Rieger, Carl Heinrich - Kurze Betrachtungen über die Psalmen – Der 22. Psalm.

Rieger, Carl Heinrich - Kurze Betrachtungen über die Psalmen – Der 22. Psalm.

1. Ein Psalm Davids, vorzusingen von der Hindin, die frühe gejagt wird. 2. Mein GOtt, mein GOtt, warum hast du mich verlassen? Ich heule, aber meine Hilfe ist ferne. 3. Mein GOtt, des Tages rufe ich, so antwortest du nicht; und des Nachts schweige ich auch nicht. 4. Aber du bist heilig, der du wohnst unter dem Lobe Israels. 5. Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen aus. 6. zu dir schrien sie, und wurden errettet; sie hofften auf dich, und wurden nicht zu Schanden. 7. Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute, und Verachtung des Volks. 8. Alle, die mich sehen, spotten meiner, sperren das Maul auf, und schütteln den Kopf: 9. Er klage es dem HErrn, der helfe ihm aus, und errette ihn, hat er Lust zu ihm. 10. Denn Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen; Du warst meine Zuversicht, da ich noch an meiner Mutter Brüsten war. 11. Auf dich bin ich geworfen aus Mutterleibe; du bist mein GOtt von meiner Mutter Leib an. 12. Sei nicht ferne von mir; denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer. 13. Große Farren haben mich umgeben, fette Ochsen haben mich umringt; 14. Ihren Rachen sperren sie auf wider mich, wie ein brüllender und reißender Löwe. 15. Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leib wie zerschmolzenes Wachs. 16. Meine Kräfte sind vertrocknet wie ein Scherben, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen; und du legst mich in des Todes Staub. 17. Denn Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat sich um mich gemacht; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. 18. Ich möchte alle meine Gebeine zählen. Sie aber schauen, und sehen ihre Lust an mir. 19. Sie teilen meine Kleider unter sich, und werfen das Los um mein Gewand. 20. Aber Du, HErr, sei nicht ferne, meine Stärke, eile mir zu helfen. 21. Errette meine Seele vom Schwert, meine Einsame von den Hunden. 22. Hilf mir aus dem Rachen des Löwen, und errette mich von den Einhörnern. 23. Ich will deinen Namen predigen meinen Brüdern, ich will dich in der Gemeine rühmen. 24. Rühmt den HErrn, die ihr ihn fürchtet; es ehre ihn aller Same Jakobs, und vor ihm scheue sich aller Same Israels. 25. Denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen, und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen, und da er zu ihm schrie, hörte er es. 26. Dich will ich preisen in der großen Gemeine; ich will meine Gelübde bezahlen vor denen, die ihn fürchten. 27. Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden; und die nach dem HErrn fragen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewig leben. 28. Es werde gedacht aller Welt Ende, dass sie sich zum HErrn bekehren, und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Heiden. 29. Denn der HErr hat ein Reich, und er herrscht unter den Heiden. 30. Alle Fetten auf Erden werden essen und anbeten; vor ihm werden Knie beugen alle, die im Staube liegen, und die so kümmerlich leben. 31. Er wird einen Samen haben, der ihm dient; vom HErrn wird man verkündigen zu Kindeskind. 32. Sie werden kommen, und seine Gerechtigkeit predigen dem Volk, das geboren wird, dass Er es tut.

Der 22. Psalm heißt 1) in der Überschrift: Ein Psalm Davids, vorzusingen von der Hindin, die frühe gejagt wird. David mag sich in seinem Fliehen und Umgetriebenwerden vor Saul, mit einem gejagten Hirsch vergleichen, und diesem Leidens-Psalm daher diese Überschrift gegeben haben. 2) Der Inhalt des Psalmen selber, und dessen öftere Anführung im Neuen Testament, zeigt zwar, dass der Geist Christi eigentlich von Christi Leiden darin zeuge; doch gleichwie noch jetzt der Geist Christi das Geheimnis Seiner Leiden am nachdrücklichsten verklärt, wenn der Mensch selbst auch seines Orts im Leiden steht; also mag auch David solche prophetische Aufschlüsse von dem Leiden Christi bei solchen Gelegenheiten bekommen haben, da er selber in schwerem Leiden stand, und gleichwie der Ausschlag von Verklärung der Leiden Christi in dem Herzen eines Seiner leidenden Glieder der ist: Bei Christi Leiden, Kreuz und Tod, Vergesse ich billig meine Not; so mag freilich auch David, wenn er nachgehends über einen solchen Psalm geforscht und nachgedacht hat, darin nicht sowohl die Beschreibung seiner Leiden, als vielmehr die Beschreibung der unendlich wichtigeren Leiden Christi gefunden, und darüber auch seiner Not selig vergessen haben. Das gibt uns dann genugsamen Grund, dass wir nun einen solchen Psalm beim Licht des Evangeliums geradehin von Christi Leiden verstehen können, wie nun auch in diesem Psalmen alle weiteren Worte zeigen: denn wir finden nun eine klägliche und unter stetem Gebet zu GOtt abgefasste Beschreibung der inneren und äußeren Leiden JEsu Christi, und da können wir also zuhören, was und wie dieser liebe Sohn GOttes unter Seinem Leiden mit Seinem himmlischen Vater geredet und zu Ihm gebeten hat, V. 22. Was denkst du unter diesem Anblick? ist dir JEsu Kreuz und Leidensgestalt auch ein Ärgernis und Spott? Oder kannst du dies Bild mit zerschlagenem Herzen und mit Reue und Glauben ansehen? Gehst du gerne mit solcher ausführlichen und umständlichen Betrachtung und Verkündigung dieses Leidens und Todes um? Treibt dich der Geist, der dem David so frühzeitige Aufschlüsse von diesem Leiden gegeben hat, auch an, in Betrachtung dieser Leiden deine Weide zu suchen, die Schrift und deren Erfüllung zusammen zu halten, dein Herz, dein Gemüt, deine Glaubensübung darunter fleißig zu erneuern, Gegenliebe in dir dadurch zu erwecken, die Leidens-Gemeinschaft dir dadurch zu versüßen? Denkst du auch, dass nun dies Bild die tägliche Augenlust des himmlischen Vaters sei, und dass die nämliche Sache, darüber dieser Psalm gestellt ist, nun mit immer neuen Liedern im Heiligtum GOttes vor Seinem und des Lämmleins Thron besungen wird, und also auch unser tägliches Lied im Haus unserer Wallfahrt ausmachen soll? 3) Höre zu diesem Ende nun im Psalm weiter wie sich dein leidender Heiland gegen Seinen himmlischen Vater so freimütig und gegen uns so gnädig und mitleidig erklärt, was nun Sein Leiden und dessen siegreicher Ausgang für Frucht und Segen schaffen soll, V. 23 bis zum Schluss. Sieh also, was aus JEsu Leiden erwachsen ist, und noch weiter erwachsen soll: GOttes Ehre, und aller Gottesfürchtigen Heil, ja eine Predigt zur Buße und Vergebung der Sünden, durch die auch Solche, die ferne waren, sollen herbeigerufen werden, dass sie sich zum HErrn bekehren. Was ist hievon in der Apostelgeschichte und weiterhin für ein guter Anfang gemacht worden? Wie vielen Elenden ist inzwischen schon dies Evangelium zum ewigen Leben ihres Herzens zu statten gekommen, und wie wird die Frucht dieses so tief in die Erde gefallenen Weizenkorns hinausreichen bis ans Ende der Tage? Das wird noch im Mund der spätesten Nachkommen der fröhliche Ruhm sein: Er tuts, Er hats getan, Er hat mit Einem Opfer in Ewigkeit vollendet Alle, die geheiligt werden.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/r/rieger_k/rieger-psalmen-psalm_22.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain