Brenz, Johannes - Auslegung des Vaterunser - Die sechste Bitte.

Führe uns nicht in Versuchung!

Bei der Auslegung dieser Bitte müssen wir zuerst und vor Allem bedenken, dass wir in dieser Bitte Gott, unseren himmlischen Vater keiner argen Gesinnung gegen uns beschuldigen, als würfe er uns in Versuchungen und Gefahren, dadurch wir uns zu Sünden und zu Gottlosigkeit verleiten ließen. Denn wie Gott nicht der Urheber irgend einer Sünde ist, auch kein Gott, der da Ungerechtigkeit will, so setzt er uns nicht Versuchungen und Gefahren aus, damit wir umkommen. In diesem Sinne sagt Jakobus (1,13) mit Recht: „Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde; denn Gott ist nicht ein Versucher zum Bösen, er versucht Niemanden.“

Was ist's nun wird man sagen dass 1. Mose 22,1 geschrieben steht: „Gott versuchte Abraham.“ Und 5. Mose 8,2: „Der Herr, dein Gott, hat dich geleitet diese 40 Jahre in der Wüste, auf dass er dich demütigte und versuchte, dass kund würde, was in deinem Herzen wäre.“ Und 5. Mose 13,4: „Der Herr, euer Gott versucht euch, dass er erfahre, ob ihr ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele lieb habt.“ Das ist nun so zu unterscheiden, dass wir meinen, Gott versuche zwar Niemanden, um ihn zu Sünden zu verleiten und zu verderben (denn das ist des Satans Absicht bei seinen Versuchungen), sondern er versuche die Menschen, um ihren Glauben zu prüfen und zu bewirken, dass sie sich selbst besser erkennen und mehr in Tugenden üben. Da nun diese Absicht die beste ist, dürfen wir die Versuchung Gottes keines Argen beschuldigen.

Zweitens erbitten wir in dieser Bitte nicht, dass uns keine Versuchungen treffen mögen; denn Christus lehrt uns nicht also bitten: Sende keine Versuchung über uns! Die Versuchung ist ja für die Frommen nicht unnütz. Sir. 27,6: „Gleichwie der Ofen bewährt die neuen Töpfe, also bewährt die Trübsal des Menschen Sinn.“ Und wiederum Sir. 34,10: „Wer nicht geübt ist, der versteht wenig.“ Und Psalm 26,2 betet: „Prüfe mich, Herr, und versuche mich; läutere meine Nieren und mein Herz!“ Wir erbitten also nicht, dass wir keine Versuchung haben mögen, sondern wir erbitten, dass Gott uns nicht in Versuchung führe, d. h. dass er uns schütze und bewahre, damit wir nicht durch die Versuchung in Sünden und in Gottlosigkeit stürzen, und dass er uns nicht in der Versuchung umkommen lasse, sondern zugleich mit der Versuchung ein solches Ende derselben gebe, dass wir's können ertragen. In der vorigen Bitte haben wir nämlich gebeten, dass uns die Sünden vergeben werden. Es ist aber nicht genug, dass uns die Sünden vergeben werden, welche der Tat nach vergangen sind, und welche noch am Fleische haften und gegenwärtig sind: sondern es ist auch notwendig, dass die noch in unserem Fleische kräftige Sünde nicht herrsche in unserem sterblichen Leibe, und dass wir uns vor künftigen Sünden hüten. Wir bitten also den Herrn in dieser Bitte, Gott wolle uns in Versuchungen schirmen, damit wir nicht, wenn wir Vergebung der Sünden empfangen haben, wiederum in Sünden zurückfallen, und uns nicht wie der Hund zu dem, was er ausgespieen hat, und wie die Sau nach der Schwemme zum Wälzen im Kote zurückwenden (2. Petri 2,22).

Doch damit wir richtiger verstehen, was uns in diesem Stück zu beten vorgeschrieben wird, müssen wir erwägen, dass der Mensch nicht nur durch Unglück versucht wird, sondern auch durch Glück und, wie darüber nach menschlichem Verständnis geurteilt wird, durch wahres Glück. Obwohl aber der Herr, unser Gott, der Urheber von Beidem ist (denn es fällt kein Haar von unserem Haupte ohne Gottes Willen), und, ob er uns Unglück oder Glück zuschicke, es uns in bester und für uns heilsamer Absicht zuschickt: so kann doch der Satan, der zwar überwunden, aber noch nicht tot ist, und der umhergeht wie ein brüllender Löwe, und sucht, welchen er verschlinge, nicht gefesselt werden, so ihm nicht von Gott gewehrt wird, all' seinen Eifer daran zu setzen, dass Alles, was Gott einem Menschen zugeschickt hat, diesem zum Verderben ausschlage.

