstum unseres inwendigen Menschen, das sich nach seinen eigenartigen Maßen und Bedingungen vollzieht. Darum kann ein und derselbe Vorgang eine sehr verschiedene Bedeutung für uns haben und einer direkt entgegengesetzten Beurteilung unterliegen, je nach dem, was aus ihm wird. Der Anfang, der wirklich Anfang seines Fortgangs ist, hat unschätzbaren Wert, alles hängt an ihm. Wiederum soll schon er die Vollendung sein, so entsteht die Abnormität.

Es kommt beim Moralismus alles darauf an, ob er die Erstarrtheit von sich abzustreifen vermag, die ihn an die Stelle festbindet, an der er steht, und ihn nicht weiterblicken, nicht weiter wollen, nicht wachsen lässt. Erwehrt er sich der hoffärtigen Sattheit und Selbstgenügsamkeit, hat er die Triebkraft des Keims in sich, die wachsen kann, so bildet sich zwischen. ihm und dem Evangelium die innige Kommunion der gegenseitigen Dienstleistung. Dann kann er dem Evangelium dienen und das Evangelium ihm.

Die Ethiker heißen die moralischen Empfindungen das uns Gewisse und Gegenwärtige, und sie haben nicht Unrecht darin. Der Blick auf den Christus wird nicht mit uns geboren; er hat seine Bedingungen, die sich nicht willkürlich oder gewaltsam herstellen lassen. Ist uns das Evangelium noch nicht zugänglich, so entbehren wir deshalb noch nicht jeder Beziehung zu Gott, jeder göttlichen Begabung und Regierung. Vielmehr haben wir eben in unserem moralischen Empfinden, in unserem humanen Gewissen eine Norm und Leitung, die wirklich eine gute Gabe für uns ist. Wer sie pflegt und heilig hält, wird nicht irregehen. Auch der Verlauf der heiligen Geschichte hat dies ausgeprägt. Das Wort des Versöhners: „nehmt hin meinen Leib, mein Blut, für viele vergossen zur Vergebung der Sünden,“ ist nicht das erste Gotteswort. Die zehn Gebote gehen ihm längst voran. Wer jenes nicht versteht, versteht doch diese. Dass wir diesen moralischen Antrieben das Recht zugestehen, von uns gehört und geehrt zu werden, das ist immer wieder die zuerst uns aufgegebene Pflicht. Dann kommt gerade durch ihren Dienst und unter ihrer Mitwirkung wann und wie, das steht in Gottes Hand und entzieht sich äußerlicher Regelung die Stunde, wo das Gottesbewusstsein in uns aufstrahlt, wo folgerichtig auch die Frage nach dem Versöhner mit Gott in uns entsteht, wo diese Frage auch nicht bloß Frage bleibt, sondern in dem die Antwort findet, der unser Friede ist.

Das Evangelium löst nicht auf, sondern erfüllt.

Nicht anders verhält es sich, wenn uns der Moralismus einschärft, wir müssten zuvörderst für uns selber sorgen. Unzweifelhaft schließt er damit an kräftige Triebe an, die sich in uns allen regen. Sie drängen auf die Ausbildung unserer Kräfte, auf die Stärkung unsres Lebens und Geistes, auf die reiche und harmonische Füllung unsres Bewusstseins hin und warnen uns davor, dass wir uns selbst zerstören, mit Schwachheit und Schmerz uns belasten und an Geist und Leib uns zum Krüppel machen. Aber diesem frischen, fröhlichen Aufwärtsstreben, das nach Luft und Licht für uns begehrt, kommt um so gewisser, je energischer es ist und je besser es gelingt, einmal die Stunde, die die Frage in sich birgt: wozu? wem soll dies alles dienen? dir und immer wieder dir?! Das ist die Stunde, wo die Berufung zum Dienst, zur Liebe, an uns ergeht, wodurch das, was bisher unser Ziel war, selbst wieder zum Mittel wird.

Nicht nur unsere moralischen Erlebnisse, auch das Evangelium ist Anfang, Keim, Wurzel, eine vorwärts dringende Kraft. Dadurch, dass es uns Gott nah, reich, groß macht, entwertet es unsere elementaren Beziehungen zu Gott nicht. Im Gegenteil, die Fülle, die unser Verhältnis zu Gott gewonnen hat, strömt in sie hinein und hebt sie mit sich empor und gibt ihnen neue Kraft und Bedeutsamkeit. Sind etwa die zehn Gebote Christo wegen seines unvergleichlichen Blicks zum Vater wertlos und gleichgültig geworden? Umgekehrt, für niemanden waren sie so bedeutungsvoll, so reich, so heilig wie für ihn. Bleibt diese stärkende, fördernde Einwirkung des Evangeliums auf den ganzen Bereich des moralischen Empfindens aus, so ist wieder die Bewegung, die unsern Lebensprozess ausmacht, gehemmt und zerbrochen. Dann entstehen freilich jene Häuslichkeiten, die immer wieder den moralischen Anstoß am Evangelium erzeugen. Christi Schuld ist das wahrhaftig nicht. Er hat ernst genug vor dieser Gefahr gewarnt.

Ebenso wenig liegt darin, dass wir unser Leben als Dienst verstehen, eine Versäumnis unserer selbst begründet, als ergäbe sich daraus ein Konflikt mit dem guten Rat der Moralisten, auf die Entfaltung unserer eigenen Kraft bedacht zu sein. Wer begreift, dass Geben seliger ist als Nehmen, dem wird das Erwerben nichts Gleichgültiges. Vielmehr erhält erst jetzt sein Erwerben Vernünftigkeit und Wert. Das gilt wie von unserem materiellen, so auch von unserem geistigen Besitz. Wer nichts hat, kann nichts geben. Wie soll der Ratlose raten, der Trostlose trösten, der Schwache tragen? Darum versetzt die Berufung Jesu zur Liebe jeden, der sie wirklich hört, in eine kräftige Aktion, die alles in uns zur Entfaltung bringt. Und doch ist ein neuer Geist in alle diese Bestrebungen gekommen: sie haben nun einen neuen Herrn und ein neues Maß.

Diesen festen Zusammenhang, der die Gliedmaßen unseres geistigen Lebens an einander bindet, sprechen auch jene Verheißungen Christi aus, deren heller Sonnenschein jede ernste moralische Bemühung bestrahlt. Denen, die die Hungrigen speisten und die Geplagten erquickten, antwortet er mit dem Wort: her zu mir! Er dankt ihnen dadurch, dass er ihnen seine Gemeinschaft und sein Reich erschließt und sie zu seinem Vater bringt. Wiederum antwortet er denen, die sich der Güte weigerten, damit, dass er sich ihnen entzieht. Das ist der Wert des sittlichen Handelns, dass es uns zu Christus bringt und uns zum Evangelium führt. Um seinetwillen ist schon der einfachste Gewissensantrieb und die elementarste Bewegung unseres Willens zur Güte von unschätzbarem Wert. Freilich gilt das nur vom redlichen Willen und der redlichen Tat, und nicht von irgend welcher pseudoethischen Phraseologie.

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