Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Elfter Vortrag. Anfang der Feindschaft.

Baumgarten, Michael - Die Geschichte Jesu für das Verständniß der Gegenwart dargestellt - Elfter Vortrag. Anfang der Feindschaft.

Warum verweilt Jesus nicht länger in Sichar? Warum benutzt er den raschen und sicheren Erfolg, den hier seine bloße Erscheinung und sein bloßes Wort findet in einem Maße, wie nirgends sonst, nicht dazu, daß er hier einen bleibenden Grund seines Werkes stiftet, um von da aus in den Kreis der jüdischen Unempfänglichkeit zurückzuwirken? Es kommt allerdings die Stunde, da er sich von Jerusalem abwendet und mit seinem Wort zu den Heiden geht, um unter ihnen das Reich Gottes auszubauen, wie einst Jona von Israel zu den Niniveten ging, aber diese Stunde ist jetzt noch nicht da und zwar darum nicht, weil zuvor das Verhältniß zwischen ihm und seinem Volke zu einem ganz klaren und ausgemachten Ende hinausgeführt werden muß. Daraus erklärt sich, daß Jesus seine Absicht, mit welcher er Judäa verließ, nämlich nach Galiläa zu gehen, ausführt und sich durch den Zwischenfall in Sichar nicht stören läßt. Wir müssen demnach den außerordentlichen Erfolg, den Jesus unter den Samaritern gewinnt, mehr als ein Zeichen ansehen, das in die Zukunft hineinweist, denn als einen geschichtlichen Anfang, auf dem weitergebaut werden soll. Die geschichtliche Bewegung ist und bleibt innerhalb der Schranken des jüdischen Volkes. In diesen Kreis der geschichtlichen Bewegung führt uns Johannes wieder zurück, indem er uns nach der Erzählung von dem Verkehr Jesu mit den Samaritern zwei Wunderthaten Jesu berichtet (s. Joh. 4, 43 - 5, 47). Dieser Bericht über die beiden Wunderthaten, die eine in Galiläa und die andere in Jerusalem, zeigt uns ganz deutlich, in welcher Richtung die geschichtliche Bewegung vorwärts schreitet, nämlich so, daß die Spannung im Zunehmen ist, und zwar zeigt sich dieses vorzugsweise, wie wir es auch nach dem Bisherigen erwarten müssen, in Jerusalem. Aber auch in Galiläa fehlt es nicht an dem deutlichen Zeichen dieser bedenklichen Wendung. Zwar nehmen die Galiläer ihn auf, aber Johannes fügt den Grund hinzu: „da sie als Festpilger in Jerusalem Alles gesehen hatten, was er gethan hatte“ (s. Joh. 4, 45). Wir wissen bereits, wie gebrechlich es mit diesem Glauben steht, der über das Staunen vor den Wunderthaten zu dem Geiste und Leben Jesu nicht hindurchdringt, wir wissen das jetzt noch besser, seit wir gesehen, wie die Samariter ohne Zeichen und Wunder zum Glauben und Bekenntniß gelangt sind. Zwar erfahren wir, daß der Beamte des Herodes durch die Wunderheilung seines todtkranken Kindes mit seinem ganzen Hause gläubig wird. Aber dies geschah erst, nachdem Jesus dem Bittenden zuerst das vorwurfsvolle Wort gesagt: „wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so glaubet ihr nicht“ (s. Joh. 4, 48); nachdem Jesus sodann die anhaltende Bitte des Beamten, selbst hinabzukommen, abgelehnt und ihn an die Wundermacht seines bloßen Wortes gewiesen hatte. Es ist also der schließliche Erfolg nur dadurch erzielt, daß das wundersuchende Verlangen durch eine zwiefache scharfe Probe hindurchgegangen war. Wir werden nicht sagen können, daß wir in diesem Ereigniß einen Fortschritt finden, das günstige Resultat in einem kleinen Kreise hebt sich vielmehr ab auf einem allgemeinen Hintergrunde sich immer mehr verfestender Aeußerlichkeit, welche sich, indem sie an dem Wunderzeichen Jesu haften bleibt, vor dem inneren Geheimniß Jesu, in welchem doch allein die Offenbarung Gottes ihren Thron aufgeschlagen hat, mehr und mehr verschließt. Aber freilich weit greller tritt uns das bedenkliche Zeichen einer verhängnißvollen Wendung in Jerusalem entgegen.

