Psalm 86
86:1 Ein Gebet Davids. HERR, neige deine Ohren und erhöre mich; denn ich bin elend und arm.
86:2 Bewahre meine Seele; denn ich bin heilig. Hilf du, mein Gott, deinem Knechte, der sich verläßt auf dich.
„Hilf Du, mein Gott!“, ruft David in großen Nöten aus. In tausend Fällen weiß man sonst keine Hilfe. Die Sachen verwickeln sich oft in einer Weise, daß alle Hilfe unmöglich scheint, daß es also der Mensch von sich aus fallenlassen muß. Da kommt es nur darauf an, daß man einen Glauben habe, der es Gott zutrauen kann, auch das zu tun, was unmöglich scheint, und daß man sich in solchem Glauben zu Ihm wendet.
Gar leicht aber kommen wir dazu, uns so zu stellen, als ob auch nicht einmal Gott mehr zu helfen wüßte - also alles verloren wäre! Da mag und kann man nimmer bitten. So ist's bei denen, die in Verzweiflung kommen. Alle Verzweifeln- den verzagen an Gott und können nicht mehr sagen: „Hilf Du, mein Gott!“ - weil sie wie gesagt die Sache verlorengeben, so daß nicht einmal Gott mehr sollte helfen können! Bei vielen ist es freilich auch so, daß sie gar nie an Gott zu denken gewohnt sind und von einem Anrufen Gottes in der Not gar nichts wissen. Leider ist man oft auch zu klug und weise und meint: „Was sollte Gott das Gebet des Menschen hören und sich bewegen lassen, auf seine Bitten hin etwas zu tun - oder gar etwas anders zu machen, als Er's ohnehin machte!“ Diese alle haben keinen Gott und sind dann, wenn die Lagen verwickelt sind, übel dran. Ja, übel dran ist der Mensch, der nicht einmal den Seufzer gelernt hat: „Hilf Du, mein Gott!“ Doch lernen die Menschen oft in den Nöten beten, wenn sie's auch sonst nicht vermocht haben.
In peinlichen und verzweifelten Lagen befand sich auch David oft. Der aber nennt sich „Knecht des HErrn“ und kann darum sagen: „Ich verlasse mich auf Dich!“ Er ist ja, das will er damit zu verstehen geben, ohnehin nur der Knecht, der im Dienst eines Herrn steht, dessen Sache es ist und der's eigentlich zu besorgen hat. Als Knecht braucht er nicht der zu sein, der alles machen muß., und darf es auch nicht. Als Knecht kann und soll er zum Herrn gehen und sagen: „Ich kann nicht mehr, weiß mir keinen Rat mehr, sehe nicht mehr hinaus. Herr, sorge Du, mach Du's!“
Wir aber machen's wohl selten so. Wir wollen gerne die Herren spielen, die alles allein machen und alles vermögen, und wir sind, wenn's nimmer geht, wohl auch ärgerlich, daß es uns nicht weiter gelingt - und mögen schon aus Verdrossenheit darüber Gott nicht bitten! Aber wenn wir so sind und nicht schließlich alles dem lieben Gott zuweisen können und Seiner Barmherzigkeit und Kraft, so machen wir unsre Sachen verkehrt und stürzen uns ins Verderben, indem wir lieber mit dem Kopf durch die Wand rennen wollen als stillestehen und zuwarten, demütig betend: „Ach, lieber Gott, hilf doch Du!“
David also, der König, verläßt sich auf seinen Gott. Ihm traut er's zu, daß Er es fertig bringe, wo er selbst, der Knecht David, stecken geblieben ist. Er traut's Ihm zu, daß Er den Wagen aus dem Sd1lamm wieder herausbringe, in welchen derselbe sid1 verlaufen hat.
Ja, Gott sind alle Dinge möglich; und Er hört auch, wenn wir bitten, und achtet darauf. Das müssen wir im Glauben festhalten. Wohl dem, der's kann! Denn ihm wird's wirklich nie fehlen. Das hat David erfahren, weswegen er auch sagen kann (Ps. 2,12): „Wohl allen, die auf Ihn trauen!“ (Christoph Blumhardt)
86:3 Herr, sei mir gnädig; denn ich rufe täglich zu dir!
86:4 Erfreue die Seele deines Knechtes; denn nach dir, Herr, verlangt mich.
David richtet's als Bitte zu Gott, wenn er sagt: „Erfreue mich, erfreue die Seele Deines Knechtes!“ Nur mit Bitten und Flehen können wir das, was wir verlangen, von oben bekommen; und nur, wenn wir gebetet und gefleht haben, erfreut uns das, was Gott gibt. Tut Gott uns Gutes, ohne daß wir bitten, so lässt's uns in der Regel kalt und undankbar, will's uns nicht erfreuen. Darum wartet der liebe Gott so gerne, bis wir bitten und bis wir ernstlich bitten. Dann erst macht's uns Freude, legt Gott gleichsam Ehre bei uns ein, wenn wir Erbetenes bekommen.
„Die Seele Deines Knechtes“, sagt David, d. h. des Mannes, der in Deinem Dienste steht, der also Deine Sache vertritt. Dies war bei David der Fall - und doch muß. er so viele Schwierigkeiten finden in dem, was ihm obliegt. Mit Leuten, die es anders wollten als er, hat er viel zu kämpfen gehabt. Die waren seine Widersacher, die ihn in allem hinderten. Hinter solchen Bösen steht auch der Feind, der der Widersacher heißt; und so kann's einem Knecht des HErrn - und überhaupt jeden, der des HErrn sein will - schwer gehen; so daß er oft Kummer und Betrübnis hat, weil's nicht gehen will und alles zu stocken scheint. Daher kommt die Bitte: „Erfreue mich, erfreue die Seele Deines Knechtes, in ihrer Bekümmernis und Sorge, indem Du mir nach meinem Verlangen tust!“
Was verlangt denn David? „Nach Dir“, sagt er, „verlangt mich“, d.h. nach Deiner Hilfe, wie und was es nun sei. Oft hat man nicht gerade eine besondere Bitte zum HErrn. Aber doch fühlt man eine Bedürftigkeit und Sehnsucht in sich; oder es ist dessen, was man zu bitten hat, zu viel, so daß man nicht weiß, womit man anfangen soll. Da ist denn alles gesagt, wenn ich sage: „Nach Dir, HErr, verlangt mich!“ Damit will gesagt sein: Mich verlangt, daß Du Dich einstellest, daß Du Dich nicht so ferne stellest; daß Du den Widersacher nicht so allein und frei wirken lässest, sondern daß Du ins Feld rückest und Deine Sache ausrichtest wider die, die Dir entgegen sind! - So meint's David.
So ist's auch für uns, wenn wir irgendwie besonders erregt und bewegt sind, ein umfassender Seufzer, nur zu beten: „Nach Dir, HErr, verlanget uns!“ Wir wissen oft nichts weiter hinzuzusetzen.
Wollen wir denn eben Ihn, Ihn zu allem, was es mit uns ist und werden soll, haben! Denn wir singen wohl auch: „Der hat alles, der Dich hat!“ Je ernstlicher wir's mit der Bitte meinen, desto gewisser wird auch unsre Seele - komme, was wolle - erfreut werden. Mit allem hat ja der HErr Sein Absehen auf die kommende rechte Freude im großen Jubeljahr! (Christoph Blumhardt)
86:5 Denn du, Herr, bist gut und gnädig, von großer Güte allen, die dich anrufen.
86:6 Vernimm, HERR, mein Gebet und merke auf die Stimme meines Flehens.
86:7 In der Not rufe ich dich an; du wollest mich erhören.
86:8 Herr, dir ist keiner gleich unter den Göttern, und ist niemand, der tun kann wie du.
86:9 Alle Heiden die du gemacht hast, werden kommen und vor dir anbeten, Herr, und deinen Namen ehren,
86:10 daß du so groß bist und Wunder tust und allein Gott bist.
86:11 Weise mir, HERR, deinen Weg, daß ich wandle in deiner Wahrheit; erhalte mein Herz bei dem einen, daß ich deinen Namen fürchte.