Denn hat Gott Glück verliehen, als da sind: leibliche Gesundheit, Reichtum, öffentlicher Frieden und Ruhe, Segen an Früchten, Sieg über die Feinde und Anderes der Art, so tut er das in der Absicht, dass er die Menschen ermuntere, seine Gnade zu erkennen und ihm selbst zu danken, und dass entweder die Frevler Buße tun, oder die Frommen im Dienste der Gottseligkeit erhalten bleiben. So auch: hat Gott Unglück gesandt, als da sind: leibliche Krankheit, Armut, Schande, Mangel, Krieg, Pest, Gefangenschaft und Anderes der Art, so tut er das in der Absicht, nicht dass er den Menschen verderbe, sondern ihn entweder an seine Sünde mahne, oder seinen Glauben und seinen Gehorsam prüfe, oder bewirke, dass er sich nicht der großen Gaben Gottes überhebe, oder aus anderen Ursachen. Denn es gibt viel Ursachen der Trübsale, mit denen Gott nicht das Verderben des Menschen, sondern dessen Heil beabsichtigt. Wie aber Gott, sei es durch Verleihung von Glück oder durch Zuschickung von Unglück, aufs beste für den Menschen zu sorgen begehrt, so begehrt der Satan durch dieselben Dinge den Menschen zu verderben und in Sünde und ewiges Verderben zu ziehen. Hat Gott Reichtum gegeben, damit du seine Gnade erkennen und aus deinem Vermögen dem dürftigen Nächsten helfen sollst, so reizt dich der Satan, entweder zu schwelgen, oder deinen Reichtum durch Betrügereien zu mehren und Andere im Vergleich zu dir so zu verachten, dass du ihrem Mangel auch nicht mit einem Heller abhilfst. Hat dich Gott als Obrigkeit bestellt, dass du die Guten schützen, die Bösen strafen sollst, so reizt dich der Satan, dein Amt zur Unterdrückung der Guten und zur Befriedigung deiner Begierde zu missbrauchen. Hat dir Gott aber Unglück zugeschickt, so verletzt sich der Satan gar bald auch darauf, und, ob Gott noch so sehr für des Menschen Heil zu sorgen begehre, so nimmt der Satan daraus dennoch Veranlassung, in dem Menschen alle Gottlosigkeit, Ungeduld, Giftigkeit, Verachtung Gottes, Lästerung und Verzweiflung zu erregen. Da sich dies nun also verhält, heißt Gottes Sohn uns bitten, dass Gott uns nicht in Versuchung führe, d. h. nicht zulasse, dass wir vom Satan, sei es im Glück, sei es im Unglück, verführt werden, sondern dass Gott uns bewahre und schütze bei Allem, was uns widerfährt, auf dass wir nicht den Dienst der Gottseligkeit verlassen.

Spr. 30,8.9 steht folgendes Gebet: „Armut und Reichtum gib mir nicht, lass mich aber mein bescheiden Teil Speise dahinnehmen; ich möchte sonst, wo ich zu satt würde, verleugnen und sagen: Wer ist der Herr? Oder, wo ich zu arm würde, möchte ich stehlen und mich an dem Namen meines Gottes vergreifen.“

Er [der so betet] erkennt seine Schwachheit. Wie aber? So Gott Armut oder Reichtum gegeben hätte, muss man darum in Diebstahl oder Meineid oder Verachtung Gottes stürzen? Gewiss nichts weniger; sondern man muss bitten, was hier vorgeschrieben wird: führe uns nicht in Versuchung! und auf den Herrn vertrauen, dass er treu sei, und uns nicht lasse versuchen über unser Vermögen, sondern mache, dass die Versuchung so ein Ende gewinne, dass wir es können ertragen.