Es ist die erste Wunderthat Jesu in Jerusalem, welche Johannes in dem bezeichneten Zusammenhang ausführlich berichtet, und in Anlaß dieses Wunders entwickelt sich der Ansang der entschiedenen Feindschaft der Juden gegen Jesum, Bei diesen geht nämlich nunmehr die Unempfänglichkeit, welche wir bereits kennen, in einen bewußten und unheilbaren Gegensatz über. Diesen Anfang der entschiedenen Feindschaft müssen wir um so mehr eingehender betrachten, da wir die späteren Kämpfe Jesu in Jerusalem nur zusammenfassend berücksichtigen können.

An einem israelitischen Feste geht Jesus hinauf nach Jerusalem und allem Anschein nach ohne seine Jünger. Auch ist diesmal sein Auftreten in Jerusalem ganz anders, wie das erste Mal; es hat nämlich durchaus keinen öffentlichen und amtlichen Charakter. Daß er in eine offene Verhandlung mit den Juden hineingezogen wird, erfolgt durchaus ohne sein Zuthun. Seine Festreise nach Jerusalem geschieht also in der Stille und kann nicht wohl einen anderen Sinn haben, als daß Jesus während der Festzeit den gegenwärtigen Geistesstand seines Volkes in dem religiösen Mittelpunkt beobachten will. Sein Verhältniß zu Israel ist aber so central, daß auch seine Verborgenheit in Jerusalem den israelitischen Volksgeist in Spannung und Bewegung bringt, und selbst seine absichtliche Zurückhaltung von aller Oeffentlichkeit ihn nicht schützt vor dem Emporlodern offener Feindseligkeit. Der mehr zurückgezogene Charakter der diesmaligen Anwesenheit Jesu in Jerusalem läßt den Grad des verborgenen Gegensatzes, der in den Juden schlummert, nur noch deutlicher erkennen. Unter den vielen Kranken, welche an der wunderbaren Heilquelle Betesda bei Jerusalem auf ihre Heilung hofften, traf Jesus Einen, dem er anmerkte, daß er vor Anderen lange gelitten hatte, Johannes sagt achtunddreißig Jahr. Jesus ließ sich mit diesem in ein Gespräch ein, fand ihn vorzugsweise hülflos und erkannte außerdem, baß er sich seine Krankheit durch Sünden zugezogen hatte (s. Joh. 5, 14). Da wir nicht annehmen dürfen, daß Johannes die Bemerkung, er sei achtunddreißig Jahre krank gewesen, als eine rein äußerliche und müßige Notiz hinzugefügt habe, so liegt die Vermuthung nahe, daß Jesus in dieser achtunddreißigjährigen Krankheit den Zustand des einst in der Wüste hinsterbenden Volkes erkannt habe. Da nämlich Israel bei Kadesch Barnen im zweiten Jahr seines Wüstenzuges von Jehova abfiel, so hat das Todesgericht über das ganze erwachsene Geschlecht achtunddreißig Jahre gewähret. Demnach kann wohl der wegen seiner Sünde mit achtunddreißigjähriger Krankheit geschlagene Mann, dem selbst die Wunderquelle keine Heilung bringt, für ein Nachbild jener Strafe gelten, die dereinst über das gesamte Volk verhängt worden war. Wenn wir nun dazu nehmen, was wir schon früher ausgeführt haben, daß Israel aus dem Bann jenes Abfalles bis dahin noch niemals herausgekommen war, so konnte dieser Kranke in den Augen Jesu als der Repräsentant des ganzen gegenwärtigen Israel erscheinen. Damit haben wir zugleich den Grund, weshalb Jesus, obwohl er nicht nach Jerusalem gekommen ist, Zeichen zu thun, diesen Kranken nicht in seinem Jammer liegen lassen konnte, sondern ihn ohne weitere Einleitung und Bedingung heilen mußte. Dieses Wunder, da es ohne Aufsehen geschah, und der Kranke nicht einmal erfuhr, daß Jesus sein Wohlthäter sei, würde weiter keine Folgen gehabt haben, zumal da Jesus sich entfernt hatte, wenn nicht ein scheinbar ganz geringfügiger und zufälliger Umstand die allgemeine Aufmerksamkeit erregt hätte. Es ist nämlich das Wunder am Sabbat geschehen und da Jesus den Kranken geheißen hat, sein Bett zu nehmen und davonzugehen, und dieser, indem er solchem Worte folgt, eben damit seine Heilung empfängt und erfährt, erregt derselbe durch das Tragen seines Bettes, welches als am Sabbat verbotene Arbeit angesehen wurde, bei den gesetzeseifrigen Juden Anstoß. Jener verweist sie in gutem Vertrauen, daß der, welcher Wunder verrichten könne, für ihn in diesem Stück eine genügende Auctorität sei, auf den, der ihn geheilet und ihn solches geheißen habe. Ob der Mensch geheilet ist oder nicht, durch Wunder oder wie sonst, ist diesen Eiferern ganz gleichgültig. Sie fragen lediglich, wer ihm am Sabbat gesagt habe, daß er sein Bett nehmen und tragen solle. Was der Kranke ihnen nicht sogleich sagen kann, theilt er ihnen mit, nachdem er im Tempel gewesen und Jesus ihn ermahnt hat. Bei dieser Gelegenheit hat er entweder von Jesu selber oder von Anderen erfahren, daß der Wunderthäter Jesus sei, und eben dies thut er den Juden, die vermuthlich von ihm noch nicht abgelassen haben, nunmehr kund. Sofort beginnen die Juden Jesum als einen Sabbatschänder zu verfolgen und als er sich auf das Wirken seines Vaters, dem er in seinem Wirken einfach nachfolge, beruft, steigern sie ihren Haß noch mehr, weil er nicht bloß den Sabbat gebrochen, sondern sich Gott gleich gemacht habe. Von nun an suchten die Juden Jesum zu tödten (s. Joh. 5, 18),

Es begegnet uns hier dies entsetzliche Wort von dem tödtlichen Hasse der Juden gegen Jesum zum ersten Mal und da wir sofort merken, daß darin ein höchst bedeutsames Moment für unsere gesamte geschichtliche Betrachtung enthalten ist, so müssen wir bei demselben stille stehen und dasselbe zum Mittelpunkt unserer gegenwärtigen Erwägung machen. Wir müssen uns dabei zuvörderst gegen ein weit verbreitetes Vorurtheil verwahren. Es ist hier zum ersten Mal in unserem geschichtlichen Zusammenhang die Rede von der Ursache des Todes Jesu. Die Dogmatik handelt gleichfalls von der Ursache des Todes Jesu und den Meisten von uns ist die dogmatische Aussage von der Ursache des Todes Jesu sehr geläufig, so daß sie fast keinen anderen Begriff von dieser Ursache haben, als den dogmatischen. Wäre nun dieser Begriff wirklich rein dogmatisch, so brauchten wir unseres Ortes uns dadurch nicht aufhalten zu lassen; denn da wir lediglich ein geschichtliches Ziel vor Augen haben, so würde sich das Dogmatische einfach und naturgemäß aus unserem geschichtlichen Ergebniß, falls wir es richtig finden und stellen, ergeben müssen. Denn die Dogmatik erhebt das geschichtliche Ergebniß der heiligen Thatsache in die Sphäre der allgemein herrschenden Denk- und Sprachformen. Nun aber gibt es auch eine falsche Dogmatik, es gibt auch einen Dogmatismus. Die wahre Dogmatik weiß, daß das geschichtliche Ergebniß nur in demselben Geiste, in welchem das Ergebniß sein Werden gehabt, zum Gedankeninhalt erhoben werden kann und darf, der Dogmatismus dagegen löst das geschichtliche Ergebniß von seinem Werden und erhebt es so in einem fremden Geiste, in dem Geiste des abstracten Denkens zu einem Begriff und einer Lehre, wodurch das geschichtliche Ergebniß seines eigensten Inhaltes entleert und in etwas Anderes verwandelt wird. Die Dogmatik steht mit der heiligen Geschichte in Einheit des Geistes, der Dogmatismus steht der heiligen Geschichte fremd und kalt gegenüber. Da nun das Dogmatische in unserer Zeit sehr häufig dogmatistisch ist oder einen dogmatistischen Beisatz hat, so werden dogmatische Begriffe und Gedankenreihen sehr oft ein Hinderniß der nothwendigen Vertiefung in den geschichtlichen Zusammenhang der heiligen Grundthatsachen, und so ist es auch mit den dogmatischen Vorstellungen von der Ursache des Todes Jesu. Darum wollen wir uns gewarnt sein lassen, daß wir nicht etwa aus Furcht, an dem Dogma über den Tod Jesu verkürzt zu werden, uns zurückhalten mögen, in die Ursache des jüdischen Todeshasses einzugehen, sondern vielmehr der guten Zuversicht leben, daß, je gründlicher wir uns an der Hand der Evangelisten in die Zusammenhänge der Geschichte Jesu vertiefen, wir für das Dogma überhaupt und insbesondere für das Hauptdogma von Jesu Leiden und Sterben einen desto festeren Grund erlangen werden.

Wir gehen demnach mit allem Ernst in das hier vorliegende geschichtliche Moment, in den hier zum ersten Mal auftretenden Todeshaß der Juden gegen Jesum ein und fragen: wie ist dieser Haß möglich? Wie ist es denkbar, daß gegen Einen, der nur Gutes thut, sich Haß entwickelt und daß dieser Haß sich so rasch zu einer solchen Höhe und zu einer solchen Breite entwickelt, wie Johannes ihn schildert: die Juden, nicht bloß diese und jene, sondern jedenfalls die Repräsentanten des Volkes suchten Jesum zu tödten? Wir merken bald, daß wir ein solches Vollmaß des Hasses nicht verstehen können, wenn wir nicht die Natur des Hasses überhaupt durchschaut haben. Dazu wird aber der nächste Schritt sein, daß wir die Unnatur des Hasses uns klar machen. Nach der göttlichen Ordnung ist die Bestimmung des Menschengeschlechts die vollkommene Herrschaft über die Erde (s. l Mos. 1, 28). Da diese Herrschaft nun der Gesamtheit des menschlichen Geschlechtes zugewiesen ist, so ist damit die Einheit der menschlichen Vielheit gesetzt und demnach jeder Einzelne mit jedem Anderen zur Erreichung der letzten Bestimmung unlösbar verbunden. Daraus folgt, daß jeder Einzelne, der sich von einem Anderen losmacht, und sich ihm entgegensetzt, das Ziel der Gesamtheit verrückt und somit sich selber schädigt, da jeder Einzelne nur als Glied der Gesamtheit das gesteckte Ziel erreichen kann. Es ist also jeder Gegensatz des Einen gegen den Anderen ein Gewaltact gegen sich selber und damit die höchste Unnatur. Wie ist nun dessenungeachtet dieser Gegensatz möglich? Nur dadurch, daß das Grundbewußtsein der Menschen nicht mehr im Einklang steht mit jener göttlichen Berufung und Ordnung. Das bestimmende Bewußtsein ist nicht das der Einheit und Gesamtheit des Geschlechtes, sondern das Bewußtsein des Einzelnen als solchen; und zwar verhält es sich damit so: die concrete Erscheinung der Besonderung des Einzelnen ist die Leiblichkeit, diese Leiblichkeit setzt der Mensch als sein Wesen, er ist, wie die Schrift sagt, Fleisch geworden. Sobald aber der Einzelne sein Wesen im Fleische hat, verhält er sich gegen Alles, was diesem Fleische nicht dient, ausschließlich und zwar mit zwingender Nothwendigkeit, diese Ausschließlichkeit und Gegensätzlichkeit ist ihm angethan. Hierin liegt die Wurzel alles Hasses. Im gewöhnlichen Leben entspringt deshalb der Haß aus solchen Dingen, die vermöge ihrer äußerlichen Natur ein räumliches Wesen haben und daher nicht von Mehreren zugleich besessen und genossen werden können, wie Geld und Gut, sinnlicher Genuß, Macht und Herrschaft, Ehre und Ansehen. Diese gemeine Natur des Hasses steigert sich, sobald das eigentlich Geistige in die Aeußerlichkeit gezogen wird. Daß dies möglich ist. liegt dann, daß der Mensch sein eigenes geistiges Wesen ins Fleisch verkehret hat. Wir dürfen uns daher auch nicht wundern, daß wir die bezeichnete Art des Hasses gleich an der Schwelle der Menschheitsgeschichte finden, ja daß der erste Haß, von dem wir überall erfahren, eben diese Art gehabt hat. Der Anlaß des Bruderhasses zwischen Kam und Abel war nicht ein irdischer Besitz oder sinnlicher Genuß, sondern das Opfer, das Jehova dargebracht wurde. Das Wesen des Opfers ist geistig, was schon daraus hervorgeht, daß seine Aeußerlichkeit regelmäßig entweder ganz oder zum Theil verbrannt wird. Kains Opfer ist aber eine bloße Aeußerlichkeit, er hat das Geistige ins Fleisch gezogen. Eben deshalb wird er durch Abels Opfer gestört; denn Abels Opfer ist ihm der Beweis, daß sein eigenes Opfer nicht das ist, was es sein soll. Er für sich würde sich schon beruhigen, daß sein Opfer eine leere Ceremonie ist, aber die Versetzung des Geistigen in das Fleischliche ist immer mit dem Anspruch verknüpft, daß das, was nur fleischlich, doch gelten soll für das, was es scheint, nämlich für geistig, sonst nämlich wurde es überall so etwas Mißgestaltetes, wie Fleischliches in der Gestalt des Geistlichen in der Welt gar nicht geben. Nun ist dem Kam Abels Opfer und demnächst seine Persönlichkeit selber ein fortwährendes Hinderniß, daß sein Opfer nicht für das gilt, was es sein soll, eine bleibende Ueberführung, daß sein Opfer eine bloße Aeußerlichkeit gewesen, also eine vorhandene Macht und Wirkung des Geistes gegen seinen fleischlichen Willen, mit welchem er sein Opfer zu etwas machte, was es nicht ist noch sein kann. Hier zeigt sich nun auch gleich die Wahrheit des apostolischen Satzes: „wer seinen Bruder hasset, der ist ein Todtschläger“ (s. 1 Joh. 3, 15). Der Haß nämlich, wie er nur seine Wurzel hat in dem fleischlichen Sinn, ist seiner Natur nach der gegen die Existenz des Anderen gerichtete Wille und demnach kann seine eigene Vollendung nichts Anderes sein, als die Vernichtung der Existenz des Anderen; denn nur damit ist die Ausschließlichkeit des fleischlichen Princips wider das ihm gegenüberstehende Andere befriedigt. Ganz dieselbe Art des Hasses, welche gleich im Beginn der Menschheitsgeschichte einen so jähen Verlauf nimmt, ist es, die uns hier vorliegt. Die Juden sind fleischlich geworden im gesteigertsten Sinne des Wortes, denn sie haben das Geistlichste, was die Menschheit kannte und halle, in Fleisch verkehrt. In Bezug auf drei Dinge wird dies ganz offenbar; ich meine den Tempel, den Sabbat und das Gesetz. Diese drei Dinge sind göttliche Heiligthümer, erbaut aus den Elementen der Welt. Der Tempel ist der Ort Jehovas, der Sabbat ist der Tag oder die Zeit Jehovas und das Gesetz die Sichtbarkeit des göttlichen Wortes. Die Juden trennen nun in Bezug auf den Tempel die Aeußerlichkeit der State und das innere Wesen der Einwohnung des lebendigen Gottes oder sie versenken die Einwohnung des lebendigen Gottes dermaßen in die Aeußerlichkeit des Ortes, daß ihnen Nichts übrig bleibt, als ein Bau von Menschenhänden gemacht, und die Gegenwart des lebendigen Gottes abhanden kommt. Indem sie das Wohnen und Walten des überweltlichen Gottes in die beschränkte Räumlichkeit hereinziehen und mit derselben identificieren, behalten sie nur das Aeußerliche und von dem Geistigen bleibt nur dies, daß sie den Anspruch machen, dieses ihr äußerliches Heiligthum als solches solle gelten für das wahre und einzige Heiligthum Gottes. Den Sabbat trennen sie von dem Sinn der göttlichen Stiftung desselben, er wird ihnen zu einem Zeitabschnitt, der außerhalb des eigentlichen sittlichen Lebens steht, und seine Göttlichkeit schließlich darin hat, daß er mit leeren Ceremonien ausgefüllt wird; das Geistliche des Sabbats ist ihnen fleischlich geworden. Und was endlich die Schrift betrifft, so haben sie den Inhalt und Geist derselben nie erkannt, und dieses verständlichste und geistigste Heiligthum Jehovas wird ihnen ein starrer todter Buchstabe, ein Leichnam, eine Mumie, der die Seele fehlt, den sie aber krampfhaft umklammern, weil sie wollen, daß dieses Todte und Entseelte als solches für das Wort des lebendigen Gottes gelten soll. Das ist der fleischliche Stand der Juden: während die ganze übrige Menschheit Fleisch geworden ist auf dem natürlichen Gebiet, ist es Israel geworden auf dem geistlichen Gebiet und damit fleischlich in erhöhter Potenz.

