Heliand - 42 - Die Blinden von Jericho.

Heliand - 42 - Die Blinden von Jericho.

Nun fuhr er vorwärts, freudigen Sinn
In der Brust geborgen, der Geborne des Herrn.
Zu Jerusalem wollt er des Judenvolkes
Uebeln Willen weisen, denn wohl erkannt er
Ihr heißgrimmes Herz, ihren harten Sinn
Und widrigen Willen. Die Wandernden zogen
Vor Jericho hin; der Gottessohn
In der Menge, der mächtige. Zwei Männer saßen am Wege,
erblindet beide, der Beßerung bedürftig,
Daß sie heilte der Himmelswalter,
Die sie leider lange nun des Lichtes entbehrten,
So manche Stunde. Sie hörten die Menge nahn
Und fragten sofort beflißentlich,
Die starrblinden, was für ein starker Held
In dem nahenden Volke der vornehmste wäre,
Der hehrste Häuptling. Der Helden Einer versetzte,
Daß Jesus Christus von Galiläaland,
Der Heilande Bester, der Hehrste wäre
Vor dem Volke, das ihm folgte. Da wurde fröhlich das Herz
Den beiden Blinden, da sie Gottes Geborenen
Unter der Leute Schar wusten. Da schrieen sie laut
Zu dem heiligen Christ, daß er ihnen Hülfe gewährte.
„Herr, du Sohn Davids, sei uns mild mit der That,
Entnimm uns dieser Noth, wie du so viele nimmst
Des Menschengeschlechts. Du bist so Manchem gut,
Hilfst und heilest.“ Da wollten ihnen die Helden
Mit Worten wehren, daß sie zu dem waltenden Christ
So laut nicht riefen. Sie aber ließen nicht ab,
Immer mehr und mehr über der Männer Volk
Zu schreien ungestüm. Da stand der Heiland still,
Der Gebornen Bester, hieß sie zu ihm bringen,
Durch die Leute leiten und legt' ihnen die Frage vor
Milde vor der Menge: „Was möchtet ihr von mir denn
Für Hilfe erbitten?“ Da baten sie den Heiligen,
Daß er die Augen ihnen öffnen wollte,
Dieses Licht verliehe, daß sie der Leute Lust,
Den hellen Sonnenschein erschauen möchten,
Die wunderschöne Welt. Der Waltende willfahrte,
Berührte sie mit den Händen und half dazu,
Daß alsbald den Blinden beiden wurden
Die Augen geöffnet, daß sie Erd und Himmel
Durch Gottes Kraft erkennen konnten,
Licht und Leute. Da lobten sie Gott,
Verherlichten den Herrn, daß sie des hellen Tags
Sich erfreuen durften. Sie fuhren nun mit ihm
Und folgten seiner Fährte. Erfüllt war ihr Flehn
Und des Waltenden Werk weithin verkündet,
Der Menge gemeldet.

Hiemit war ein herrliches
Bild geboten, da die blinden Männer
Am Wege saßen und Wehe duldeten,
Des Lichtes ledig. Der Leute Kinder meint' es,
Der Menschen Geschlecht, wie sie der mächtige Gott
Im Anbeginne durch seine einige Kraft
Zwei Eheleute liebreich erschuf,
Adam und Eva, und ihnen Aufwege lieh
Zum Himmelreiche. Da war der Gehäßige nah,
Der falsche Feind, der sie mit Frevelwerken,
Mit Sünde bestrickte, daß sie das ewig schöne
Licht verhießen. An leidige Stätte wurden,
In diesen Mittelkreiß, die Menschen verworfen,
Wo sie im Düster Drangsal duldeten und Arbeit,
Auf weiter Wanderung der Wonne darbten,
Des Gottesreichs vergaßen, den Gramgeistern dienten,
Des Feindes Kindern, die ihnen mit Feuer lohnten
In der heißen Hölle. Darum waren im Herzen blind
In diesem Mittelkreiß die Menschenkinder,
Weil sie nicht erkannten den kräftigen Gott,
Den himmlischen Herrn, dessen Hand sie erschuf,
Nach seinem Willen bildete. Da war die Welt so verirrt
In Düster gedrängt, in Dienstbarkeit,
In des Todes Thäler. Betrübt saß die Menschheit
An des Herren Straße, Gottes Hülfe erwartend:
Die mocht ihnen nicht werden, eh der waltende Gott
In diesen Mittelkreiß, der mächtige Herr,
Senden wollte den eigenen Sohn,
Daß er das Licht erschlöße den Leutekindern
Das ewige Leben öffnete, daß sie den Allwaltenden
Erkennen könnten, den kräftigen Gott.
Auch mag ich euch sagen, wenn ihr es sinnig wollt
Hören und beherzigen (daß ihr des Heilands
Kraft mögt erkennen, wie sein Kommen ward
In diesem Mittelkreiß den Menschen hülfreich
Und was mit seinen Thaten Tiefes meinte
Der hohe Herr), warum die hehre Burg
Jericho heißt, die bei den Juden steht
Mit mächtigen Mauern. Nach dem Mond ist sie genannt,
Dem leuchtenden Gestirn. Der läßt von seinen Zeiten nicht,
Sondern an jedem Tage thut er das Eine oder das Andere.
Er wächst oder schwindet. So in der Welt auch hier
In diesem Mittelgarten der Menschen Kinder:
Sie fahren hin und folgen sich; die frühern sterben,
Nach jenen kommen dann junge wieder
Und wachsen heran bis wieder das waltende Geschick sie rafft.
Das meinte Gottes Geborner, als er der Burg vorüber,
An Jericho fuhr, daß nicht früher den Menschen
Die Blindheit zu beßern sei,
daß sie das blendende Licht,
Das ewig schöne, sähen, eh er selber hier
In dieser Mittelwelt die Menschheit empfangen hätte,
Fleisch und Leib. Da wurden die Völker der Menschen
In dieser Welt gewahr, die hier wehvoll zuvor
In ihren Sünden geseßen, des Gesichtes bar
Im Düster duldend, nun komme diesem Volke
Der Heiland zu Hülfe vom Himmelreiche,
Christ, der Könige bester. Sie erkannten ihn nun wohl,
Empfanden seine Nähe, da sie nun so laut
Zu dem Mächtigen riefen, daß ihnen milde hinfort
Der Waltende würde. Da wehrten ihnen mahnen
Die schweren Sünden, die sie selber gethan,
Vom Glauben zu laßen. Doch mochten sie den Leuten
Ihren Willen nicht wehren: zu dem waltenden Gott
Riefen sie laut und lauter, bis er ihnen Heil verlieh,
Daß sie der Seligen Leben erschauen durften,
Das ewige Licht und eingehn einst
In den prächtigen Bau. Das bedeuteten die Blinden,
Die bei Jericho zu dem Gottessohne
So laut riefen, daß er ihnen Heilung verleihe,
Dieses Lebens Licht, wiewohl der Leute viel
Ihnen mit Worten wehrten, die des Weges fuhren
Vorn und hinten. So wehren die Frevel
In diesem Mittelkreiß dem Menschengeschlecht.
Nun hört wie die Blinden, als sie Heilung empfiengen,
Daß sie das Sonnenlicht erschauen mochten,
Wie die Guten thaten. Sie giengen mit dem Herrn,
Folgten seiner Fährte, und verherlichten freudig
Des Landeshirten Lob. So thun der Leute Kinder,
Weit über diese Welt, seit sie der waltende Gott
Erleuchtete mit seiner Lehre, ihnen ewiges Leben,
Gottes Reich gab, den guten Mannen,
Des hohen Himmels Licht, und seine Hülfe Jedem
Der zu wirken willig ist, daß er seinem Wege folgen mag.

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