Übrigens wird uns diese Bitte nicht zu dem Zwecke vorgeschrieben, dass wir uns unüberlegt und ohne Gottes Ruf den Versuchungen und Gefahren aussehen. Denn wir müssen zwar auch in den Gefahren, denen wir uns unüberlegt ausgesetzt haben, Gott anrufen, dass er uns nicht in denselben umkommen lasse, aber wir können erst dann auf Bewahrung und Erlösung von Seiten Gottes hoffen, wenn wir für unsere Unüberlegtheit Buße tun und uns zum Ruf Gottes bekehren. Und doch dürfen wir uns nicht in der Hoffnung auf Buße und Bekehrung, wann sie uns beliebt, in Versuchungen und Gefahren stürzen, sondern müssen in Gottes Beruf und im Gebet verharren. Denn die Schrift sagt Matth. 4,7: „Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen.“ Versucht wird Gott aber sowohl auf mancherlei Weise, als auch vornehmlich dadurch, dass man sich unüberlegt in Gefahren begibt, ohne gewissen Beruf Gottes. So hat's der Satan Christo geheißen, er solle Gott versuchen, als er ihm sagte, er solle sich von der Zinne des Tempels hinabstürzen. Denn Christus ward zu dieser Gefahr nicht göttlich berufen, und hatte Stufen, auf denen er hinuntergehen konnte. So muss ein Mensch, welcher es oft und viel tatsächlich erfahren hat, dass er in Gesellschaft von Mittrinkenden berauscht, und durch zu vielen Genuss von Wein zu unordentlichem Wesen und zu frevelhaften Worten und Werken gereizt und entflammt werde, die Gesellschaft von Trinkgenossen und öffentliche Gelage vermeiden. Wenn er zu solchen also hingeht, versucht er Gott, weil er sich ohne Gottes Beruf offenbaren Gefahren aussetzt. So versuchen Jünglinge und junge Männer Gott, welche jene Tänze, die eine Schule der Schamlosigkeit sind, besuchen. So versuchte Dina, die Tochter des Erzvaters Jakob, Gott, als sie aus ihrem väterlichen Hause ging, die Gesellschaft fremder Frauen suchte, und sich vor Allen sehen ließ. Darum verlor sie auch ihre Jungfrauschaft unter den Fremden, und ward nicht nur zur Schande für ihr ganzes Haus, sondern auch zum Verderben für die ganze Stadt Salem. Es ist also unzulässig, dass wir uns unüberlegt, ohne Gottes Beruf, Gefahren aussehen, damit wir nicht, während wir Gott versuchen, in Gefahren und Versuchungen umkommen.

Beruft uns aber Gott in Gefahren, dann dürfen wir keineswegs im Schlafe liegen, sondern müssen die Gefahren mit tapferem Mute erwarten und bestehen, und beten, dass wir nicht in Versuchung geraten, d. h. nicht von der göttlichen Hilfe in Gefahren verlassen werden. Wacht (spricht Christus) und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Als aber die Jünger dieses Gebotes nicht achteten und schliefen, da fielen sie also in Anfechtung, dass sie alle Christum verließen, und durch ihre Flucht für sich sorgen wollten. Da nun der Satan uns immer nachstellt, und unsere Schwachheit groß ist, so möge immer in unserem Munde, in unserem Herzen, in unserem Glauben diese Bitte sein: Führe uns nicht in Versuchung, auf dass wir in allen Gefahren, denen wir ausgesetzt werden, durch die göttliche Gnade bewahrt bleiben.

Endlich ermahnt uns diese Bitte auch zur Geduld im Unglück. Denn wir wissen, dass Gott so für uns sorgt, dass alle Haare auf unserem Haupte gezählt sind und uns ohne seinen guten Willen kein Unfall treffen kann. Wenn sich also, nachdem wir gebetet haben: Führe uns nicht in Versuchung! Unglück wider uns erhebt und häuft, dann müssen wir denken, dass es uns von Gott zugeschickt werde, weil es uns heilsam sei. Denn Gott sieht, unser Geist, unsere Schwachheit sei der Art, dass wir, im Falle wir Glück zu genießen hätten, in Versuchung fallen und umkommen würden. Damit wir nun nicht in Versuchung geführt werden, sendet er Unglück über uns. Was murren wir denn im Unglück? Was klagen wir? Uns widerfährt ja nichts Anderes, als was wir selbst erbeten haben. Wir haben gebetet: Führe uns nicht in Versuchung! Gott aber sieht, was künftig ist, dass wir durch leibliche Gesundheit oder durch Reichtum oder durch hohe Ehren würden in Versuchung geführt werden. Er gibt uns also Krankheiten, der Armut und der Verachtung preis, auf dass wir nicht durch Glück verführt, sondern durch Unglück im Dienst und Beruf Gottes bewahrt werden. Darum ermahnt uns diese Bitte zur Geduld, damit wir bedenken, dasjenige sei uns am allerheilsamsten, was uns nach dieser Bitte von Gott zu geschehen pflegt.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/b/brenz/auslegung_des_vaterunser/brenz-vaterunser-9.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain