Christoffel, Raget - Erweise christlicher Bruderliebe gegen die durch den Veltlinermord verwaisten und vertriebenen Kinder der Evangelischen aus diesem Thale.

Christoffel, Raget - Erweise christlicher Bruderliebe gegen die durch den Veltlinermord verwaisten und vertriebenen Kinder der Evangelischen aus diesem Thale.

Im gleichen Jahre 1512, in welchem die zwölf alten Cantone der Schweiz Herrn und Gebieter von Lugano, Locarno und Domo d'Ossola wurden, erlangten die Graubündner in Hohen Rhätien die Herrschaft über die am südlichen Abhange ihrer Berge liegenden Gebiete Veltlin, Cleven und Worms nebst den drei Pleven. Dadurch wurde später der in Graubünden sich verbreitenden Reformation auch der Weg nach diesen Gebieten gebahnt. Im Jahre 1526, den 26. Juni hatte die oberste Staatsbehörde Graubündens, der Bundestag, in seiner Versammlung zu Ilanz ein Gesetz aufgestellt und beschworen, das als ein herrliches Denkmal staatsmännischer Weisheit in der Geschichte dieses Landes glänzt: „Jedem Individuum, wessen Standes und Geschlechtes es sei“, ward darin festgesetzt, „sollte im ganzen Gebiete Bündens freistehen, sich zu der katholischen oder zu der evangelischen Lehre zu bekennen, und fortan sollte Niemand, bei einer willkürlichen Strafe, einem anderen wegen seiner Religion insgeheim oder öffentlich Vorwürfe machen, oder mit Tadel und Scheltworten ihn belegen. Die Priester und Geistlichen sollten nichts lehren als was in dem alten und neuen Testamente enthalten, auch daraus vollkommen zu beweisen sei; daher sollten die Pfarrer gehalten sein, die heilige Schrift als die einzige Richtschnur des Glaubens und Lebens eifrig und beständig zu studieren1). Unterm Schutze dieses Gesetzes verbreitete sich die Reformation in allmäligem Fortschritte in den meisten Gemeinden dieses Berglandes. In Veltlin glaubten die Evangelischgesinnten, daß die Bestimmung dieses Gesetzes auch für sie gelte. Als jedoch die Päpstlichgesinnten Widerspruch dagegen erhoben, wurde 1554 auf dem Bundestage zu Davas ausdrücklich festgelegt: „Daß jeder zu dem evangelischen Glauben sich bekennende Bürger im Veltlin, zu Chiavenna und auf dem ganzen Gebiete von Graubünden berechtigt sein sollte, in seinem Hause Lehrer oder Meister zum geistlichen Unterricht seiner Familie zu halten“. Ferner: „Daß alle, welche nothgedrungen um ihres evangelischen Glaubens willen aus ihrem Vaterlande entflohen, die Freiheit haben sollten, innerhalb des Gebietes der Republik sich niederzulassen, wo sie wollten, sofern sie zu der evangelischen Lehre öffentlich bekannt, und die gesetzlich geforderten Bürgschaften geleistet haben würden“. Der Haupturheber dieses Gesetzes war Herkules von Salis in Chiavenna, ein als Krieger und Staatsmann gleich ausgezeichneter eifriger Anhänger und Beförderer der evangelischen Lehre. Dieser hatte schon früher den um seines evangelischen Bekenntnisses willen aus Italien flüchtigen Augustinermönch Agustino Mainardo aus Saluzzo als Privatlehrer angestellt gehabt. Durch die treuen Bemühungen dieses eifrigen evangelischen Lehrers hatte sich in Chiavenna eine kleine evangelische Gemeinde herangebildet. Jetzt wurde nun Meinardo in Folge obigen Gesetzes zum Pfarrer dieser Gemeinde gewählt. Herkules von Salis schenkte derselben zur Abhaltung des Gottesdienstes die seiner Familie eigenthümlich zugehörige Kapelle „Sancta Maria del Paterino“ nebst einer Pfarrwohnung, einem Garten und den nöthigen Einkünften für den Pfarrer. Nun bildeten sich vorzüglich durch die Wirksamkeit flüchtiger evangelischer Geistlichen und Gelehrten aus Italien bald in allen bedeutenden Ortschaften des Veltlins kleinere oder größere evangelische Gemeinden. Aber von Seiten der päpstlichen Partei wurden nun auch alle Hebel in Bewegung gesetzt, um der weiteren Verbreitung der evangelischen Lehre hier Schranken zu setzen und um sie endlich ganz zu unterdrücken. „Es sei eine wahre Schande für die Republik Graubünden“, schrien sie, „daß sie solchen von allen Fürsten und Staaten aus ihrem Gebiete verjagten Banditen ein Asyl gewährt habe“. Capuziner und andere Mönche, die als Fastenprediger in diese Thäler von Mailand aus entsandt wurden, regten auch in den ärmsten Hütten den fanatischen Haß gegen die Evangelischen auf. Indessen ließen sich die Oberbehörden Graubündens durch solches Geschrei nicht beirren, sondern fuhren fort die Grundsätze religiöser Freiheit durch gerechte Gesetze aufrecht zu erhalten. Im Jahre 1557 ward vom Bundestage zu Ilanz von diesem Standpunkt aus beschlossen: „Im ganzen Veltlin, in der Grafschaft Bormio und Teglio solle das Wort Gottes, das Evangelium unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi frei gepredigt werden dürfen. In jedem Dorfe, worin sich mehrere Kirchen befänden, sollten die Katholiken eine davon für sich wählen und die andere sollte den Protestanten gehören. Wo sich nur eine einzige Kirche befand, sollten die Katholiken darin ihren Gottesdienst Vormittags, die Protestanten aber Nachmittags feiern. Die Angehörigen einer Religion sollten die Mitglieder des anderen Bekenntnisses weder bei Ausübung des Gottesdienstes noch bei Leichenfeierlichkeit stören dürfen. Die Protestanten und ihre Lehrer sollen von keiner Beamtung ausgeschlossen sein. Kein auswärtiger Mönch oder Priester irgend eines christlichen Bekenntnisses sollte auf dem Gebiete der Republik seinen Wohnsitz aufschlagen dürfen, ohne zuvor von der Behörde seiner Kirche geprüft worden zu sein und die Erlaubniß zu öffentlichen geistlichen Functionen erhalten zu haben, nämlich die protestantischen Geistlichen von der evangelischen Synode und die Katholischen vom Bischofe von Chur.“ Am tiefsten fand sich die römische Partei durch den Beschluß des Bundestages von 1563 verletzt, der die Errichtung einer höheren Bildungs-Anstalt in Sandrio verordnete. Es sollte zwar dieselbe kein theologisches Seminar werden, sondern auf den Unterricht in den Sprachen und in den freien Künsten sich beschränken. Professoren beider Confessionen sollen an dieser Anstalt lehren und protestantische und papistische Kinder darin gleiche Aufnahme und gleiche Rechte finden. Zum Rector an dieser Schule wurde Raphael Eglin von Zürich berufen. Aber kaum war diese Anstalt, die ein Segen für diese Gebiete zu werden bestimmt war, ins Leben getreten, so bot auch die römische Partei ihre furchtbare Macht auf, sie zu zerstören. Der spanische Statthalter in Mailand und die altgesinnten Cantone der Schweiz bestürmten die Oberbehörden Graubündens mit Vorstellungen und Drohungen, welche die Aufhebung dieser Anstalt bezweckten, und die römische Geistlichkeit des Veltlins donnerte von Kanzeln der Thalschaft und intriguirte vom Beichtstuhle aus gegen dieselbe. Endlich gab der Bundestag diesen Vorstellungen und Intriguen nach und versetzte die Anstalt nach Chur. Aber durch diese Nachgiebigkeit hatte die graubündnerische Oberbehörde die römische Partei keineswegs befriedigt, sondern sie vielmehr zu größerer Anmaßung ermuthigt. Der päpstliche Hof konnte nicht dulden, daß das Evangelium hier in italienischer Sprache verkündiget werde und seine beseligende Kraft offenbare. Mit Entrüstung sah man, wie die evangelischen Flüchtlinge aus Italien hier eine Zufluchtstätte und ein Wirkungsfeld fanden. So ward die Zerstörung der evangelischen Kirche der Veltlins oder in der römischen Sprache der „Ketzercolonie“ von Rom aus beschlossen. Mit den Interessen des römischen Hofes waren in dieser Beziehung diejenigen des spanischen Oberherrn von Mailand eng verbunden. Veltlin hatte für diesen besondere Wichtigkeit, weil es den Verbindungspaß zwischen der Lombardei und Deutschland bildete und der Besitz desselben ihm daher zu jeder Jahreszeit gestatte, Truppensendungen aus dem einen in das andere Land zu besorgen. Vergegenwärtigen wir uns noch, daß damals der alte Inquisitor Ghislieri als Pius V. auf dem römischen Stuhl und Philipp II. auf dem spanischen Königsthrone saß und daß Herzog Alba spanischer Statthalter in Mailand war, so begreifen wir, welche furchtbare Feinde die evangelischen Gemeinden des Veltlins hatten. Doch würden dieselben nicht ihre blutgierigen Zwecke erreicht haben, wenn die rhätische Republik sich noch der alten Eintracht, Unschuld und Würde erfreut hätte. Aber Führer und Volk dieses Freistaates waren in Parteien zertheilt, die sich an das Ausland anlehnten und das gemeinsame Vaterland an den Rand des Verderbens brachten. Während die römisch-katholische Partei ihre Losung von Rom empfing, verwechselten die Evangelischen auch mitunter die Interessen für das gemeinsame Vaterland mit denjenigen für Frankreich und für Venedig. Ein furchtbares Mittel zur Bethätigung der Parteileidenschaft waren die sogenannten Strafgerichte, die von der augenblicklich obsiegenden Partei in aufrührerischer Weise aufgestellt wurden und die ohne an die bestehenden Gesetze sich zu binden, über Vermögen, Ehre und Leben der Gegner absprachen. An der Spitze der päpstlichspanischen Partei standen die Gebrüder Rudolf und Pompejus von Planta und im Veltlin selbst verfocht die Interessen derselben mit fanatischem Eifer der Erzpriester Nicolo Rusca, zubenannt der „Ketzerhammer“, gebürtig von Lugano. Nachdem die Gebrüder von Planta als Landesverräther aus Rhätien verbannt worden, scheint der Durst nach Rache an der Gegenpartei jedes andere Gefühl und jede andere Rücksicht bei ihnen unterdrückt zu haben. Mit ihnen verband sich Jacob Robustelli, aus Großoto in Veltlin gebürtig, und noch einige andere verwegene Anhänger der spanisch-päpstlichen Partei. Die blutigen Verwicklungen zwischen der päpstlichen und der evangelischen Partei, welche im furchtbaren dreißigjährigen Kriege so verderblich für Deutschland wurden, verzweigten sich auch nach Graubünden hin und bestimmten auch das Ziel für den Rachedurst der Gebrüder von Planta und ihres Verwandten Robustelli. Die „Ausrottung aller Evangelischen in Veltlin und die Abtrennung dieser Thalschaft von Graubünden entsprach sowohl den Wünschen des Papstes, als denjenigen des spanischen Oberherrn in Mailand; denn dadurch ward einerseits Italien endlich von der evangelischen Ketzerei völlig gereiniget und anderseits ward die Straße für die spanischen Truppen nach Deutschland hin geöffnet. Zur Bethätigung des verbrecherischen Unternehmens hatte Robustelli eine Schar Banditen und verwegener Verbrecher angeworben. Am Morgen des 19. Juli 1620 ertönte in Tirano die Sturmglocke und gab das Signal zum Morde. Sogleich wurden von den Mörderbanden die Häuser der Evangelischen erstürmt und diese selbst unter den ausgesuchtesten Martern hingemordet. Kein Alter noch Geschlecht fand Schonung. An vier- bis fünfhundert Personen fielen als Opfer der fanatischen Wuth der Römlinge an diesem Tage. Manches herrliche Zeugniß der evangelischen Glaubenstreue wurde noch unter dem geschwungenen Mordstahl von denselben abgelegt. Statt die Gräuelscenen des Mordes zu schildern, wollen wir sehen, wie die evangelische Bruderliebe schmerzenlinderndes Oel in die geschlagenen Wunden gießt und sie zu heilen sucht. Vielen Evangelischen des Veltlins war es gelungen, unter unsäglichen Gefahren über das Gebirge nach Graubünden zu entfliehen; aber sie hatten nichts gerettet, als das Kleinod ihres evangelischen Glaubens und ihr Leben. Mehr als hundert Kinder, deren Eltern an diesem Schreckenstag hingemordet worden, wurden später von mitleidigen Menschen gesammelt und gleichfalls über das Gebirge zu ihren Glaubensbrüdern hingeleitet. Die Einen wie die Anderen nahmen ihre Zuflucht nach Zürich, dessen Geistlichen und Bürger so großmüthig sich aller verfolgten Glaubensbrüder annahmen. Hier wurden an zweihundert und sechszig dieser Unglücklichen im ehemaligen Kloster Selnau untergebracht und durch die Liebesgaben der Glaubensbrüder erhalten. Für die Unmündigen wurden Professor Waser und Conrad Locher, die beide der italienischen Sprache kundig waren, als Schutzvögte ernannt. Aber das Los dieser Unglücklichen fand auch anderswo die herzlichste Theilnahme. Die Evangelischen in Holland und in England veranstalteten zu ihren Gunsten Kirchensteuern, deren Ertrag nach Zürich eingesandt wurde. In den Kirchen der Stadt und des Cantons Zürich wurden in den Jahren 1620 und 1621 Steuern zu Gunsten dieser evangelischen Flüchtlinge gesammelt, deren Betrag sich auf 3845 Gulden und 36 Schillinge belief. Winterthur steuerte 400 Gulden; Stein am Rhein 160 Gulden. Die Kirche von Basel steuerte 600 Gulden; diejenige von Bern 1000 Gulden und die von Schaffhausen ebenfalls 1000 Gulden. Da jedoch für die Erziehung der verwaisten Kinder auf diese Weise nicht gehörig gesorgt werden konnte, so wandte sich die mit deren Versorgung betraute Commission an die christlichen Familien der Stadt mit der Bitte, daß ihrer je drei oder vier sich entschließen möchten, irgend eins von den verwaisten Kindern eines ermordeten Vaters oder der im Elend gestorbenen Eltern mit gemeinschaftlichem Rathe zu erziehen, und so dem Staate die Bürde mittragen zu helfen. Diese Bitte fand williges Gehör, so daß bald mehr als achtzig solcher Kinder in bürgerlichen Familien Aufnahme, Verpflegung und eine christliche Erziehung fanden. Sie besuchten mit heranwachsendem Alter die Schulen und wurden in den Werkstätten und auf den Comptoirs zu nützlicher Thätigkeit angeleitet und gewöhnt. Der Herr aber ließ seinen Segen auf dem Liebeswerke an diesen armen, verwaisten Kindern ruhen, so daß sie selbst zum Segen der neuen Heimath wurden. Manche Familie, die eine sehr ehrenvolle Stellung in der Schweiz eingenommen und noch einnimmt, entstammt den durch päpstlichen Glaubenshaß aus ihrer Heimath vertriebenen evangelischen Veltlinern. Wir gedenken z. B. nur der sehr ehrenwerthen Familie Pestalozzi, die aus gleichem Grunde 1567 gezwungen ward, ihre Heimath in Chiavenna zu verlassen und nach Chur und Zürich auszuwandern. Wie herrlich hat Gott durch einen Sprößling dieser Familie, durch den kindlich frommen Heinrich Pestalozzi, die Wohlthat, die den verwaisten Veltliner Kindern in Zürich erwiesen wurde, an tausenden armen Kindern wieder vergolten! Dieser Mann war es, der mit apostolischem Eifer sich der armen, verwaisten Kinder selbst angenommen und mit einem Ernste, wie Keiner vor ihm, den Staat und die mit Glücksgütern Gesegneten an die heilige Pflicht erinnerte, für die Kinder der Armen und für die Verwaisten zu sorgen. So segnet Gott jedes Werk der christlichen Liebe, daß es ein Samenkorn wird, aus dem Saaten reifen, die ewig dauern. Möge der Herr die Erinnerung an diese Liebesthat auch an vielen Herzen segnen und sie zu gleichem Thun bestimmen.

1)
Die Reformationsgeschichte Graubündens hat uns die Namen der Urheber dieses Gesetzes aufbewahrt; sie waren: „Johannes Galen“ der Aelteste, von Davas, „Johannes Travers“ von Zulz und „Lacius Heim“ von Chur.
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