Es ist dieses Leben nichts anders, als ein Weg; wenn wir geboren werden, so treten wir ihn an, und wenn wir sterben, so hört mit dem Leben der Weg auf, und wir treten in die Ewigkeit. Hier gilt es, was wir für einen Weg in diesem Leben gehen. Gehen wir einen guten Weg des Glaubens, der Frömmigkeit und Gottesfurcht, so endigt sich derselbe zu der Himmels-Herrlichkeit. Gehen wir aber den breiten Weg des Unglaubens, Bosheit, Gottlosigkeit, so endigt er sich zur Hölle, in der ewigen Verdammniß. Wenn nun das ein Christ erwägt, so soll er sich 1) vorstellen, wie er in diesem Leben zwei Wege vor sich habe, den schmalen Himmelsweg und den breiten Höllenweg, aber er soll mit allem Fleiß den Himmelsweg gehen. 2) Damit er aber darauf treten und bleiben möge, so soll er fleißig Gott um seine Regierung und Führung anflehen, daß er ihn leiten und regieren wolle. 3) Bittet er Gott um sein heiliges Leiten und Regieren, so muß er nicht viel neben oder um sich sehen, wie andere Welt-Menschen leben, und was sie für Wege gehen; denn wenn er denen will nachgehen und nachfolgen, so hört Gottes Geist auf, ihn zu leiten, ja er weicht gar von ihm. Wie nun ein Wandersmann einen Geleitsmann von Nöthen hat, der ihm den rechten Weg weise: also bedarf auch ein gläubiger Christ, daß ihm Gottes Geist den rechten Weg zeige, den er wandeln soll. Hiezu aber gehört die Einwohnung des heil. Geistes im Herzen, daß es von ihm heiße: wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seyd, und der Geist Gottes in euch wohnet? 1 Cor. 3, v. 16. Hat man aber diesen treuen Geleitsmann in sich und bei sich, so wird er auch die Gedanken, Zunge, Sinnen und Begierden regieren. 5) Dieser heiligen Regierung widersetzt sich der gläubige Christ nicht, sondern läßt sich führen, ermuntern und leiten, und ist versichert, daß er wird wohl geführt werden, hie zeitlich und dort ewig. O selige Führung! Wohl dem, der Gott zum Führer hat. (Johann Friedrich Stark)
86:12 Ich danke dir, Herr, mein Gott, von ganzem Herzen und ehre deinen Namen ewiglich.
86:13 Denn deine Güte ist groß über mich; du hast meine Seele errettet aus der tiefen Hölle.
86:14 Gott, es setzen sich die Stolzen wider mich, und der Haufe der Gewalttätigen steht mir nach meiner Seele, und haben dich nicht vor Augen.
86:15 Du aber, Herr, Gott, bist barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte und Treue.
86:16 Wende dich zu mir, sei mir gnädig; stärke deinen Knecht mit deiner Kraft und hilf dem Sohn deiner Magd!
86:17 Tu ein Zeichen an mir, daß mir's wohl gehe, daß es sehen, die mich hassen, und sich schämen müssen, daß du mir beistehst, HERR, und tröstest mich.
Herr, mein Gott, der Du bist barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte und Treue, ich danke Dir von Herzen mit David und ehre Deinen Namen ewiglich; denn Deine Güte ist bisher reich und groß an mir armen Sünder gewesen, und Deine Barmherzigkeit hat noch kein Ende. Wie oft hätte ich meiner Sünden halber in die unterste Hölle verfallen können; Du aber hast mich durch Deine mächtige Gnade herausgerissen! Wie oft bin ich von außen durch andere Menschen angefochten und bedrängt worden; Du aber hast’s nicht zugegeben, daß sie mir haben schaden können! Hättest Du mit mir nach meinen Sünden handeln wollen, so hätten mich sowohl geistliche als leibliche Feinde längst verschlungen und aufgerieben. Aber Du hast in der That gezeigt, dass Du gern vergiebst Allen, die Dich anrufen. Doch nun höre mich, getreuer Gott, denn ich bin ja arm und elend genug. Ich rufe von ganzem Herzen, ach, merke auf die Stimme meines Flehens. Ich rufe, wie alle diese Abende: Erhalte mein Herz bei dem Einigen, dass ich Deinen Namen fürchte. Habe ich dieses Einige und werde dabei durch Deine Kraft und Gnade erhalten, so habe ich Alles. Die Furcht Deines Namens ist ja das einige Nothwendige zur Seligkeit und der einige Grund wahrer Weisheit und Frömmigkeit. Bewahre deswegen meine Seele und den innern Menschen durch diese Deine göttliche Furcht, dass ich nichts wider Deinen heiligen Willen denke, rede und thue, sondern dass ich Alles denke, rede und thue als vor Deinen heiligen Augen und Deinem Angesichte; dass auch mein inneres Auge allein auf Dich gerichtet und gewandt sei also, dass ich alle meine Worte und Werke in Deiner Furcht zuvor wohl bedenke, und in allen Dingen Deine göttliche Weisheit, Allmacht und Hülfe zuvor demüthig anrufe; dass ich mich auch durch kein zeitlich Ding, Ehre, Reichthum, weltliche Lust oder Menschenfurcht von Deiner göttlichen Furcht lasse abwenden; denn wer hier in diesem Leben Deiner Furcht sich recht ergeben, findet auch nach dieser Zeit durch sie stete Seligkeit. Amen. (Johann Friedrich Wilhelm Arndt)