Jesus nun ist die leibhaftige Erscheinung aller drei genannten Heiligthümer in Israel. Wenn er sich in unserer Erzählung den Sohn Gottes nennt und sich damit, wie die Juden sagen, Gott gleichstellt, so hat diese Selbstaussage wesentlich jenen Inhalt, denn wenn er der Sohn Gottes ist im ausschließlichen Sinne, so ist das Wesen und Wohnen Gottes in ihm leibhaftig, dann ist er in wesenhaftem Sinn der Tempel Jehovas, der nicht mit Menschenhänden gemacht ist, der nicht aus den Elementen der Welt bereitet ist. Seine Erscheinung als die Offenbarung des Sohnes Gottes ist nicht zuerst ein Ding, wie der Tempel, das für sich ist und dann bereitet und geweihet wird zur Stäte Gottes, sondern seine Erscheinung ist von Anfang her das Wohnen der göttlichen Gegenwart in Wahrheit und Gnade und außer diesem Inhalt ist an seiner Erscheinung Nichts zu finden. Daher sagt er auch zu den Juden: hier ist mehr als der Tempel, nämlich der wesenhafte Tempel selber (s. Matth. 12, 6). Was den Sabbat anlangt, so muß um so mehr, als gegenwärtig wieder die ganze Sabbatsfrage und Sabbatsagitation einen ganz jüdischen Charakter angenommen hat, hervorgehoben werden, daß der Sinn des Sabbats von Anfang an vor Allem die Einheit des menschlichen Willens mit dem göttlichen zur Voraussetzung hat und daher nur auf Grundlage dieser Voraussetzung verstanden werden kann. Wenn der Mensch in das Werk Gottes eintritt und. den Willen des Schöpfers zur Ausführung bringt in der Welt, so soll er Theil haben an der göttlichen Ruhe und Vollendung. Das ist der Sinn der göttlichen Segnung des siebenten Tages. So ist der Sabbat auch im mosaischen Gesetze gefaßt. Israel als der Knecht und Sohn Jehovas ist berufen, das Werk Jehovas zu thun, und wenn es dieser Aufgabe nachkommt, so soll es am siebenten Tage eingehen in die Ruhe Jehovas. Darum ist das Sabbatsgebot vor Allem erst ein Gebot des Wirkens an den sechs Tagen und darf von dieser seiner Bedingung, unter welcher das Ablassen vom Wirken erst einen Sinn und Verstand gewinnt, schlechterdings nicht getrennt werden. Wer also von dem Werke Jehovas als dem seinigen Nichts weiß, wer nicht selber in diesem göttlichen Wirken steht, ist gar nicht in der Lage, von dem Sabbat auch nur ein Jota zu begreifen. Die Juden sind nun längst aus ihrem Stande und Beruf, das Werk Jehovas in der Welt zu vollbringen, herausgetreten. Dies beweist zur Genüge die Predigt und die Taufe des Johannes, der als die rechte Bewährung der Sinnesänderung das Wiederanfassen der Werke der Gerechtigkeit und der Liebe bezeichnet. In Wahrheit also war die Frage nach der rechten Feier des Sabbats gar nicht an der Zeit. Aber gerade umgekehrt machen die Juden die Sabbatsfrage zu einer brennenden Zeitfrage. Sie haben nicht Lust, ihren Stand in dem rechten Lichte zu sehen; sie haben Nichts dagegen, wenn ihnen einmal eine Bußpredigt gehalten wird, aber wie Jesus ihnen in unserer Erzählung vorwirft (s. Joh. 5, 35), nur auf eine Stunde mögen sie in diesem Lichte des Johannes verweilen, dann sinken sie wiederum in die Finsterniß ihrer Selbstzufriedenheit und Selbstgerechtigkeit zurück. Wenn sie bei solcher Gesinnung die Sabbatsfrage in den Vordergrund drängen, so ist es ganz nothwendig, daß dieselbe von der Scrupulosität und Casuistik in Beschlag genommen wird, und somit wird dieser inhaltslose Sabbatseifer zu einem der bedenklichsten Krankheitssymptome der damaligen Zeit. Wir können dies leicht verstehen, wenn wir auf unsere Gegenwart Acht geben. Das Dringendste, was der Geist der Gemeinde der Gegenwart sagt, ist dies, daß wir alle unsere Kräfte anspannen sollen, um uns aus unserem Schlafe, unserem Traumleben, unserer Schlaffheit und Trägheit aufzuraffen und die Werke Gottes da anzufassen, wo sie liegen, mit fester Hand. Anstatt dessen machen wir die Sabbatsfeier zu einer Zeitfrage und fallen damit natürlich aus einer Thorheit in die andere.

Auf dem Hintergrunde der heillosen Verwirrung, welche eben in dem geistlosen Sabbatseifer der Juden enthalten, gewinnt die Erklärung Jesu, daß er der Sohn Gottes sei und, wie der Vater wirke, also auch er im Wirken begriffen, und was er daran anknüpft von dem genauen Zusammenhange in Allem, was er thue, mit dem Wink und Willen des Vaters das volle und richtige Verständniß. Damit kündigt er an, daß er das Werk Gottes, welches die Menschheit und nachher auch Israel hat fallen lassen, aufnehme, daß er in dasselbe eintrete und als der gehorsame Sohn des himmlischen Vaters es führe und darum auch vollenden werde. Es liegt ihm daran, den Blick für die Vollendung dieses Werkes so weit als möglich zu öffnen, darum führt er seine Zuhörer bis zu dem Punkte, wo Zeit und Raum verschwinden, bis zur Auferstehung der Einen zum Gericht, der Anderen zum ewigen Leben (s. Joh. 5, 28. 29). Dieses Alles aber, damit es Jedem klar werde, wenn er sich den Sohn nennt, daß das nicht eine Redensart sei, sondern volle und wirkliche Wahrheit. Darin liegt nun, daß in ihm die Ausführung des göttlichen Werkes von Anfang bis zu Ende persönlich und leibhaftig erschienen ist, daß also in ihm die wesentliche Bedingung des Sabbats, die immer unerfüllt geblieben war, beschlossen ist und er deshalb die persönliche Bürgschaft der wahren Gottesruhe auf Erden ist.

Deshalb kann er auch Allen, die zu ihm kommen und mit ihm in Gemeinschaft treten, sofort die wahre Ruhe verheißen und mittheilen (s. Matth. 11, 28. 29); und darum kann er auch sagen: „des Menschen Sohn ist ein Herr auch über den Sabbat“ (s. Marc, 2, 28). Indem er sich begriffen weiß alle Tage und Stunde in dem Wirken des göttlichen Werkes, nach dessen Vollendung erst das, worauf es der Sabbat eigentlich abgesehen hat, eintreten kann, vermag er sich wohl der heiligen Zeitordnung anzuschließen, wie wir denn auch nicht selten finden, daß er am Sabbat in der Synagoge auftritt (s. Luk. 4, 16. 31), aber gefangen nehmen ließ er sich nicht durch das, was um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt (s. Marc. 2, 27), und eine innere Notwendigkeit war es, daß er bei einer solchen Anschauung und Handlungsweise in Conflict kommen mußte mit den krankhaften Vorurtheilen der damaligen Sabbatseiferer, und wir wissen, daß dies nicht bloß bei der hier vorliegenden Gelegenheit, sondern auch sonst häufig vorgekommen ist. Diese Conflicte konnten und sollten dazu dienen, daß die Juden ihres blinden Eifers sich schämen lernen und in Jesu den erkennen möchten, durch welchen sie allein die Kraft empfangen könnten, um Gottes Werk zu thun und sodann auch wirklich Sabbat halten zu können und nicht zum bloßen Schein und zur Selbsttäuschung für sich und Andere. Insbesondere hier, wo zum ersten Mal dieses Aergerniß auftaucht für die Sabbatseiferer, gibt sich Jesus viele Mühe, in diesem Lichte seine Persönlichkeit und Wirksamkeit ihnen verständlich zu machen. Aber wie gleich seine darauf bezügliche Aeußerung, die in die Mitte der Sache trifft, ihnen nur zur Steigerung ihrer Feindschaft gereicht, so erfahren wir auch später, daß alles Andere, was er in diesem Anlaß weiter vorbringt, obgleich sie es zuerst, wie es scheint, stillschweigend hingenommen haben, ihren Haß nicht im Mindesten gemildert hat. Johannes erzählt nämlich, daß Jesus bei einer späteren Anwesenheit in Jerusalem sich genöthigt sah, auf diesen ersten Stein des Anstoßes wieder zurückzukommen (s. Joh. 7, 22-24).

In genauem Zusammenhang mit dem Sabbat steht das Gesetz, denn die Strenge des Sabbathaltens begründeten die Juden durch die Berufung auf den Gesetzesbuchstaben. Darum ist es begreiflich, daß Jesus zur Beseitigung des vorhandenen Aergernisses auf seine und der Juden Stellung zum Gesetze eingeht (s. Joh. 5, 38-45). Wie in Jesu das Wesen des Tempels und des Sabbats enthalten ist, so auch das Wesen der Gesetzesschrift, und eben deshalb kann es, so wenig in Bezug auf jene beiden Heiligthümer, eben so wenig zwischen ihm und dem Gesetzesbuchstaben einen Gegensatz geben. Ist demnach ein solcher Gegensatz dessenungeachtet vorhanden, so kann es nur auf einem Mißverständniß beruhen, nämlich seiner selbst und jener Heiligthümer Israels, Die Juden eifern gegen ihn, daß er den Sabbat gebrochen (s. Joh. 5, 18) und damit selbstverständlich auch das Gesetz. Jesus bemerkt ihnen, daß das unmöglich sei, weil das Gesetz ihn selbst zum Inhalt habe, indem es von ihm zeuge. Das Gesetz weist also über sich selbst hinaus und zwar geradeswegs auf ihn hin. Und wie sehr eigentlich dies zu nehmen sei, deutet er ihnen an, wenn er sagt: „sie hätten Gottes Stimme noch nie gehört, noch seine Gestalt gesehen.“ In der Schrift hätten sie weder die lebendige Gottesstimme, noch die wahre Gottesgestalt, in ihm also, dem Sohn Gottes, sei ihnen Beides gegenwärtig. Da nun die Schrift selber jenen Mangel als einen wesentlichen auffaßt (s. 2 M. 20, 18. 19. 33, 18-20), so weist sie nicht etwa nur in einzelnen sogenannten messianischen Stellen, sondern durchweg und so zu sagen durch ihre bloße Existenz auf die persönliche Erscheinung des göttlichen Wortes als ihre nothwendige Ergänzung hin. Die Schrift vermittelt demnach nur ein unvollkommenes Verhältniß zum Worte Gottes und es muß diese Unvollkommenheit durch das Aufnehmen des persönlich gewordenen Wortes Gottes zur Vollendung kommen. Darum sagt Jesus zu den Juden: „ihr habt das Wort Gottes nicht bei euch bleibend,“ weil sie nämlich am Buchstaben haften blieben und ihm, dem Gottgesendeten, nicht glaubten. „Ihr durchforscht die Schriften,“ sagt er in demselben Sinne, „weil ihr meinet, ihr habt das ewige Leben darin,“ und insofern ist dies richtig, fügt er hinzu, als sie von mir zeugen. Aber da ihr Schriftforschenden nicht zu mir kommt, um das Leben wirklich zu erlangen, so sucht ihr das Leben bei den Todten, nämlich in dem bloßen Buchstaben, dem Grabe des Wortes und des Lebens. Endlich behauptet Jesus in völlig richtiger Consequenz, daß die Juden, wenn sie den Buchstaben Moses gegen ihn zu kehren suchten, nicht bloß von ihm sich abwendeten, sondern zugleich Mose und sein Gesetz aufgeben. Er sagt ihnen: „wenn ihr Mose glaubtet, so würdet ihr auch mir glauben, wenn ihr aber seinen Buchstaben nicht glaubet, wie werdet ihr meinen Worten glauben?“ Wenn sie also den Buchstaben umklammern, um sich des von Jesu ausgehenden Wortes und Lebens zu erwehren, so entkleiden sie den Buchstaben seines Inhaltes und haben lediglich den bloßen und todten Buchstaben. Aber noch mehr, der heilige Buchstabe, den sie wie einen Raub festhalten, erhebt sich gegen sie und wird ihnen zu einem verklagenden Zeugniß. So sehr ist also Jesus die lebensmäßige Gegenwart der heiligen Schrift, daß jedes Mißverhalten gegen ihn zugleich Mißverhalten ist gegen den Buchstaben der heiligen Schrift.

Jetzt können wir die Art und Consequenz des jüdischen Hasses gegen Jesum leicht und vollständig übersehen. Die Erscheinung Jesu als dessen, in welchem die drei Heiligthümer Israels zu ihrer Höhe und Vollendung gekommen, tritt in dem Sinne an Israel heran, damit die Verehrung der drei alttestamentlichen Heiligthümer von ihrer fleischlichen Richtung sich reinigen möchte, damit die unreine Beimischung dieser Verehrung durch das Feuer der Reinheit und Heiligkeit in der Offenbarung Jesu vertilgt werden möchte, wodurch dann sofort das richtige Einheitsverhältniß zwischen alt- und neutestamentlicher Offenbarung festgestellt sein würde. Es erfolgt aber in Wirklichkeit nicht bloß ein Anderes, sondern das gerade Gegentheil, wie wir dies in unserer Erzählung in Bezug auf den Sabbat und auf das Gesetz sehen, wie wir es in Bezug auf den Tempel bei dem ersten öffentlichen Auftreten Jesu in Jerusalem erkannt haben. Die Juden, anstatt in dem Lichte der Offenbarung Jesu sich ihres fleischlichen Sinnes zu schämen, werden dadurch nur veranlaßt, sich in ihrem fleischlichen Wesen noch mehr zusammenzunehmen und zu verfesten. Da nun dieser gesteigerten Fleischlichkeit der Juden gegenüber Jesus natürlich in dem Sinn und Willen seiner Offenbarung beharrt, so wird seine ganze Erscheinung zu einem lauteren Zeugniß gegen das fleischliche Wesen seines Volkes. So mußte denn nach dem Gesetz des Fleisches, welches wir oben entwickelt haben, dieser Gegensatz sehr rasch zu einer tödtlichen Feindschaft ausschlagen. Die zweite Anwesenheit Jesu in Jerusalem hat demnach trotz ihres Allen und verborgenen Charakters das, was Jesus bei der ersten Anwesenheit in seinem tiefen Grunde bereits erkannte und voraussagte, ans Licht des Tages gebracht. Wir sehen also, daß sich der erste Gegensatz in dem Menschengeschlecht, die tödtliche Feindschaft Kains gegen Abel, wiederholt und vertieft, damit das vergossene Blut des vollendten Gerechten die Macht und der Strom der ewigen Versöhnung und des unzerstörbaren Friedens werde.

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